Weißt du, warum ich tot bin? - Roman

von: Kim Lock

Diana Verlag, 2018

ISBN: 9783641188801 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,99 EUR

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Weißt du, warum ich tot bin? - Roman


 

I.

Er war blass. Selbst im schummrigen Licht des proppenvollen Pubs wirkte seine Haut weiß wie Schnee. Er trug eine Jeans mit breitem Gürtel, hatte den Hemdkragen hochgeschlagen und strahlte ein geradezu unbändiges Selbstbewusstsein aus, vor allem, wenn er den Kopf zurückwarf und sein siegessicheres Lachen erklang. Im Licht der Bar hinter ihm schimmerten seine abstehenden Haare rotgolden, doch aus der Nähe betrachtet stellte Jenna fest, dass sie in einem tiefen Kastanienbraun leuchteten.

Zuerst hatte sie den Blick des Fremden gar nicht bemerkt, als sie ein wenig zögernd hinter Fairlie den Pub betrat. Fairlie hakte sich bei Jenna ein und zog sie sanft an ihren üppigen Körper.

»Nur ein, zwei Drinks«, sagte sie und zerrte sie zur Bar. »Damit du auf andere Gedanken kommst.«

Als Jenna nach rechts gesehen hatte, war er ihr aufgefallen. Er beobachtete sie. Der Typ, der einen halben Kopf größer war als die Kerle um ihn herum, hatte eindeutig ein Auge auf sie geworfen. Er starrte sie an, doch es war kein Glotzen; er wirkte eher neugierig. Als Jenna seinen Blick erwiderte, hob er unmerklich das Kinn und lächelte. Zwischen ihnen taumelten, johlten, drängten sich einige mehr oder minder betrunkene Gäste wie eine Horde Pinguine auf einer Eisscholle, doch einen Moment lang bekam sie von alldem nichts mit.

Fairlie, der ihr kurzer, wortloser Austausch nicht entgangen war, musterte Jenna mit hochgezogener Augenbraue, worauf diese aus ihrer Trance erwachte.

»Das ging aber schnell«, bemerkte sie.

»Wir sind ja wohl nicht extra nach Mount Gambier gefahren, um bloß ein paar Drinks zu kippen«, gab Jenna zurück.

»Tu dir keinen Zwang an«, sagte Fairlie. »Ich genehmige mir ein paar Drinks, und du schaust dich ein bisschen um.«

Ein paar andere Gesichter, den einen oder anderen Cocktail und ein bisschen Partystimmung, genau das brauche Jenna jetzt, hatte Fairlie beharrlich erklärt. Und obwohl Jenna wusste, dass es sinnlos war, mit ihr zu diskutieren, hatte sie ihr während der vierzigminütigen Fahrt von Penola nach Mount Gambier deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht in Feierlaune war. Starr hatte sie aus dem Fenster geblickt, ohne die weißgrauen Stämme der vorbeihuschenden Eukalyptusbäume wahrzunehmen. Unablässig sah sie das Gesicht ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge. Und während Fairlie alle möglichen Tricks und Kniffe angewendet hatte, um Jenna aufzumuntern, waren ihr die Worte ihrer Mutter nicht aus dem Sinn gegangen.

Der Mann lächelte sie breit an und nickte ihr über die Köpfe der Umstehenden hinweg zu.

An der Bar herrschte Hochbetrieb, doch es gelang ihnen, zum Barkeeper vorzudringen, einem jungen Typen mit tätowierten Unterarmen. Fairlie grinste ihn an, klimperte mit ihren dick getuschten Wimpern und presste die Ellbogen in die Seiten, um ihr Dekolleté zur Geltung zu bringen, aber seine Miene blieb ausdruckslos, als er ihnen die Drinks herüberschob und zwölf Dollar verlangte.

»Verdammt, Jen, das kann doch alles nicht so schlimm …«, begann Fairlie.

Plötzlich stand er neben ihnen. Im selben Moment fielen sich zwei Frauen hinter ihm mit einer derart penetranten Hysterie in die Arme, dass alle Umstehenden zurückwichen wie bei einer Explosion und Ark jäh gegen Jenna gedrückt wurde.

»Oh, tut mir leid«, sagte er.

Jenna errötete. Er stand so dicht neben ihr, dass sie den Kopf heben musste, und einen Moment lang strich sein feuchter Atem über ihren Hals. Sie bekam eine Gänsehaut.

Er beugte sich zu ihr und griff über ihre Schulter. Jenna hielt die Luft an, als er den Kragen ihrer Bluse zwischen zwei Finger nahm. Er beugte sich noch ein Stück weiter vor, und nun spürte sie seinen Atem an ihrem Ohr, während er das Etikett in Augenschein nahm. Ihre Muskeln spannten sich an, und sie ballte die Hände unwillkürlich zu Fäusten.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Hätte sie seine unmittelbare Nähe nicht völlig gefangen genommen, hätte sie gesehen, wie Fairlie die Kinnlade herunterfiel.

Ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. »Wollte nur mal sehen«, sagte er achselzuckend.

»Was denn?« Jenna fasste sich in den Nacken.

Er lehnte sich wieder vor. »Ob da Made in Heaven steht.«

»Oh, bitte!«, platzte Fairlie heraus, kippte ihren Wodka hinunter und gab dem Barkeeper ein Zeichen.

Jenna war drauf und dran, die Augen zu verdrehen und sich mit Fairlie darüber kaputtzulachen, dass manche Männer offenbar nur mit dem Schwanz dachten. Doch aus irgendeinem Grund zögerte sie; etwas hinderte sie daran, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Es schien, als wäre sie mit all ihren erprobten Reaktionen aus den bewährten Bahnen geworfen worden wie eine Nadel aus der Plattenrille.

Und so lächelte sie wider Willen. »Was war denn das für eine unterirdische Nummer?«

Sein Lachen war so selbstironisch und gleichzeitig ansteckend, dass Jenna gleich noch einmal lächeln musste. Er schüttelte den Kopf und hielt trotz der wogenden Menge respektvoll Abstand.

»Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Schönen Abend noch.«

Und im selben Moment berührte Jenna ihn aus einem Impuls heraus am Arm.

Er hielt inne, musterte sie mit seinen ozeanblauen Augen. Sie beugte sich zu ihm. »Nächster Versuch.«

Seine Schultern bebten, als er abermals lachte.

»Okay.« Er streckte die Hand aus. »Hi. Ich heiße Ark, Ark Rudolph. Sorry, aber sobald mich eine schöne Frau anlächelt, verwandele ich mich in ein echtes Arschloch.«

Jenna schüttelte ihm die Hand. »Jenna«, stellte sie sich vor. »Ich bin Krankenschwester und weiß genau, dass du morgen einen ganz fiesen Kater haben wirst.«

Ark Rudolph grinste, hielt ihr sein Bierglas hin, und sie zögerte einen Moment, bevor sie mit ihm anstieß. Er sah ihr tief in die Augen, während er einen großen Schluck trank.

Die Menge um sie herum schien förmlich zu verschwimmen, als Jenna dem rätselhaften Blick des Mannes begegnete. Sie wusste, dass Fairlie ihr nicht von der Seite weichen, sie beinhart abfüllen und später versuchen würde, ihr die Wahrheit zu entlocken. Im selben Augenblick traf sie die kalte, nackte Erkenntnis: Was war schon Wahrheit? Gab es so etwas überhaupt?

Christina Aguileras Dirty dröhnte aus den Lautsprechern. Um sie herum bewegten sich Leiber, und der Raum lud sich mit Hitze, Alkohol und Hormonen auf. Fairlie pflanzte sich auf einen Barhocker, starrte in ihr Glas und machte zwischendurch den tätowierten Barkeeper mit Sprüchen an, die mit jedem Drink billiger wurden. Ab und zu warf sie einen neugierigen Blick zu Jenna hinüber, setzte dabei eine Miene auf, als wollte sie sagen: Na, das ist aber eine Überraschung. Und in der Tat war es erstaunlich, höchst ungewöhnlich, wie Jenna ranging – sich treiben ließ wie in einem schäumenden Fluss, einfach wissen wollte, wohin die Reise führte.

Ark sagte ihr etwas ins Ohr. Jenna schien alles überdeutlich wahrzunehmen – die Hitze seines Körpers, seinen alkoholgeschwängerten Atem, die Bässe, die den Boden unter ihren Füßen vibrieren ließen. Wenn sie ihn zum Lachen brachte, spürte sie das Beben in seiner Brust, und später, als er mit seiner Hand in die Gesäßtasche ihrer Jeans glitt und sie noch enger an sich zog, ein jähes Verlangen zwischen ihren Schenkeln. Als er sich von ihr löste – noch immer waren kaum mehr als ein paar Zentimeter Platz zwischen ihnen –, bemerkte sie eine Begierde in seinem Lächeln, die ihr den Atem verschlug.

Nach einer Weile wandte sich Jenna nach Fairlie um, die bereits reichlich angetrunken war und kichernd bündelweise Strohhalme in ihr leeres Glas stopfte. Der ganze Tresen war mit schwarzen Plastikröhrchen übersät, und Fairlie beugte sich vor, um den letzten verbliebenen Strohhalm aus dem Halter zu nehmen, wobei ihre üppigen Brüste sich gegen die Tresenkante drückten. Der Barkeeper stieß einen Fluch aus, und Jenna versuchte, ihn mit einer entschuldigenden Geste zu beschwichtigen. »Los, wir gehen jetzt mal für kleine Mädchen«, rief Jenna ihrer Freundin zu und nahm ihr vorsichtig die Strohhalme aus den Fingern.

»He, Süßer!«, rief Fairlie dem Barkeeper zu, der ihr einen Blick zuwarf und den Kopf schüttelte. »Du passt solange auf meine Skulptur auf, okay?« Sie deutete auf ihr Glas. »Das ist Kunst. Wird ein Vermögen wert sein, wenn ich mal tot bin. So wie bei Van Gogh.« Als sie sich von ihrem Barhocker hievte, verrutschte ihr Ausschnitt und gab den Blick auf einen breiten, beigefarbenen BH-Träger frei, der in ihr weiches braunes Fleisch schnitt. Sie grinste Ark breit an. »Schreibt sich G-O-G-H, spricht sich aber wie ›Koch‹. Merkwürdig, oder? Aber egal. Wir sind gleich wieder zurück, Schätzchen.« Sie strich mit den Fingern über Arks Schulter.

Sie drängten sich durch die Gästeschar, stolperten über den grell gemusterten, klebrigen Teppichboden. Bier, Parfüm, Zigarettendunst – die Luft war zum Schneiden. Die Toilette war in weißes Kunstlicht getaucht. Jenna betrat eine Kabine und zog sich die Jeans herunter, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür zu schließen.

Fairlie lehnte sich an den Türrahmen. »Heißt der Typ wirklich ›Ark‹?«

Achselzuckend riss Jenna einen Streifen Klopapier ab. »Warum nicht?« Sie grinste. »Ist das wichtig?«

Fairlie musterte sie skeptisch. »Willst du ihn abschleppen? Du?«

Wieder zuckte Jenna mit den Schultern. Sie schwieg, doch ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Wird auch langsam mal wieder Zeit«, sagte Fairlie....