Die Wespe, die sich Raupen als Sklaven hielt - Die verrücktesten Überlebensstrategien der Tierwelt

von: Matt Simon

Goldmann, 2018

ISBN: 9783641210793 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,99 EUR

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Die Wespe, die sich Raupen als Sklaven hielt - Die verrücktesten Überlebensstrategien der Tierwelt


 

Die Breitfuß-Beutelmäuse

PROBLEM: Der einzige Zweck allen Lebens ist, Nachkommen zur Welt zu bringen. Was jede Menge Druck erzeugt.

LÖSUNG: Das zur Ordnung der Beuteltiere gehörende Breitfuß-Beutelmausmännchen paart sich drei Wochen lang mit jedem Weibchen, das ihm unterkommt, bis ihm der Pelz ausfällt, es innere Blutungen erleidet, erblindet, stirbt und noch viel Schlimmeres passiert.

Ich weiß genau, was der Sinn des Lebens ist. Mir ist klar, dass das eine ziemlich dreiste Aussage zu sein scheint – aber ich weiß es wirklich. Es ist nämlich folgendermaßen.

Vögeln Sie sich um Ihren Verstand. Und zwar so was von.

In den 3,8 Milliarden Jahren, in denen es auf der Erde Leben gab, bevor schließlich der Mensch auf der Bildfläche erschien und in Sachen Existenz ganz furchtbar philosophisch wurde, hatte alles Getier auf diesem Planeten genau ein oberstes Ziel: sich fortzupflanzen. Nachrangige Ziele waren: genug zu fressen, um dem Fortpflanzungstrieb nachgehen zu können, und nicht gefressen zu werden … um weiter dem Fortpflanzungstrieb nachgehen zu können.

Kein Lebewesen ist diesem Trieb stärker verpflichtet als Antechinus, eine in Australien beheimatete Beutelmaus. Die Männchen dieser Gattung haben dermaßen viel Sex, und zwar mit so vielen Sexualpartnerinnen und überdies derart ausdauernd, dass eins nach dem anderen tot umfällt. Allerdings sterben sie nicht einen schnellen Tod wie bei einem Herzinfarkt, beileibe nicht, das wäre viel zu einfach. Sie erliegen einem totalen Burn-out – einen Burn-out dieser Dimension könnte der Mensch gar nicht ertragen. Während die Männchen in einem fort dem nächsten Geschlechtsakt hinterherjagen, erleiden sie innere Blutungen. Ihr Immunsystem bricht sukzessive zusammen, und ihnen fallen die Haare aus. Gegen Ende verlieren sie sogar das Augenlicht, aber auch das hält sie nicht auf. In einer Welt, die früher oder später nur noch schwarz ist, folgen sie immer noch wie Sexzombies dem Drang, das nächste Weibchen aufzuspüren, bis sie schließlich ihren letzten Atemzug tun.

Grund dafür ist eine ordentliche Menge Testosteron. Der Hormonlevel geht während der Paarungszeit beim Antechinusmännchen sprichwörtlich durch die Decke, was bestimmt toll ist, wenn man auf eine ungezügelte Libido steht. Nicht ganz so toll wirkt sich das Testosteron, na ja, Sie wissen schon, auf die emotionale Stabilität und auf das allgemeine Wohlbefinden aus. All das Testosteron treibt nämlich einerseits Unfug mit den Energiereserven von Antechinus, sodass es drei Wochen lang nicht die geringste Nahrung zu sich nimmt, damit es sich voll und ganz auf seinen Paarungsmarathon konzentrieren kann, der bis zu bewundernswerten 14 Stunden andauert. Andererseits kommt es gleichzeitig zu einer unkontrollierten Cortisolausschüttung. Nun ist Cortisol ein Stresshormon, das zwar zu Höchstleistungen antreibt, aber eben auch gewisse Nebenwirkungen hat, wie innere Blutungen, Haarausfall und Erblinden.

Und was ist mit den Weibchen? Müssen diese schicksalsergeben all die durchgeknallten Männchen ertragen, die völlig kopflos über sie herfallen und wahllos alles begatten, was nicht bei drei auf den Bäumen ist? Nun … ja. Müssen sie. Allerdings haben die Weibchen viel mehr zu sagen, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. In der Tat dürften die Weibchen jeder Spezies im Lauf der Evolution einen wesentlichen Anteil daran gehabt haben, dass ein solches Durcheinander überhaupt entstehen konnte.

POSSUM ODER OPOSSUM, DAS IST HIER DIE FRAGE

Als Heimat der Beuteltiere – beispielsweise des Antechinus – gilt der australische Kontinent. Doch Beuteltiere sind auch in Nord- und Südamerika beheimatet. (Die einzige Art, die in den USA vorkommt, nennt sich Opossum. Possums ohne O sind die australasischen Verwandten.) Vermutlich sind Beuteltiere ursprünglich sogar auf dem amerikanischen Doppelkontinent entstanden und dann vor schätzungsweise 60 Millionen Jahren über die Antarktis nach Australien ausgewandert, als die Kontinente noch zusammenhingen. Nicht dass ich jetzt hier stellvertretend für Amerika die Beuteltier-Lorbeeren beanspruchen will. Ich will es nur erwähnt haben.

Antechinus ist ein Insektenfresser, und für einen australischen Insektenfresser gibt es nichts Aufregenderes als den Frühling, weil da jedwede Insektenpopulation regelrecht explodiert. Im Frühling will unser Beuteltier auch seine Jungen aufziehen, gerade weil überall genügend Futter kreucht und fleucht – allerdings nicht so sehr für den Nachwuchs, als vielmehr für das Muttertier. Im Vergleich zu anderen Säugern – dem Pferd beispielsweise, dessen Fohlen bei der Geburt quasi auf die Hufe fällt und losprescht (na ja, genau genommen stolpern Fohlen eher los, aber sei’s drum) – kommt die Beutelmaus verhältnismäßig unterentwickelt zur Welt. Daher muss die Beutelmäusin ihre Jungtiere erst mal ziemlich lange säugen und aufpäppeln, und dafür braucht sie jede Menge Energie. (Die Jungen liegen auch nicht in ihrem Beutel, wie wir es von Koalas und Kängurus kennen, sondern in einer Art Bauchfalte.) Treibstoff für das Muttertier sind die Insekten. Breitfuß-Beutelmausweibchen scheinen im Lauf der Evolution ihre Paarungszeit überdies verkürzt zu haben, sodass die Entwöhnung der Jungen von der Muttermilch und die erste Aufnahme fester Nahrung in etwa auf denselben Zeitpunkt fallen, an dem das Insektenfutterangebot am größten ist. So ist das Überleben der Jungtiere optimal gesichert.

Dies wiederum führt … zum Tod all jener Männchen, mit denen sich die Muttertiere gepaart haben. Natürlich nicht unmittelbar ursächlich. Aber über die Jahrmillionen mussten unsere Antechinusmännchen dem Problem der kürzeren Paarungszeit ja irgendwie begegnen. Sie passten sich an, indem sie so viel Sperma wie nur möglich produzierten, um sich so schnell wie möglich mit so vielen Weibchen wie nur möglich zu paaren. Entsprechend sind die Hoden der Antechinuskerle im Verhältnis zu ihrem restlichen Körper auch gigantisch groß. Indem sie so viele Weibchen wie nur möglich begatten, kompensieren die Männchen die verkürzte Paarungszeit, die die Evolution ihnen auferlegt hat.

Auf den ersten Blick scheint dieser Widerstreit der Geschlechter mit unserer Vorstellung vom Überleben einer Spezies inkompatibel zu sein. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Ein Breitfuß-Beutelmausweibchen verlangt dem Männchen nur ein bisschen mehr ab. In den entscheidenden drei Wochen paart sie sich mit mehreren Vertretern ihrer Art, deshalb kann sie nicht wählerisch sein, wie es etwa die Pfauenhenne ist, die sich den Pfauhahn mit dem schönsten Gefieder aussucht. Aber nachdem die gesündesten Männchen das meiste Sperma produzieren, steigt für sie die Wahrscheinlichkeit, das Weibchen zu befruchten. Insofern »sucht« sich auch das Breitfuß-Beutelmausweibchen den besten Partner aus. Die Jungtiere, die sie gebiert, können außerdem von verschiedenen Männchen abstammen, und weil sie bis zu dreimal mehr Junge zur Welt bringt, als sie Zitzen hat, führt dies dazu, dass im Kampf um die Muttermilch nur die stärksten Jungtiere überleben. Die schwächeren Geschwister sterben und nehmen die schwächeren Gene ihrer Väter mit ins Grab.

WAS EINE 15 ZENTIMETER LANGE KLITORIS SO ALLES KANN

Hyänendamen gehen deutlich aktiver vor, wenn es darum geht, das Sperma bestimmter Paarungspartner auszuwählen. Die Weibchen verfügen über eine rund 15 Zentimeter lange Klitoris, die aussieht wie ein Penis. Während der Paarung dringt das Männchen in den »Penis« des Weibchens ein – was den Beobachtungen von Fachleuten zufolge einige Übung aufseiten des Männchens erfordert. Die vergrößerte Klitoris des Weibchens liegt möglicherweise in ihrer Fähigkeit begründet, das Sperma eines im Nachhinein eher unliebsamen Partners mithilfe eines Urinstrahls auszuspülen. Da ist es wohl nicht wirklich überraschend, dass im Lauf der Geschichte der Hyäne eine gestörte Sexualität angedichtet wurde. Niemand Geringeres als Ernest Hemingway beschrieb in den Grünen Hügeln Afrikas einst Fisi, die Hyäne, als »die hermaphroditische, die sich selbst verspeisende Kadaververzehrerin, die kalbenden Kühen auf den Fersen Seiende, die Knieflechsen Durchbeißende, die dir nachts, während du schläfst, das Gesicht zerfressen konnte«.

Tja, Hemingway eben. Hatte auch immer was zu meckern.

Von einer menschlichen Warte aus wirkt das natürlich brutal, aber so funktioniert das Leben nun einmal. Nicht weniger düster erscheint uns deshalb Charles Darwins Theorie von 1859, dass Evolution sich durch natürliche Selektion vollziehe. Die Formulierung »natürliche Selektion« ist im Übrigen durchaus wesentlich. Denn schon zu Darwins Zeiten waren in der Naturforscher-Community Veränderungen innerhalb der Spezies ein großes Thema. Allerdings führten die Wissenschaftler dafür die sogenannte Transmutation ins Feld. Das Umwälzende an Darwins Erkenntnissen war indes, dass er die genauen Mechanismen benannte: Die verschiedenen Spezies zeugen typischerweise mehr Nachfahren als überleben, dieser Nachwuchs weist unterschiedliche Eigenschaften auf, und nur derjenige überlebt, pflanzt sich fort und gibt seine Gene weiter, dessen Eigenschaften besser an die Umweltbedingungen angepasst sind. Genau so entwickelt sich eine Spezies: indem sie sich der Umwelt anpasst und mit Fressfeinden umzugehen lernt. Im Lauf dieses Prozesses muss zwangsläufig eine große Menge schlecht angepasster Exemplare den Weg alles Irdischen gehen.

Die Breitfuß-Beutelmauskerle scheint das nicht zu jucken. Solange sie können,...