Zuhause im Niemandsland - Mein Leben im Kloster zwischen Israel und Palästina

von: Nikodemus Schnabel

Herbig, 2017

ISBN: 9783776682007 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Zuhause im Niemandsland - Mein Leben im Kloster zwischen Israel und Palästina


 

Prolog

Zuhause im Niemandsland

Im April 2003 begann ich als junger Mann, Mönch in Jerusalem zu werden, und war fasziniert von einer meiner ersten Unterrichtsstunden. Als neuer, junger Mönch, ein sogenannter »Novize«, erhält man jeden Tag »Noviziatsunterricht«, der eine bunte Palette von Klostergeschichte über Sprachenunterricht und Gesangsausbildung bis hin zu den Grundlagen des Mönchtums, der Spiritualität und des Kirchenrechts bietet. Dort wurde mir beigebracht, dass mein künftiger Lebensort, die deutschsprachige Benediktinerabtei Dormitio Beatae Mariae Virginis auf dem Südwesthügel Jerusalems – der den bedeutungsschwangeren Namen »Zionsberg« trägt –, völkerrechtlich gesehen im Niemandsland liegt. Ganz praktisch gesprochen: Meine neue Wahlheimat ist weder Israel noch Palästina, sondern das Niemandsland dazwischen!

Wie kann das gehen? Schließlich wird in den Nachrichten immer wieder die viel beschworene »Zwei-Staaten-Lösung« genannt. Dass es dieses Niemandsland gibt, liegt an der berühmten »Grünen Linie«, die allerdings weder ein Grünstreifen noch eine Linie ist. Es handelt sich bei ihr um die international anerkannte Waffenstillstandslinie, die nach dem Krieg von 1948 vereinbart wurde. Sie bildete bis 1967 die Grenze zwischen Israel und dem von Jordanien verwalteten Westjordanland. Sie ist auch die Grundlage einer künftigen Zwei-Staaten-Lösung. Nur: Diese mit grüner Farbe in die Karten eingezeichnete Linie schließt an mehreren Stellen Gebiete in sich ein. Sie teilt sich an diesen Stellen, sodass es auf einmal zwei Linien gibt: Die eine zeigt an, wo völkerrechtlich Israel beginnt, während die andere sichtbar macht, wo nach internationalem Recht ein künftiger Staat Palästina entstehen soll. Das Gebiet zwischen diesen beiden Linien ist hingegen ungeklärt, eine Pufferzone, ein Niemandsland. Genau dort liegt mein Kloster!

Gerne nehme ich kleine Besuchergruppen auf unser Kirchendach mit, um ihnen die atemberaubende Sicht auf Jerusalem zu zeigen, das sich nach Westen und Osten erstreckt, auf die Altstadt und die Neustadt, auf die arabischen und die hebräischen Stadtviertel. Dabei sieht man auf der Nordostseite unseres Kirchendaches noch immer die Einschussstellen, welche von den Waffen der jordanischen Soldaten stammen, die 1948 von der nahe gelegenen Altstadtmauer auf unsere Kirche feuerten, während die israelischen Soldaten das Feuer von unserem Kirchendach aus erwiderten, wovon die südwestliche Altstadtmauer sichtbares Zeugnis ablegt; besonders das unserer Kirche gegenüberliegende Zionstor gleicht einem zu Stein gewordenen riesigen Schweizer Käse.

Um es noch anders auszudrücken: Ich lebe in einem Frontgebiet, das bis heute nicht zur Ruhe gefunden hat. Und genau hier lebe ich mein Leben als Mann, der zusammen mit anderen Gott sucht, gemeinsam mit ihnen betet, arbeitet, isst, studiert und lernt. Ich erlebe mich aber auch ganz konkret jeden Tag in einer nicht-kriegerischen Frontstellung, am Rande der großen Mehrheiten. Hier die große Gruppe der Juden, dort die große Gruppe der Muslime, dazwischen die kleine Gruppe der zwei Prozent Christen. Hier die große Fraktion der Palästinenser, dort die große Fraktion der Israelis, dazwischen die kleine Fraktion der permanent vor Ort lebenden Ausländer. Hier die Ausländer, die als Diplomaten, Journalisten und NGO-Mitarbeiter verstehen, vermitteln und verändern wollen, dort die Pilger und Touristen aus aller Welt, die sich für ein paar Tage religiös oder kulturell berühren lassen möchten – und dazwischen wir Mönche, die gekommen sind, um ein Leben lang in Jerusalem zu bleiben und inmitten des Chaos um uns herum Gott zu suchen.

Dieses Leben im Niemandsland hat natürlich auch ganz praktische Seiten. Zu uns kann man kommen, ohne damit ein Statement abzugeben. Wenn Politikerdelegationen uns besuchen, müssen sie immer darauf achten, dass sie bei einem offiziellen Israelbesuch nicht die grüne Linie überqueren, um keine missverständlichen politischen Signale auszusenden. Genau dasselbe gilt für offizielle Besuche in den Palästinensischen Autonomiegebieten, auch hier ist die Waffenstillstandslinie immer im Blick. Dieselbe strenge Zweiteilung gilt auch für die Diplomaten vor Ort. Für Veranstaltungen in Westjerusalem ist etwa die Deutsche Botschaft in Tel Aviv zuständig, während für Events im Osten der Stadt das Deutsche Vertretungsbüro in Ramallah – so der offizielle Name für die »Botschaft« der Bundesrepublik Deutschland bei den Palästinensern – verantwortlich ist. Als Kloster inmitten der Pufferzone genießen wir das wunderbare Privileg, sowohl Diplomaten aus Tel Aviv wie auch Diplomaten aus Ramallah in offizieller Funktion bei uns begrüßen zu dürfen. Bei einem Besuch im Niemandsland tritt offensichtlich niemand dem anderen auf den Schlips. Oftmals dienen wir auch als eine Art Drehkreuz, da bei uns häufig Israel besuchende Delegationen zu Palästina besuchenden Delegationen werden, und natürlich auch umgekehrt. Das klingt alles vielleicht etwas kurios, ist irgendwie aber auch nett. Es reicht allerdings tiefer und ist für unser Kloster eine Art Lebensauftrag geworden. Unser Platz ist zwischen den Stühlen.

Ich könnte es mir auch einfach machen und den gesamten Nahostkonflikt für mich lösen, indem ich mich verbindlich für eine Seite entscheide. Zwei Optionen bieten sich dabei an:

Die erste Option ist eine klar pro-israelische Haltung. Sie räumt Israels Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Sicherheit oberste Priorität ein. Diese mehr als berechtigte Sehnsucht gilt dann als Blankoscheck für alles Tun und Lassen der Israelis und führt zu einer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Palästinensern.

Die zweite Option ist eine klar pro-palästinensische Haltung. Sie stellt Palästinas Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Freiheit an oberster Stelle. Diese ebenfalls mehr als berechtigte Sehnsucht gilt dann als Blankoscheck für alles Tun und Lassen der Palästinenser und führt zu einer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Israelis.

Ehrlich gesagt bin ich immer wieder schockiert, wie viele Menschen eine dieser beiden Optionen wählen. Besonders im Sommer 2014, als es wieder in und um den Gazastreifen herum kriegerische Auseinandersetzungen gab, wurde mir dies so deutlich wie nie: In den sozialen Netzwerken und in den Kommentarspalten der Blogs und Online-Nachrichten ging es ordentlich zur Sache. Da wurde klar Stellung bezogen, schwarz-weiß gemalt und der anderen Seite Propaganda und Fehlinformationen vorgeworfen, was das Zeug hält. Und wehe, jemand wagte es, Grautöne aufzuzeigen oder Mitleid mit den Opfern beider Seiten zu zeigen: Dieser Mensch durfte dann verbale Prügel von beiden Seiten einstecken. Genau in dieser Rolle befinde ich mich immer wieder, wenn ich täglich erneut versuche, meinen Platz zwischen allen Stühlen zu finden.

Eine große Hilfe ist mir dabei meine Gemeinde, für die ich als Auslandsseelsorger verantwortlich bin. Jeder, der in Israel und Palästina Deutsch spricht und Katholisch ist, gehört zu meiner Gemeinde. Neben den deutschsprachigen Diplomaten, Journalisten und Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen gibt es aber auch Deutsche, die einen Israeli oder Palästinenser geheiratet haben. Das heißt ganz konkret: Wenn ich am Samstagabend einen Kindergottesdienst in der Krypta unserer Kirche feiere, kann ein Teil der Kinder besser Hebräisch oder Arabisch sprechen als Deutsch. Meine Gemeinde hat Freunde und Verwandte, die im Gazastreifen leben und arbeiten und von den dortigen Bombardements der israelischen Armee berichten. Meine Gemeinde hat aber auch Freunde und Verwandte, die an der Grenze zum Gazastreifen wohnen und unter dem Raketenbeschuss der Hamas leiden. Ich selbst besuchte den verwüsteten Gazastreifen und machte mir vor Ort ein eigenes Bild, wie ich auch selbst schon oft vor den Raketen der Hamas in die Schutzräume geflüchtet bin. Meine Gemeinde leidet zusammen mit ihren muslimischen Freunden unter der Besatzungssituation genauso, wie meine Gemeinde zusammen mit ihren jüdischen Freunden unter dem Terror der Hamas und anderer islamistischer Gruppen leidet.

Ich gebe zu, ich fühle mich jedes Mal pudelwohl, wenn ich in Tel Aviv oder Ramallah sein darf. In beiden Städten kann ich mich sichtbar und sorglos als Mönch in der Öffentlichkeit bewegen und ich kann mich an keine einzige unangenehme Begegnung erinnern. Aber mein Zuhause ist Jerusalem. Hier ist jeder Gang vor die Tür meines Klosters eine Herausforderung. Hier treffen die verschiedenen Wahrheiten und Erzählungen unmittelbar aufeinander. Hier kann man sich nicht gemütlich einrichten. Hier wird permanent Stellung bezogen. Und so bin ich jedes Mal dankbar, wenn ich nach einem intensiven Tag mit lauter Begegnungen und Herausforderungen zusammen mit meinen Mitbrüdern zum Gebet in unsere Kirche gehen kann, mich vor Gott stelle, um ihn zu suchen, aber auch um meinen Blick auf die so unterschiedlichen Menschen meiner Wahlheimat zu weiten, meinen angestammten Platz im Niemandsland wieder zu finden und im Herzen zur Ruhe zu kommen. Ich darf ehrlich bekennen, dass die vielen gemeinsamen Stunden des Psalmengebets mit meinen Mitbrüdern im Kloster für mich das beste Gegenmittel sind, um nicht sarkastisch oder gar zynisch auf diese faszinierende Region unserer Erde zu schauen, wo scheinbar eh nichts weitergeht.

Ich darf mich hier outen: Ich liebe Jerusalem! Ich liebe ihre Bewohner, auch wenn meine Liebe nicht selten auf eine harte Probe gestellt wird. Was ich an dieser Stadt und ihren Bewohner so unendlich liebe, ist ihre Unfähigkeit zur Gleichgültigkeit und zum Small Talk: Hier ist nichts egal und nichts belanglos; hier gibt es keinen faulen Frieden à la »lässt du mich in Ruhe, lass ich dich in Ruhe«; hier gibt es keine...