Im Turm - Roman

von: Josiah Bancroft

Heyne, 2018

ISBN: 9783641226367 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 11,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Im Turm - Roman


 

1

»Der Turm von Babel ist vor allem berühmt für die prächtigen Dinge aus Seide und die überwältigenden Luftschiffe, die hier produziert werden, doch Besucher werden noch andere, nicht greifbare Exportgüter entdecken. Schrullen, Abenteuer und Liebe sind die wahren Handelsgüter des Turmes.«

Allgemeiner Führer durch den Turm von Babel, I.V

Die Reise von der Küste in die Wüste, in der der Turm von Babel wie ein Stoßzahn aus dem Kiefer der Erde aufragte, dauerte mit dem Zug vier Tage. Zuerst waren sie durch Weideland gefahren, auf dem verstreut Rinder und reizlose Dörfer standen, dann hatte sich der Zug über einige mit Schnee überzogene Berge gekämpft, auf denen Kondore in Nestern so groß wie Heuhaufen brüteten. Schon hier waren sie weiter weg von daheim als je zuvor. Sie fuhren durch schiefergraue Gebirgsausläufer, die ihn an ein Feld voll zertrümmerter Tafeln erinnerten, durch Zypressenhaine, die für sie wie offene Schirme aussahen, und kamen schließlich in dem ausgedörrten Talkessel an. Der Boden hatte die Farbe von verrosteten Ketten, und alles war von rotem Staub überzogen. Die Wüste war jedoch alles andere als eine Wüstenei. Ganze Karawanen begleiteten den Zug, jede ein sich dahinschlängelndes Band aus Rädern, Hufen und Füßen. Im Lauf des Morgens verdichtete sich der Verkehr zu einer so festen Masse, dass der Zug nur noch im Schritttempo fahren konnte. Ihr Waggon schob sich durch die lärmende Woge aus Kutschen und von Ochsen gezogenen Karren, durch die Touristen, Pilger, Migranten und Händler aus jedem Teil der weiten Nation von Ur.

Thomas Senlin und Marya, seine frisch angetraute Ehefrau, musterten die menschliche Menagerie durch das offene Fenster ihres sonnigen Schlafwagens. Ihre porzellanweiße Hand lag zart auf seinen langen Fingern. Eine kleine Gruppe Soldaten mit rotem Uniformbesatz auf der Brust ritt langsam vorbei und drängte dabei eine Familie mit karierten Kopftüchern auf Kamelen auseinander. Das Trompeten der Elefanten übertönte das Rattern des Zuges, und hier und da schwebten Luftschiffe über ihnen im heißen Wind unaufhaltsam auf den Turm von Babel zu. Die Ballone, die die Schiffe in der Luft hielten, waren so farbenfroh wie Maibäume.

Seit sie auf den Turm zusteuerten, war es den Senlins nicht gelungen, die hoch aufragende Spitze von ihrem Fenster aus zu sehen. Nichtsdestotrotz beschrieb Senlin sie äußerst anschaulich. »Es wird viel darüber diskutiert, wie viele Ebenen es eigentlich gibt. Manche Gelehrte gehen von zweiundfünfzig aus, andere von sechzig. Vom Boden aus lässt sich das ganze Ausmaß nicht erkennen«, sagte er und fuhr damit mit seinem Vortrag fort, den er seiner jungen Frau bereits die ganze Reise über gehalten hatte. »Einige Männer, vor allem Luftfahrer und Mystiker, sagen, dass sie die Turmspitze gesehen hätten. Natürlich kann keiner mit einem Beweis für diese Behauptung aufwarten. Manche Abenteurer behaupten sogar, dass der Turm immer noch weiter in die Höhe gebaut wird, wenn man das denn glauben kann.« Diese trivialen Fakten gaben ihm Halt, wie Fakten generell. Thomas Senlin war ein reservierter und von Natur aus schüchterner Mann, der sein Selbstvertrauen aus Plänen, einer gesunden Lebensweise und schriftlichen Informationen bezog.

Marya nickte pflichtbewusst, war jedoch offensichtlich von der farbenprächtigen Menge vor dem Fenster abgelenkt. Ihre großen grünen Augen zuckten aufgeregt von einer exotischen Zerstreuung zur nächsten: Was ihrem Mann kaum auffiel, saugte sie in sich auf. Senlin wusste, dass Marya im Gegensatz zu ihm Spektakel und Menschenaufläufe belebend fand, auch wenn es davon zu Hause herzlich wenig gab. Das Treiben vor ihrem Fenster war nicht mit Isaugh zu vergleichen, einem salzgepeitschten Fischerdorf, das mittlerweile viele Hundert Meilen hinter ihnen lag. Isaugh war die einzige Heimat, die sie kannte, abgesehen von dem Musikkonservatorium für junge Damen, das sie vier Jahre besucht hatte. Isaugh hatte zwei Wirtshäuser, einen Whist-Klub und ein Rathaus, das gelegentlich auch als Ballsaal fungierte. Eine Metropole konnte man den Ort ganz gewiss nicht nennen.

Marya wich erschrocken zurück, als ein Kamel seinen Kopf unerwartet zu ihr drehte. Senlin versuchte mit gutem Beispiel voranzugehen und sie zu beruhigen, doch auch ihm entfuhr ein leiser Schrei, als das Kamel schnaubte und warmen Speichel auf sie verspritzte. Senlin räusperte sich, frustriert, weil er die Fassung verloren hatte, und scheuchte das Tier mit seinem Taschentuch weg.

Das Teetablett, das ihnen zu ihrem Frühstück serviert worden war, klirrte, Löffel zitterten in leeren Tassen, als der Zugführer die Bremsen betätigte und der Zug beinahe zum Stehen kam. Thomas Senlin hatte während seiner gesamten Berufslaufbahn auf diese Reise hingearbeitet und gespart. Er wollte die Wunder sehen, über die er so viel gelesen hatte, und auch wenn es eine Belastungsprobe für seine Nerven werden würde, hoffte er, seine Haltung und sein Intellekt würden ihn das Abenteuer überstehen lassen. Sein größtes Ziel war, den Turm von Babel zu besteigen, und wenn auch nur ein kleines Stück, und er war rechtschaffen aufgeregt. Nicht dass man es ihm angemerkt hätte: Er hatte es sich zur Regel gemacht, immer eine stoische Fassade an den Tag zu legen und den Aufruhr an Gefühlen in seinem Inneren zu verbergen. So verhielt er sich im Klassenzimmer, und er wusste schon gar nicht mehr, wie er sich noch verhalten könnte.

Ein Luftschiff zog so tief über den Köpfen der Menge hinweg, dass die Halteseile die Menschen berührten. Senlin fragte sich, warum es so weit abgesunken war oder ob es gerade erst aufstieg. Marya schlug die Hand vor den Mund und erstickte ein Lachen. Thomas riss den Mund auf, als er sah, wie der Kapitän des Luftschiffes seiner Mannschaft wild gestikulierend bedeutete, einzufeuern und die Halteseile einzuholen. Ein junger Mann bekam eines der losen Seile zu fassen, und Panik brach aus, als der abenteuerlustige junge Kerl über die Menschenmenge emporgehoben wurde. Seine Füße berührten gerade noch eine Kiste auf einem Wagen, bevor er in die Höhe gerissen wurde und außer Sicht geriet.

Vom Boden aus wirkte die Szene beinahe komisch, doch Senlins Magen verkrampfte sich, als er sich vorstellte, wie der junge Mann sich fühlen musste, weit oben über der sich ausbreitenden Menge, allein auf die Kraft seiner Arme angewiesen. Der Vorfall war tatsächlich so bizarr gewesen, dass Senlin beschloss, ihn kurzerhand zu verdrängen. Der Allgemeine Führer hatte den Markt ein raues Pflaster genannt. Das war vielleicht sogar noch eine Untertreibung.

Er hätte nie gedacht, dass er die Reise in seinen Flitterwochen unternehmen würde. Genauer gesagt, hätte er nie gedacht, eine Frau zu finden, die ihn heiraten würde. Marya war zwölf Jahre jünger als er, doch da er selbst Mitte dreißig war, fand Senlin ihre vor Kurzem geschlossene Ehe wenig bemerkenswert. In Isaugh hatte sie allerdings für einige hochgezogene Augenbrauen gesorgt. Das Dorf drängte sich an die Klippen am Niromeer, und seine Bewohner misstrauten allem, was nicht dem gewohnten Rhythmus der Gezeiten und der Fischerei entsprach. Doch als Rektor – und einziger Lehrer – der örtlichen Schule schenkte Senlin dem Gerede keine Beachtung. Davon hatte er bereits genug gehört. Seiner Meinung nach war Gerede das Theater der Ungebildeten, und er hatte nicht geheiratet, um für Gesprächsstoff an den Frühstückstischen des Dorfes zu sorgen.

Nein, er hatte rein aus praktischen Gründen den Bund der Ehe geschlossen.

Marya war eine gute Partie. Sie war gutmütig und belesen; nachdenklich, aber nicht grüblerisch; mit guten Manieren, ohne unnahbar zu sein. Sie tolerierte seine langen Studierzeiten und seine Schweigsamkeit, die andere oft für Gleichmut hielten. Er dachte, sie hätte ihn geheiratet, weil er freundlich war, ausgeglichen und in sicherer Anstellung. Er verdiente fünfzehn Schekel in der Woche, im Jahr dreizehn Minas. Beileibe kein Vermögen, aber ausreichend für ein bequemes Leben. Wegen seines Aussehens hatte sie ihn bestimmt nicht geheiratet. Seine einzelnen Körperteile waren einigermaßen ansprechend, doch zusammengenommen entstand ein etwas langgezogener und schlecht proportionierter Eindruck. Sein Spitzname unter seinen Schülern war »der Stör«, weil er so dünn und groß und knochig war.

Marya hatte natürlich auch ein paar ungewöhnliche Angewohnheiten. Sie las Bücher, während sie in der Stadt herumlief – wovon viele zerrissene Röcke und aufgeschlagene Knie zeugten. Sie hatte keine Angst vor Höhen und stieg manchmal aufs Dach, um die Segel der einfahrenden Schiffe am Horizont zu beobachten. Sie spielte wunderschön, aber auch sehr energisch Klavier. Sie sang wie eine wahnsinnige Meerjungfrau, während sie Balladen und Reels in die Tasten hämmerte und reihenweise verstimmte Klaviere zurückließ. Dennoch bewunderte man sie für ihre Eigenheiten. Die Stadtbewohner fanden sie hinreißend und baten sie oft, in den Wirtshäusern zu spielen. Nicht einmal das unerbittliche Grau des Winters in Isaugh konnte ihre Lebhaftigkeit dämpfen. Ihre Hochzeit mit dem Stör war daher gelinde gesagt eine Überraschung.

Heute trug Marya ihre Reisekleidung: einen knielangen Khaki-Rock und eine weiße Bluse mit einem latent exzentrischen Tropenhelm, der auf ihren kastanienbraunen Locken saß. Sie hatte ihn rot gefärbt, wovon Senlin nicht gerade begeistert war, doch sie hatte es ihm schmackhaft gemacht, indem sie ihm erklärte, dass sie so viel leichter in einer Menschenmenge zu finden sei. Senlin trug einen grauen Anzug aus dünnem Cord, den er eigentlich für zu leger befand, selbst für die Reise, doch sie hatte gesagt, er sei modisch und ein bisschen verrückt, und war das denn nicht der Sinn einer...