Das weiße Nashorn - Thriller

von: Markus Lutteman

Penguin Verlag, 2018

ISBN: 9783641217891 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 2,99 EUR

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Das weiße Nashorn - Thriller


 

New York City, USA

Rob Chazey sitzt mit verbundenen Augen auf dem weißen Sofa in der Hotelsuite, mit der Hand einer unbekannten Frau auf seinem Oberschenkel und einer Flasche Bier im Arm. Aus den tragbaren Marshall-Lautsprechern dröhnt »Highway To Hell« von AC/DC, aber er kann trotzdem die aufgedrehte Stimmung hinter seinem Rücken hören. Seine Kollegen hantieren offensichtlich mit diversen Gegenständen, reißen Klebeband ab und albern herum.

»Bist du gar nicht neugierig?«, fragt die junge Frau neben ihm.

Sie duftet nach einem sommerlichen Parfüm und fährt vorsichtig mit ihren spitzen Nägeln über seinen tätowierten Arm. Er wäre auch gern so aufgekratzt und erwartungsvoll.

Eigentlich sollte er es sein.

In den vergangenen Monaten hatte er sich diese Szene immer wieder vorgestellt. Hatte sich auf dem Tisch in genau dieser Luxussuite in dieser Nacht stehen sehen, Champagnerflaschen schüttelnd und vor Glück, Erleichterung und befriedigten Rachegefühlen brüllend. Er hatte sich den Genuss vorgestellt, wie es sein würde, sein Ziel endlich erreicht zu haben. Diese Band weiter gebracht zu haben, als er es sich hätte vorstellen können. Und zwar in die oberste Liga, wo andere große Bands darum bettelten, die Vorband von ObstiNation sein zu dürfen statt andersherum.

Er will so gerne die Euphorie dieses Erfolgs spüren. Innerlich explodieren. Aber er fühlt sich nur leer. Müde. Genervt.

»Mann, halt fest!«, hört er Wakko hinter sich brüllen.

»Was für ein geiler Schwanz!«, sagt TT Bones beeindruckt.

Rob schließt die Augen hinter seiner Binde. Was hatten sich die beiden kranken Idioten da wieder ausgedacht?

Er nimmt ein paar Schlucke von seinem Bier. Die Silberkette, die zwischen Ohr und Nasenflügel hängt, stößt leise klirrend gegen den Flaschenhals. Am liebsten würde er das Bier hinunterstürzen und sich so schnell wie möglich besaufen, aber nach wenigen Schlucken ist Schluss, als würde das Bier weit oben in der Kehle hängen bleiben und dort herumschwappen.

Sie hatten mehrere Tage am Stück gefeiert. Oder vielmehr die Intensität einer Party verstärkt, die schon seit Monaten im Gange war. Und es war immer noch nicht vorbei. Morgen sollte ein großes Bankett mit allen an der Tour Beteiligten stattfinden. Übermorgen waren die Bandmitglieder Ehrengäste auf einer schicken Rockgala, und am Tag darauf fand irgendetwas auf Long Island statt.

Rob fühlt sich wie in einer angstgetränkten Liedzeile von Marilyn Manson.

We’ve only reached the third day

of a seven day binge

Erneut setzt er die Flasche an die Lippen. Zwingt sich zu weiteren Schlucken und hört dem Lärm hinter sich zu. Auf den Sofas neben ihm lungern Roadies und Tontechniker zusammen mit dem Starproduzenten Stef Wagner und dem Manager Gus Wilsbury herum, außerdem ein paar Aufschneider von der Plattenfirma in Anzug und vier Silikontussis, deren Namen er nicht weiß.

»Hier, Rob. Streck mal eine Hand aus«, hört er Gus sagen.

Rob hebt suchend seine Hand und spürt eine kalte Bierflasche in der Handfläche.

»Oder willst du lieber Schampus haben?«

»Nein, Bier ist okay.«

Gus stößt mit ihm an.

»Auf einen Triple, der sich gewaschen hat«, sagt er.

»Ohne dich wäre das nicht möglich gewesen, das weißt du, oder?«, antwortet Rob.

Gus klopft ihm auf die Schulter, und Rob sieht sein Lächeln und die warmen Augen geradezu vor sich. Wie er sich durch das dünne Haar streicht und seine schlecht sitzenden Chinos hochzieht, bevor er seine beeindruckende Leibesfülle wieder ins Sofa fallen lässt.

Gus Wilsbury, der unermüdliche Manager der Band ObstiNation, das Mädchen für alles. Alleskönner, Ersatzpapa, Therapeut, Finanzchef. Das Über-Ich der Band, der Kitt, der die vier dysfunktionalen Jungs zusammenhielt. Dreiundfünfzig, ursprünglich aus Birmingham. Hat fast die Hälfte seines Lebens auf Tour verbracht und erzählt oft und gerne davon, dass früher alles viel besser, verrückter und lustiger war, als man das auf Tour eingenommene Geld gleich wieder ausgab, statt seinen Lebensunterhalt damit zu finanzieren.

Das bringt die Jungs in der Band regelmäßig zur Weißglut. Vor allem Wakko und TT Bones, die sich die meiste Mühe geben, so wild wie möglich zu sein.

Das Mädchen neben Rob drückt die Lippen an seinen Hals. Reibt und kratzt mit ihren Nägeln fest an seiner Lederhose, wandert langsam zur Leiste hoch. Er befürchtet schon, dass sie seine Hose zerreißt. Zwölfhundert Dollar hat er dafür bezahlt. Sie ist sein Lieblingsstück, aus Chevreauleder, der fein gegerbten Haut einer jungen Ziege, ein Schneider auf dem Sunset Boulevard hat sie für ihn gemacht. Und sie sitzt wie eine zweite Haut.

Die Anlage wird ausgeschaltet, jemand nähert sich von hinten und legt seine knochigen Hände auf Robs Schultern.

»Jetzt darfst du dich umdrehen«, sagt Ahsanullah Sufyan Asif.

Rob nimmt die Augenbinde ab und dreht sich um. Mitten in der Suite steht ein schwankender Wischmopp auf dem Kopf, an dem jemand waagrecht mit Klebeband einen Besen befestigt hat. Das ganze Gebilde ist mit Rosen verziert und hängt an einer Schnur vom Kronleuchter an der Decke.

An den Enden des Besens baumelt je eine Klobrille.

Die drei anderen Bandmitglieder stehen stolz neben ihrem Kunstwerk und sehen Rob erwartungsvoll an.

»Jetzt kannst du dich endlich wie zu Hause fühlen«, sagt Wakko mit einem breiten Lächeln und schiebt sich seine dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht.

Erst da begreift Rob, worum es geht und sinkt zurück aufs Sofa. Verzweifelt schüttelt er den Kopf. Nein, nein, nein. Nicht das jetzt.

Mehrere Hände packen ihn und wollen ihn hochziehen, wogegen er sich wehrt.

»Seit über zwei Jahren warten wir auf den schwedischen Pimmeltanz«, ruft Wakko aufgekratzt.

Jubel und Gelächter von der Runde auf den Sofas.

»Der heißt Froschtanz«, sagt Ahsanullah.

»Sie tanzen um einen Schwanz, das ist das Wichtigste. Das habe ich selbst auf YouTube gesehen. Kinder machen auch mit. Das ist total krank.«

»Darum seid ihr da oben auch alle so sexbesessen«, fügt TT Bones hinzu. »Das kommt davon, wenn man in seiner Kindheit schon einen knallharten Schwanz anbetet, der wie ein Gott tief in dem feuchten, fruchtbaren Boden steckt und dessen Eier mit Laub geschmückt sind und für alle sichtbar in der Luft herumbaumeln.«

Bilder von ihrer ersten Tour tauchen auf. Rob erinnert sich, wie er in einem kleinen Hotelzimmer in einem Holiday Inn, irgendwo in Iowa, plötzlich angefangen hatte, zu dem Mittsommerlied »Små grodorna« – »Kleine Frösche« – zu tanzen, um das Ende der Tour zu feiern, bei der sie in dreizehn US-Staaten aufgetreten waren.

Das Ende der zweiten Tour wurde ebenfalls so begangen, und seitdem hatte man diese Tradition beibehalten. Es war ihm tatsächlich gelungen zu verdrängen, dass es jetzt wieder so weit sein würde. Vielleicht weil dieses Mal alles viel größer war als sonst. Unfassbar viel größer. In dem vergangenen halben Jahr war der Band ObstiNation eine Stadt nach der anderen zu Füßen gelegen. Zuerst die europäischen Konzertstädte wie London, Berlin, Barcelona und Mailand. Dann war es weitergegangen in Asien und Lateinamerika, und am Ende waren sie wieder in die USA zurückgekehrt, um in ausverkauften Arenen in Los Angeles, Las Vegas, Miami und Chicago zu spielen. Und dann der Abschluss, das große Finale: drei ausverkaufte Abende im Madison Square Garden.

Das wollte ich immer erreichen, denkt Rob. Warum kann ich es dann nicht genießen?

Seine Bandkollegen klatschen rhythmisch.

»Tanzen! Tanzen! Tanzen!«

Jetzt lässt er sich doch vom Sofa ziehen, zwingt sich zu einem Grinsen und sagt:

»Okay, okay. Ich mache es. Aber keiner von euch filmt das. Verstanden?«

»Alles in Ordnung, Baby«, beruhigt ihn ein rothaariges Mädchen mit einem kerzengeraden Pony und steckt ihr iPhone in Glitzerhülle demonstrativ in ihre Handtasche. »Wir wollen doch alle mittanzen, beim Pimmeltanz.«

Wakko geht bei dem Lautsprecher in die Hocke und blättert durch die Playlist auf seinem Handy.

Erst ertönt ein Klavierintro, dann stimmt eine Kinderstimme nach zwei Takten ein:

»Små grodorna, små grodorna är lustiga att se …«

Kleine Frösche, kleine Frösche sind so lustig …

Alle in der Hotelsuite klatschen in die Hände, stampfen mit den Füßen und singen die für sie unverständlichen Worte mit. Rob geht zu den in Form geklebten Putzutensilien, die eine Mittsommerstange darstellen sollen, und würde am liebsten einfach das Zimmer verlassen. Aber stattdessen geht er in die Hocke, dreht sich zu den anderen und brüllt:

»Seid ihr bereit, Motherfucker?«

Die anderen grölen und reißen die Arme in die Luft. Rob springt vor und singt mit, während die anderen hinter ihm eine lange Polonaise bilden. Sie hüpfen mit geschlossenen Beinen, die Hände auf dem Rücken verschränkt und singen: »Qu-ack ack ack, qu-ack ack ack, qu-ack ack ack ack aaa …« Ab da entgleist alles, wie es zu so einem Abend vielleicht ja auch gehört. Die Stange kippt um, Wakko und TT Bones begießen sich mit Bier, dann stürzt TT Bones ins Badezimmer, kommt mit einer Flasche Haarspray zurück, hält das Feuerzeug vor den Sprühkopf und zielt mit einer großen...