Commissaire Le Floch und der Brunnen der Toten - Roman

von: Jean-François Parot

Blessing, 2018

ISBN: 9783641191603 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 13,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Commissaire Le Floch und der Brunnen der Toten - Roman


 

I

Selbstmord

Die Gesetze in Europa sind grimmig gegen diejenigen, die sich selbst töten: Man lässt sie sozusagen ein zweites Mal sterben; sie werden auf unwürdige Weise durch die Straßen geschleift; man überhäuft sie mit Schande; man konfisziert ihren Besitz.

MONTESQUIEU

Dienstag, den 27. Oktober 1761

Eine Flut von Wagen ergoss sich durch die Rue Saint-Honoré. Nicolas Le Floch bewegte sich vorsichtig auf dem rutschigen Pflaster vorwärts. Inmitten des Ratterns der Equipagen, der Schreie der Kutscher und des Wieherns der Pferde wäre eine Karosse, die mit großer Geschwindigkeit angeschossen kam, beinahe vor ihm umgekippt; ein Rad fiel ab, dessen Eisen Funkengarben sprühte. Mühevoll bahnte Nicolas sich einen Weg durch die vielen Diener, die in der Dunkelheit Fackeln schwenkten, um ihren Herren so gut wie möglich zu leuchten.

Wie lange, fragte sich Nicolas, würde man diese protzigen und gefährlichen Demonstrationen noch dulden? Das Wachs lief auf Kleider und Frisuren; Perücken und Haare konnten leicht Feuer fangen – es gab Beispiele genug für solch verhängnisvolle Vorfälle. Das gleiche Durcheinander würde auch auf den Stufen der Oper am Ende der Vorstellung herrschen, vermutlich weil die Mächtigen und Vornehmen es eilig hatten, nach Hause zu kommen.

Er hatte mit Monsieur de Sartine darüber gesprochen. Der Polizeipräfekt hatte ihm eine ironische Abfuhr erteilt. Das öffentliche Wohl und die Ordnung in der Hauptstadt lagen ihm so sehr am Herzen, dass er es sich weder mit dem Hof noch mit den Bürgern der Stadt verderben wollte. Und warum sollte er eine Festlichkeit reglementieren, an der er selbst gelegentlich teilnahm?

Der junge Mann bahnte sich einen Weg durch das Gedränge, das auf den Stufen der großen Treppe herrschte. In dem winzigen Foyer dieses Gebäudes, das einst für den Kardinal de Richelieu erbaut worden war und in dem Molière gespielt hatte, war es noch dichter.

Nicolas betrat diesen Tempel der Musik wie immer mit großer Freude. Alle kannten und begrüßten sich. Man erkundigte sich nach der Besetzung, sog die neuesten Klatschgeschichten über die Sänger und Sängerinnen ein. Und man besprach leidenschaftlich die Nachrichten und Gerüchte, die in unsicheren Kriegszeiten wie diesen aus dem Boden schossen.

An diesem Abend drehten sich die Gespräche um den Rat, den die Bischöfe von Frankreich dem König bezüglich der Gesellschaft Jesu geben sollten, um die labile Gesundheit von Madame de Pompadour und um die jüngsten Heldentaten der Generäle – insbesondere die des Prince de Caraman, dessen Dragoner im September die Preußen auf das andere Ufer der Weser zurückgedrängt hatten. Die Rede war auch von einem Sieg des Prince de Condé, aber die Nachricht war noch nicht bestätigt.

Die Opernbesucher mussten in ihrer blendenden Satinpracht durch den tiefen Morast staksen, der den Boden bedeckte. Der Kontrast zwischen dem Luxus der Kleider und dem Schlamm – eine Mischung aus Wachsresten, Erde und Kot – war grotesk.

Nicolas ekelte sich vor der Mischung der Ausdünstungen, die auf seine Nase einstürmten. Der beißende Gestank, der vom Boden aufstieg, vermengte sich mit den Gerüchen der Schminke, der minderwertigen Kerzen und den zuweilen durchdringenden Ausdünstungen von Gästen, die sich lange nicht mehr gewaschen hatten.

Einige Frauen, die jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen schienen, fächelten sich wild Luft zu oder atmeten belebende Düfte aus kleinen Fläschchen ein.

Nicolas gelang es, sich frei zu machen, indem er sich hinter den Gardes françaises vorbeischlich, die auf der Treppe Wache standen. Er war nicht zu seinem Vergnügen in der Oper, sondern dienstlich abkommandiert. Monsieur de Sartine hatte ihm befohlen, den Saal zu überwachen. Die heutige Vorstellung war kein gewöhnlicher Abend. Madame Adélaïde, die Tochter des Königs, und ihr Gefolge würden anwesend sein.

Seit dem Attentat von Damiens – der Ludwig XV. am 5. Januar 1757 mit einem Messer verwundet hatte, als der König seinen Wagen bestieg – schwebte eine unbestimmte Angst über der königlichen Familie. Der Polizeipräfekt wollte neben den Spitzeln, die sich im Parkett und in den Kulissen befanden, einen eifrigen Beamten vor Ort haben, dem er vollständig vertrauen konnte. Nicolas sollte alles hören und beobachten und dabei im Blickfeld seines Dienstherrn bleiben, der in seiner Loge saß. Als Commissaire im Châtelet konnte Nicolas Le Floch überdies jederzeit weitere Polizeibeamte anfordern und ihm notwendig erscheinende Sicherheitsmaßnahmen ergreifen.

Er postierte sich in der Nähe der Bühne und des Orchesters. Auf diese Weise hatte er den ganzen Saal im Blick und auch die Bühne, von der ebenfalls Gefahr drohen konnte. Nebenbei erlaubte ihm dieser Platz auch, die Qualität des Orchesters, die schauspielerischen Leistungen der Sänger und ihren Stimmumfang zu beurteilen; außerdem blieb ihm das Ungeziefer erspart, von dem es im Holz und im Samt der Sitze nur so wimmelte. Wie oft hatte er, sobald er nach Hause zurückgekehrt war, seine Kleider über einer großen Schüssel ausschütteln müssen, um sich von dieser springenden und stechenden Brut zu befreien …

Kaum hatte der junge Kommissar seinen Posten bezogen, als der Dochtanzünder langsam emporstieg, wie eine Spinne, die ihren Faden schluckt. Jetzt hatte er sein Ziel erreicht und kreiste über den Dochten der Kerzen des großen Kronleuchters, um sie einen nach dem anderen anzuzünden. Nicolas liebte diesen Augenblick, in dem der noch dunkle Saal, der vom Gemurmel der Gespräche summte, allmählich hell wurde. Gleichzeitig entzündete ein Faktotum das Rampenlicht. Vom Parkett bis zu den Rundbögen erstrahlten das Gold und das Purpur ebenso wie über der Bühne das Blau des französischen Wappens mit seinen Lilien. Staubkringel dämpften das Licht, das sanft über die Anzüge, die Kleider und den Schmuck glitt, ein stummer Prolog zu den Feerien der Vorstellung.

Nicolas musste aufpassen, dass er sich nicht in Träumereien verlor, und den Saal im Auge behalten, der sich in einem Crescendo von Geräuschen und Stimmen füllte. Zu seinen Aufgaben gehörte es festzustellen, wer anwesend war und wer nicht, und Unbekannte oder Ausländer ausfindig zu machen. Heute Abend waren alle Logen besetzt – durchaus keine Selbstverständlichkeit bei diesem eher blasierten Publikum. Sogar der Prince de Conti, der so häufig erst während der Vorstellung zu erscheinen geruhte, mit der majestätischen Gleichgültigkeit eines Prinzen von Geblüt, hatte bereits seinen Platz eingenommen und plauderte mit seinen Gästen. Im Augenblick war die königliche Loge noch leer, aber Lakaien trafen die letzten Vorbereitungen.

Nicolas versah diesen Dienst nur, wenn Mitglieder der königlichen Familie der Vorstellung beiwohnten. An den anderen Abenden wurden seine Kollegen mit dieser Aufgabe betraut. Die Polizei suchte vorrangig nach Männern, die im Verdacht standen, Spionage zu betreiben, im Auftrag von Höfen, die Krieg gegen Frankreich führten. Gegenwärtig überschwemmte vor allem England Paris mit gedungenen Abgesandten.

Er bekam einen leichten Klaps auf die Schulter. Nicolas drehte sich um und erkannte erfreut das offene Gesicht des Comte de La Borde, des ersten Kammerdieners des Königs, der einen prächtigen perlgrauen, mit Silberfäden besticken Anzug trug.

»Nicolas – heute ist ein doppelter Glückstag für mich, da ich meinen Freund wiedersehe!«

»Darf ich nach dem anderen Glück fragen, auf das Ihre Worte anspielen?«

»Ah, ah, der Schlaumeier. Das Glück, einer Oper von Rameau beizuwohnen, zählt das nicht für Sie?«

»Durchaus, aber ich treffe Sie hier weit weg von Ihrer Loge«, sagte Nicolas lächelnd.

»Ich liebe den Geruch der Bühne und ihre Nähe.«

»Ihre Nähe oder ihre Freizügigkeit?«

»Schön, ich gebe es zu. Ich bin hier, um ein zartes und anmutiges Opernmädchen aus der Nähe zu bewundern. Aber, Nicolas, ich muss Ihnen sagen, dass man Sie sehr diskret findet.«

»Dieses man ist selbst sehr diskret.«

»Spielen Sie nicht den Naiven! Seine Majestät hat sich mehrmals nach Ihnen erkundigt, ganz besonders während der letzten Jagd in Compiègne. Sie haben doch, hoffe ich, seine Einladung zur Hetzjagd nicht vergessen. Er vergisst niemals etwas. Zeigen Sie sich, zum Teufel! Er erinnert sich an Ihr Gesicht und hat mehrmals den Bericht über Ihre Untersuchung erwähnt. Sie haben eine mächtige Fürsprecherin in seiner Umgebung; die feine Dame hält Sie für seinen Schutzengel. Glauben Sie mir, nutzen Sie dieses so seltene Vertrauen und ziehen Sie sich nicht von Ihren Freunden zurück. Derart übertrieben, ist die Diskretion ein Verbrechen an sich selbst, das ebendiese Freunde Ihnen nicht verzeihen werden.«

Er zog eine kleine goldene Uhr aus der Tasche seines Anzugs und fuhr nach einem Blick darauf fort:

»Madame Adélaïde müsste jeden Augenblick eintreffen.«

»Ich dachte, unsere Prinzessin und ihre Schwester Victoire seien unzertrennlich«, sagte Nicolas. »Wenn ich meinen Quellen glaube, wird sie heute Abend allein der Vorstellung beiwohnen.«

»Sehr richtig bemerkt. Es hat Krach zwischen dem König und seiner zweiten Tochter gegeben. Er hat ihr ein Schmuckstück verweigert, und Madame Victoire war darüber so gekränkt, dass sie ihn wütend angefahren hat, einer Madame Pompadour hätte er eine solche Bitte nicht verweigert. Das,...