Europa in der Krise - Vom Traum zum Feindbild? - Mit Beiträgen von Sigmar Gabriel, Martin Schulz, Karl-Heinz Rummenigge, Elmar Brok, Ann-Kristin Achleitner, Gesine Schwan, Rolf-Dieter Krause u.v.a.

von: Edmund Stoiber, Bodo Hombach

Tectum-Wissenschaftsverlag, 2017

ISBN: 9783828866072 , 218 Seiten

Format: ePUB, PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 15,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Europa in der Krise - Vom Traum zum Feindbild? - Mit Beiträgen von Sigmar Gabriel, Martin Schulz, Karl-Heinz Rummenigge, Elmar Brok, Ann-Kristin Achleitner, Gesine Schwan, Rolf-Dieter Krause u.v.a.


 

Eine Bestandsaufnahme

Europa in der Krise

Ein Gespräch zwischen Rolf-Dieter Krause und Martin Winter*

Der Zustand der Europäischen Union ist miserabel. Gar keine Frage. Wer an Europa denkt, dem fällt Krise ein. Und wer Krise sagt, meint meist Europa. Die Krise ist zum Markenzeichen der Europäischen Union geworden. Als Finanzkrise, als Wirtschaftskrise, als Vertrauenskrise, als Flüchtlingskrise, als Brexit-Krise. Krise, überall Krise. Aber offen gesagt: Wir können es nicht mehr hören. Dieses vor allem in Brüssel gewaltige Klagen und Jammern geht uns mächtig auf die Nerven. »Am schlimmsten sind diese Überschwang-Europäer. Erst jubeln sie Europa hoch und wenn es schwierig wird, beschwören sie schrill dessen finale Katastrophe. Klar, der Brexit ist ein großer politischer Mist. Aber das Ende Europas? Wohl eher nicht«, sagt Rolf-Dieter Krause. Es gibt nun mal nicht nur Schwarz und Weiß. Genau besehen besteht Europa ja überhaupt vor allem aus Grautönen. Und in denen verberge sich manche Hoffnung, die die Integrationisten in ihrer Hysterie meist übersehen.

Schon wahr, »aber erschüttert der angekündigte Austritt Großbritanniens die EU in ihren Grundfesten nicht doch wie nichts zuvor?« Ja, sagt Krause, das ist schon ein schwerer Schock. Aber viel schwerer als der von 2005, als die Franzosen den europäischen Verfassungsvertrag in einer Volksabstimmung ablehnten, sei er objektiv nicht. Aber gefühlt – diesen Einwand kann man Krause nicht ersparen – natürlich schon, weil der Brexit auf all die anderen Probleme noch oben drauf kommt, die die Union schon seit einigen Jahren tief verunsichern. Es könnte doch sein, dass sich der Brexit mit all den großen und kleinen Krisen der vergangenen Jahre zu einem großen Sturm verbindet, der die europäische Einigung aus den Angeln hebt?

Diese Gefahr besteht gewiss, wie es ja überhaupt nun keine Garantien gegen ein Auseinanderbrechen der Europäischen Union gibt. Aber wer – wie wir – fast zwei Jahrzehnte lang nicht in Seminaren über den Prozess der europäischen Einigung meditiert, sondern ihn aus nächster Nähe beobachtet hat, da also, wo Europa gemacht wird, der neigt eher zur Vorsicht. »Natürlich sind die Probleme groß und es muss etwas geschehen. Aber jetzt hektisch Pläne zu entwerfen und mit der heißen Nadel an neuen europäischen Projekten zu stricken, ist keine Antwort, jedenfalls keine sehr intelligente, im schlimmsten Fall sogar eine gefährliche, weil zerstörerische.« Wir sind uns einig, dass der Brexit zumindest ein Gutes hat: Er zwingt uns darüber nachzudenken, was tatsächlich schief läuft in Europa. Anders gesagt: Es ist an der Zeit, die europäischen Probleme rücksichtslos zu analysieren. Die entscheidenden Fragen sind für uns nicht, ob man den Euro durch eine weitere Feinabstimmung seiner Regeln weniger krisenanfällig oder ob eine Aufrüstung von Frontex die Grenzen der EU sicherer macht. Das Kernproblem der Europäischen Union ist das Auseinanderdriften von Union und Europäern. Die Basis bröckelt. »Warum wenden sich so viele von der EU ab? Warum legen antieuropäische Parteien so kräftig zu? Warum wählen Polen und Ungarn und demnächst vielleicht auch Österreicher europafeindliche Regierungen? Warum nimmt selbst in der politischen Mitte unserer Gesellschaften die Begeisterung für Europa rapide ab?« Das fragen wir uns und das sollte Europa sich fragen.

Die Reaktionen der Regierungen der Mitgliedstaaten der EU sowie deren Bürger auf die Krisen seit 2010 weisen bei allen Unterschieden doch eine Gemeinsamkeit auf: Sie sind Symptome einer europäischen Überforderung. Es scheint uns, dass die Europapolitik sich selbst und den Europäern mehr zugemutet hat, als jeder von ihnen bewältigen konnte. Es ist den europäischen Politikern nicht zu verdenken, dass sie in der Euphorie nach dem Ende des Kalten Krieges eine neue europäische Epoche anbrechen sahen und den Kontinent – zumindest seinen größeren Teil – auf dem Weg zu einer immer engeren Union wähnten, vielleicht sogar zu einer Föderation. Doch einige der großen Pläne wurden angepackt, indem man ihre Ungereimtheiten entweder kleinredete oder schlicht wegschaute. »Der Euro«, wiederholt Krause seine schon in den 1990er Jahren öffentlich geäußerte Kritik, »hätte noch lange nicht eingeführt werden dürfen. Die Volkswirtschaften entwickelten sich auseinander anstatt aufeinander zu. Eine politische Union war noch in weiter Ferne. Und die praktischen Währungsregeln waren und sind lückenhaft.« Dass die europäische Währung trotz sehr teurer und trotz weiter andauernder Rettungsmaßnahmen der Euro-Länder und der Europäischen Zentralbank zwar aus der unmittelbaren Gefahrenzone heraus, aber weiterhin krisenanfällig bleibt, ist keine besonders gute Werbung für die europäische Idee.

Wie weit große Ideen und europäische Möglichkeiten auseinanderklaffen und in der Realität dann zu gewaltigen politischen Problemen führen, zeigt uns auch die Flüchtlingskrise. Die Empörung darüber, dass einige Länder sich einer europäischen Flüchtlingsquote verweigern und andere nur eine sehr begrenzte Zahl aufzunehmen bereit sind, trägt doch arg heuchlerische Züge. Dass die Europäer sich in der Flüchtlings- und Asylpolitik kaum einig sind, konnte man auch vor der Ankunft der ersten Schlauchboote auf griechischen Inseln wissen. Denn der Wunsch nach einem gemeinsamen europäischen Asylsystem war schon in den Jahren zuvor an der harten europäischen Realität weitgehend gescheitert. Im Überschwang europäischer Gefühle hatten die Staats- und Regierungschefs 1999 ein gemeinsames, europäisches Asylsystem beschlossen, dass nach spätestens zwei bis drei Jahren fertig sein sollte. Nun, die Verhandlungen haben vierzehn Jahre gedauert und herausgekommen ist ein Minimalkonsens über die Behandlung von Flüchtlingen.

»Auch in der Außen- und in der Sicherheitspolitik ist ja vieles nicht so gekommen, wie man es glaubte. Also von Europa als einem globalen Player kann man ja eher nicht reden. Und die Idee, dass man um sich herum einen Kreis friedlicher und befreundeter Länder schaffen könnte, hat die europäischen Kräfte ja wohl weit überstiegen.« Ja, sagt Krause, vielleicht liegt hier ja der eigentliche Kern des Problems. Nach dem Ende des Kalten Krieges und angesichts der heraufziehenden Globalisierung hat sich die Europäische Union als politische, wirtschaftliche und militärische Antwort Europas auf die Herausforderungen einer globalisierten Welt präsentiert. Zugleich hat sie sich mit großer Geschwindigkeit nach Osten und Südosten ausgedehnt. Beides, darin sind wir uns einig, ist ihr nicht gut gelungen, in einigen Teilen sogar »komplett schiefgegangen«.

Die Neigung der europäischen Politik, sich etwas vorzumachen oder vor Problemen die Augen zu verschließen, spielt auch hier eine unheilvolle Rolle. »Der Anspruch der Europäischen Union, die Globalisierung zu beherrschen, anstatt von ihr beherrscht zu werden, aus ihr das Beste für die Europäer herauszuholen und zugleich das europäische Sozialmodell zu bewahren, war nie praktisch unterfüttert und hat in der 2008 einsetzenden Weltfinanzkrise nicht nur versagt, sondern die Menschen bekamen auch das Gefühl, dass dieses Europa vor allem den Banken und der Finanzindustrie hilft«, analysiert Krause die Lage. So erfahren die Europäer die EU – was viele Umfragen aber auch einige Wahlergebnisse zeigen – nicht als Verheißung, sondern als Bedrohung. Für eine Verlagerung wirtschaftlicher und fiskalischer sowie sozialpolitischer Souveränität von den Nationalstaaten auf die Europäische Union findet sich quer durch die Völker keine Mehrheit. »Die teilweise doch sehr irrationalen Reaktionen in Frankreich oder Deutschland auf die geplanten Freihandelsverträge mit Kanada und vor allem mit den USA sind Teil eines gewachsenen ökonomischen und sozialpolitischen Misstrauens in die EU.« Wir könnten es auch so sagen: In einer entscheidenden Phase, in der sich die Welt ökonomisch neu sortiert, hat es die EU nicht geschafft, ihre Bürger von ihrem Nutzen zu überzeugen.

Die Menschen werden auch zunehmend durch eine Politik der Erweiterung verunsichert, die nach dem Ende des Kalten Krieges einsetzte und die von Brüssel auch heute noch immer weiter betrieben wird. Es ist heute müßig – wie wir es früher oft getan haben – darüber zu streiten, ob Länder des ehemaligen Ostblocks zu schnell oder zu langsam aufgenommen worden sind. Und es ist unstreitig, dass »es sich die Europäische Union, die ja ein Versprechen an alle Europäer ist, nicht leisten kann, Polen, Balten oder Ungarn vor der Tür zu lassen«. Aber hat man sich in den Mitgliedsländern und in Brüssel dabei nicht ebenfalls mancher Illusion hingegeben und die Probleme kleingeredet? Wer in der Zeit der Gespräche über die Beitritte in Brüssel darauf hinwies, dass dem einen oder anderen Land doch einige Rabatte zu viel eingeräumt wurden, bekam aus der Kommission in der Regel folgende Antwort: Wenn dieses Land der EU tatsächlich beitritt, dann ist es ein ganz anderes, als das, das wir heute kennen. Sollte sagen, dass allein das Beitrittsverfahren aus einem ehemaligen Ostblockland einen demokratischen Rechtsstaat nach westeuropäischem Vorbild macht. Dass dies eine Illusion war und dass sich die spezifischen politischen, historischen und kulturellen Erfahrungen und Traditionen nicht von einem Tag auf den anderen in die alte, westeuropäisch geprägte EU integrieren lassen, erfährt die Europäische Union nun auf »bittere Weise in Polen, in Ungarn, in Tschechien oder in der Slowakei«. Viel wichtiger aber, wirft Krause ein, ist die Wirkung der Beitritte auf die Menschen, die vollkommen unterschätzt worden sei.

In der Tat hat die Erweiterung nicht nur problematische Folgen für die...