Tainted Souls

von: Lilah Pace

LYX, 2017

ISBN: 9783736302815 , 443 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Tainted Souls


 

1


Normalerweise macht es mir nichts aus, quer über den Campus zu meinem Auto zu gehen. Mein Stundenplan als Doktorandin und Tutorin ermöglicht es mir meistens, vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu gehen, und die University of Texas in Austin ist eine der größten Universitäten des Landes, was bedeutet, dass dort für gewöhnlich immer Leute unterwegs sind.

Allerdings ist heute der Samstagabend nach Thanksgiving. Die meisten Studenten sind noch zu Hause bei ihren Familien. Die Dozenten ebenfalls. Ich habe New Orleans früher als geplant verlassen. Den riesigen Stapel Seminararbeiten, den ich korrigieren muss, hätte ich auf mehrere Tage verteilen können, aber da ich heute Abend fast fertig war, habe ich ihn bis zum Schluss abgearbeitet.

Deswegen laufe ich jetzt um dreiundzwanzig Uhr über einen fast leeren Campus in der Nähe der Innenstadt.

Ein weißer Truck fährt auf der nahe gelegenen Straße vorbei. Seine Scheinwerfer streifen mich, und ich blinzele gegen die Helligkeit an. Für einen Augenblick denke ich, dass der Truck vielleicht anhalten wird, und ich frage mich, ob er meinetwegen anhält. Doch dann fährt er weiter, und ich atme erleichtert aus.

Alle Welt verbringt so viel Zeit damit, Frauen zu erklären, wie man es vermeidet, vergewaltigt zu werden – mehr Zeit, als sie damit verbringt, Männern zu erklären, dass sie niemanden vergewaltigen sollen. Also rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ich weiß, was ich zu tun habe. Ich halte den Kopf hoch. Ich behalte meine Umgebung im Auge, damit mir nichts entgeht. Ich trage keine Kopfhörer, die das Geräusch herannahender Schritte ausblenden könnten, und habe kein Handy in der Hand, das mich mit Textnachrichten oder Spielen ablenkt. Meine Kleidung sollte keine übermäßige Aufmerksamkeit auf sich ziehen: ein Jeansrock und eine weinrote Strickjacke. Und ich habe flache Schuhe an, in denen ich rennen könnte, falls es nötig werden sollte.

Und ich weiß auch, dass ich jedem Mann, dem ich begegne, in die Augen schauen muss, damit er erkennt, dass ich ihn wahrgenommen habe. Dass ich ihn notfalls identifizieren könnte.

Deswegen drehe ich den Kopf, als ich das dumpfe Geräusch von Stiefeln hinter mir höre – und bleibe wie angewurzelt stehen.

Der Mann, der so nah an mich herangekommen ist, ist groß, fast eins neunzig. Außerdem ist er muskulös, wie seine niedrig sitzenden Jeans und sein eng anliegendes Hemd deutlich machen. Doch er ist kein Bodybuildertyp. Seine Taille ist im Verhältnis zu den breiten Schultern unglaublich schmal, sein Hals lang und sehnig. Seine Proportionen lassen auf Brutalität, aber auch auf Zerbrechlichkeit schließen. Ein Blick genügt, um zu wissen, dass dieser Mann bis aufs Äußerste angespannt ist. Und man fragt sich, wozu er in der Lage wäre. Im bläulichen Schimmer der Straßenlampen sind seine Züge fast zu schön, um schroff zu wirken, aber nicht ganz. Seine Nase ist gerade, seine hohen Wangenknochen sind wie gemeißelt, und sein schmallippiger Mund ist zu einer festen Linie zusammengepresst. Er bräuchte nur eine seiner breiten Hände, um meine Kehle zu umfassen. Die Beschreibung für die Polizei würde folgendermaßen lauten: helle Hautfarbe, dunkles, kurz geschorenes Haar, glatt rasiert. Seine Augen haben die Farbe von Stahl.

Und sie sind unverwandt auf mich gerichtet.

Eben noch habe ich mich so selbstsicher gefühlt. So stark und auf alles gefasst. Jetzt sehe ich mich so, wie mich ein Angreifer sehen würde. Eine Frau Mitte zwanzig, ganz allein und durch das Gewicht einer schweren Umhängetasche voller Seminararbeiten beeinträchtigt. Der Tragegurt der Tasche verläuft diagonal über meinen Oberkörper und drückt meine Strickjacke fest an meine Brüste. Niemand sonst befindet sich in Sicht- oder Hörweite. Mein Auto steht mindestens dreißig Meter entfernt.

Wenn er mich angreifen wollte, könnte ihn niemand aufhalten. Nicht einmal ich.

»Du bist spät unterwegs«, sagt er. Seine tiefe Stimme klingt angespannt. Verkrampft.

»Tja, so ist das eben.« Es ist die Art von bedeutungsloser Floskel, die man Fremden gegenüber äußert. Ich schiebe die Umhängetasche nach hinten. Auf diese Weise könnte ich leichter wegrennen. Doch der Gurt klemmt meine Strickjacke ein und sorgt dafür, dass der Saum hoch genug rutscht, um ein paar Zentimeter meiner Haut zu entblößen. Ich spüre die kühle Nachtluft. Unser endloser texanischer Sommer ist endlich vorbei, und die Kälte hat Einzug gehalten.

Aber ich zittere nicht wegen der Kälte.

Es ist die Erwartung.

»Junge Frauen sollten so spät in der Nacht nicht allein draußen herumlaufen«, sagt er und kommt näher. Das Licht der Straßenlampen verlängert seinen Schatten. Der schmale dunkle Umriss fällt wie eine Grenze zwischen uns auf den Boden. »Das ist gefährlich.«

»Herumlaufen ist nicht gefährlich«, erwidere ich. »Leute sind gefährlich.«

Seine Stimme wird noch tiefer und ist nun fast ein Knurren. »Ja. Also warum bist du hier draußen?«

»Ich gehe zu meinem Auto.«

»Du hättest jederzeit nach Hause gehen können.« Er spricht mit mir, als wären wir Fremde, als wäre ich ein ungezogenes kleines Mädchen, dem er eine Predigt halten darf. »Aber du bist absichtlich bis spät in die Nacht geblieben. Damit du ganz alleine hier draußen herumlaufen kannst.«

Mir stockt der Atem. Die Stimmung zwischen uns hat sich schlagartig verändert.

Und dann wird sie plötzlich scharf wie ein Messer, als er hinzufügt: »Manche Leute würden sagen, dass du regelrecht darauf aus bist.«

Die Möglichkeiten vervielfachen sich in meinem Geist und verwandeln sich in ein pornografisches Kaleidoskop. Er könnte mich in sein oder mein Auto zwingen. Er könnte mich auf dem Rücksitz festhalten, mir die Unterhose vom Leib reißen und mich besinnungslos vögeln. Oder vielleicht würde er es gelassener angehen, mir anbieten, mich in dieser kalten Nacht nach Hause zu fahren und schwören, sich anständig zu verhalten. Doch statt mich wie versprochen zu Hause abzusetzen, würde er sich gewaltsam Zugang zu meinem Haus verschaffen, mich fesseln und stundenlang mit mir machen, was immer er wollte. Er könnte sogar gleich hier über mich herfallen.

Jede andere Frau würde ihr Handy aus der Tasche holen. Oder schreien. Oder weglaufen.

Stattdessen stehe ich da und genieße seinen Anblick. Das Gegenstück zur Angst ist Verlangen, und das Verlangen hat mich jetzt fest im Griff. Nicht nur Verlangen – Lust. Mir ist egal, wie kalt die Nacht ist, mir ist egal, wie gefährlich es wäre. Ich will einfach nur ihn, und zwar so sehr, dass ich alles dafür tun würde.

Und er will mich genauso sehr. Ich erkenne es an der Art, wie sich sein Kiefer anspannt und wie er die ganze Zeit versucht, mich nicht anzusehen, und doch nicht widerstehen kann.

Wir sind zu Jäger und Beute geworden.

Komm schon, Jonah, denke ich, als ich den Mann ansehe, den ich gefürchtet und bekämpft und vielleicht zu lieben begonnen habe. Nun mach schon. Nimm mich.

Er geht einen Schritt auf mich zu – und dann erstarren wir beide, als der weiße Truck erneut vorbeifährt und in der Nähe anhält. Jemand lehnt sich aus dem offenen Fahrerfenster. Durch das grelle Licht der Scheinwerfer erkenne ich den Freund eines Freundes, diesen Kerl namens Mack. »Hey, Vivienne!«, ruft er. »Soll ich dich bis zu deinem Auto mitnehmen?«

»Nein danke!«, antworte ich. Ich hätte das Angebot auf jeden Fall abgelehnt. Mack hat auf mich schon immer wie ein Studentenverbindungstyp gewirkt und ist somit wohl kaum mein Typ. Andererseits hat er angeboten, mir zu helfen, als er mich spät in der Nacht allein und verletzlich draußen herumlaufen sah. Vielleicht habe ich den Kerl falsch eingeschätzt.

Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass ich ihn am liebsten anschreien würde, weil er Jonah und mich unterbrochen hat.

Mack winkt einfach nur, bevor er sein Auto wieder anlässt und davonfährt und mich mit Jonah allein lässt. Doch da ist es bereits zu spät.

Der Zauber ist gebrochen, das Spiel vorbei. Ich schaue Jonah in die Augen, und was ich dort sehe, ist keine Lust. Zumindest nicht nur Lust. Am deutlichsten sehe ich darin Schmerz.

»Das hier läuft jetzt nicht«, sagt er sehr leise. »Tut mir leid.«

Verdammt noch mal. »Du hast damit angefangen …«

»Weil du dafür gesorgt hast, dass ich die Kontrolle verliere.« Jonah wendet sich halb von mir ab und straft seine Worte damit Lügen. Dieser Mann verfügt über eine eiserne Selbstkontrolle. Ich wünschte, es wäre nicht so. »Vivienne, du weißt, dass wir damit aufhören müssen.«

»Du bist derjenige mit dem …« Was sage ich am besten? »Komplex« ist zu trivial und »Problem« zu verurteilend. Worte wie »Wunde« oder »Narbe« kämen der Wahrheit wohl näher. Doch das Letzte, was er will, ist mein Mitleid.

»Ich muss das Spiel für eine Weile unterbrechen«, fährt er entschlossener fort. »Vielleicht für immer. Ich weiß es nicht.«

Für immer? So darf er nicht denken. Wir werden nie eine Lösung finden, wenn er nicht mal danach sucht. »Jonah …«

»Ich kann dir das einfach nicht antun. Nicht nachdem ich die Hintergründe kenne.« Seine Schultern sacken herab, als ob er schon viel zu lange ein schweres Gewicht mit sich herumgetragen hätte. »Das verändert alles.«

»Du weißt schon, dass du mich dadurch nicht beschützt, oder? Du magst das vielleicht glauben, aber in Wirklichkeit hast du nur dafür gesorgt,...