Kuckucksnest - Roman

von: Hera Lind

Diana Verlag, 2016

ISBN: 9783641183844 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Kuckucksnest - Roman


 

3

SENTA

Januar 1992

Ein letztes Mal schritten wir die Stufen der Kinderwunschpraxis hinunter. Meine Finger glitten haltsuchend über das Geländer, auf dem Eiskristalle in der Wintersonne glänzten. Sie tanzten vor meinen Augen wie ein Tischfeuerwerk. Als wollten sie mich verspotten. Markus reichte mir etwas unbeholfen die Hand, aber ich wollte die schmerzende Kälte dieses Geländers fühlen. Wahrscheinlich um zu testen, ob ich überhaupt noch etwas fühlen konnte. Außer dieser Leere in mir. Markus schien zwar auch enttäuscht zu sein, aber offensichtlich traf mich die Härte der Diagnose mit voller Wucht, während sie für ihn nur so etwas wie ein Streifschuss war. Er hatte sein Orchester, seine Reisen, seine Schüler … Ich hatte nichts. Nein, schimpfte ich innerlich mit mir.

Ich hatte meine Schwester Sonja, der es genauso ging wie mir. Natürlich. Das war ein großes Geschenk. Auch die Arbeit in der Firma meines Schwagers Paul am Friesenplatz, mitten im Herzen von Köln, machte uns viel Spaß. Das war schon sehr viel. Aber mein Lebenstraum von einer eigenen Familie würde sich nicht erfüllen.

Schweigend fuhren wir in die Innenstadt. Was sollten wir mit diesem sonnigen Wintertag noch anfangen?

Markus hatte die ganze Zeit noch kein Wort gesagt und ich, ganz entgegen meiner sonstigen Veranlagung, auch nicht. Sonja und ich litten normalerweise nicht an Sprachlosigkeit oder Wortfindungsstörungen – wir waren zwei rheinische Frohnaturen, um nicht zu sagen sprudelnde Quasselstrippen, deren Mitteilungsdrang und Ideenreichtum unerschöpflich waren. Die Sonne schien für uns auch, wenn sich schwarze Wolkenberge türmten.

Aber jetzt war ich stumm wie ein Fisch.

Sonja und Paul, die Menschen, die mir am nächsten standen, waren auf Sylt, und ich wollte sie mit meinen schlechten Nachrichten und meinem Weltschmerz nicht aus ihrer Winterferienlaune reißen. Die beiden arbeiteten hart und hatten ihre Auszeit wirklich verdient. Und vielleicht hatte es ja bei Sonja inzwischen geklappt?

Ich ertappte mich dabei, dass ich es mir sehnlich für sie wünschte. Wenigstens Tante konnte ich ja noch werden.

»Ähm … Wollen wir noch einen Spaziergang am Rhein machen?«, fragte Markus vorsichtig.

»Mir egal.«

Wir saßen schweigend da und betrachteten die kleinen Wellen, die der Wind auf dem Rhein tanzen ließ.

»Ach, Senta. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als nach vorne zu schauen!«

»Dir vielleicht.«

»He!« Er knuffte mich zärtlich. »So kenne ich dich ja gar nicht!«

»Dann wird es aber Zeit.« Ich setzte mich intuitiv auf meine Hände, damit er aufhörte, danach zu greifen. Komisch, aber im Moment konnte ich seine Berührungen nicht ertragen. Ich ließ den Blick über den grauen Fluss gleiten und dachte an das sich darüber und darunter tummelnde Leben. Nur in mir tummelte sich kein Leben! Niemals würde geschehen, worauf ich seit Jahren so inbrünstig hoffte. In meinem Kopf war nichts als Trostlosigkeit, gepaart mit Zorn über die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet ich – also, natürlich wir, kein Baby haben würden. Und alle anderen Leute schon. Ich sah in die vorbeifahrenden Autos hinein, in denen Familien hockten, als wäre das alles vollkommen selbstverständlich. Waren diese Ignoranten sich ihres Glücks überhaupt bewusst? Wieder traten mir Tränen in die Augen. Wütend wischte ich mir mit dem Ärmel über die Nase.

Markus warf mir einen besorgten Seitenblick zu. Entschlossen setzte er den Blinker und fuhr die Rheinpromenade entlang.

»Zoo?«

Ich presste die Lippen aufeinander. Wirklich, sehr einfühlsam!

»Damit wir lauter glücklichen Familien mit kleinen Kindern begegnen?!«, giftete ich ihn an.

»Oh, sorry. Vermintes Gelände. Natürlich kein Zoo.«

Mit verschränkten Armen beobachtete ich sein Einparkmanöver an der Bastei.

Er lief um den Wagen herum und half mir heraus – ich wehrte seine Hände ab und kam mir scheußlich gemein und zickig vor. Störrisch und stumm lief ich neben ihm her, in Richtung Dom. Mit schräg gelegtem Kopf musterte mich Markus von der Seite und versuchte auf seine rührende Art, mich aus der Reserve zu locken. Normalerweise fing ich dann sofort an zu kichern, aber jetzt brauchte ich meine Zeit.

Der Dom ragte majestätisch hinter der Zoobrücke empor, als wollte er mir signalisieren, dass er schon ganz andere Probleme und Sorgen überstanden hatte. Die kalte klare Luft und der Anblick des zufrieden vor sich hin glucksenden Rheins weckten meine Lebensgeister wieder. Trotz all meines Kummers empfand ich dieses Bild als wunderschön. Zwei kleine Blondschöpfe rannten schreiend im Kreis herum, ein dick eingepacktes Mädchen im roten Anorak und ein etwas kleinerer Junge, der einen Stock trug, über den er bestimmt gleich stolpern würde. Ich schluckte und zog die Nase hoch.

»Es tut mir leid, Markus. Ich musste gerade erst mal mit meiner Trauer und dem Schock fertigwerden.«

»Ist schon okay, Süße. Ich bin auch traurig.« Er legte mir den Arm um die Schultern und stupste mir mit seiner kalten Nase ans Ohr, bis ich lächelte. Jetzt hatte er mich so weit, und ich war dankbar, dass er mich aus meiner Erstarrung geholt hatte.

Wieder griff Markus nach meiner Hand, und diesmal ließ ich es geschehen.

»Von mir aus können wir ruhig über eine Adoption nachdenken«, sagte Markus und steckte meine Hand in seine Manteltasche. Augenblicklich fühlte ich mich gewärmt und beschützt. Ganz plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nicht alleine dastand mit meiner inneren Leere. Wir waren zu zweit. Und wir konnten einander immer noch ausfüllen und wärmen. Unser nächster Sex würde keine Pflichtnummer mehr sein. Sondern endlich wieder entspannt und liebevoll.

»Meinst du das ernst?«

Er zögerte einen Augenblick. Doch dann verkündete er enthusiastisch: »Natürlich. Dr. Brecht hat total recht! Wir können immer noch eine Familie gründen, wenn es dein innigster Wunsch ist.«

»Und deiner?« Skeptisch sah ich ihn von der Seite an. Die Frage war mir wie von selbst über die Lippen gekommen, so schnell ließ ich nicht locker. Markus sah mich aufrichtig an, und seine Augen bekamen einen warmen Glanz.

»Ich will nichts lieber als Kinder mit dir haben, Senta. Du wärst die Traummutter für jedes Kind.«

Mit einem Schlag war meine Traurigkeit wie weggeblasen.

Das wäre immerhin eine Möglichkeit! Warum eigentlich nicht? Wie viele elternlose Kinder lebten in Heimen und warteten nur darauf, ein liebevolles Elternhaus zu bekommen? Am liebsten wäre ich sofort in ein Kinderheim gefahren und hätte mir die einsamen Seelen dort angeschaut. Um dann gleich drei von ihnen mitzunehmen.

Aber das ging natürlich nicht. Ich ahnte, dass eine Adoption ein langwieriger Prozess werden würde. Aber wir hatten wieder ein Ziel vor Augen!

Der gemeinsame Gehrhythmus einte uns, und unsere Atemwölkchen vermischten sich.

»Du könntest dir das also wirklich vorstellen?«

»Natürlich«, sagte Markus. »Ich will nur, dass du glücklich bist.«

Plötzlich war ich meinem Freund und Lebensgefährten wieder ganz nah.

Wie oft hatte er in den letzten Jahren pünktlich auf der Matte gestanden, passend zur Fruchtbarkeitskurve – meist zwischen Probe und Konzert. Hatte er sich jemals beschwert und gesagt, dass er keine Lust mehr hatte?

Und nun schaute er schneller wieder nach vorn als ich selbst: ein Mann zum Festhalten.

»Wir kriegen bestimmt kein Kind«, wandte ich ein und sah ihn von der Seite an: Er war wirklich ein gut aussehender Mann mit seinen dunklen vollen Haaren, seiner sportlichen Figur und seinen sanften braunen Augen. Von seiner Musikalität ganz zu schweigen. Wenn er Geige spielte, schmolz die Welt. Wie schade, dass sich sein Erbgut nun nicht mehr durchsetzen würde!

»Dann beantragen wir eines.«

»Nein, ich meine, wir kriegen bestimmt kein Kind, weil wir nicht verheiratet sind.«

»So was hat meine katholische Tante Lilli allen Ernstes auch geglaubt.«

Jetzt lachte Markus und blitzte mich übermütig von der Seite an.

»Wir kriegen kein Kind, wenn wir nicht verheiratet sind«, beharrte ich trotzig. »Das sind die Spielregeln, Markus. Vom Jugendamt. Das weiß ich von meiner Kollegin Tanja, ihre Cousine hat doch letztes Jahr einen kleinen Jungen adoptiert. Und die musste deswegen ihren Freund heiraten.«

»Ach so! Jetzt kapier ich es. Aber meine liebste Senta, dann wirst du eben Frau Schilling. Lass uns heiraten!«

»Wie? Heiraten fanden wir doch immer total spießig und überhaupt nicht notwendig für eine glückliche Partnerschaft.«

»Wir lieben uns, wir haben zusammen ein Haus gebaut, wir wollen Kinder …«

Und ehe ich michs versah, fiel Markus vor mir auf die Knie. Fast wäre ich über ihn gestolpert. Er spielte auf einer imaginären Geige und sah mich unverwandt an.

»Markus, was soll das? Die Leute gucken ja schon …«

»Willst du meine Frau werden?«

Mir verschlug es die Sprache. Verlegen knetete ich auf meinem vollgeweinten nassen Taschentuch herum, das ich immer noch in Händen hielt.

»Markus, du musst mich jetzt nicht aus lauter Mitleid … Ich meine, nur um meine Laune wieder zu heben … Ich komm schon klar, wir kriegen das schon hin …«

»Pssst!« Markus legte mir seinen Zeigefinger auf die Lippen. »Sei ausnahmsweise mal einsilbig.«

Einige Spaziergänger lachten und blieben abwartend stehen.

»Das sah nicht nur wie ein Heiratsantrag...