Das große Glück mag kleine Fehler - Roman

von: Anna Daniels

Heyne, 2018

ISBN: 9783641219505 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Das große Glück mag kleine Fehler - Roman


 

1

Nichts holt einen schneller auf den Boden der Tatsachen zurück als ein Besuch beim Steuerberater. Gerade habe ich Todd Doherty eine Dreiviertelstunde lang Zahlen von ausgeblichenen Belegen angesagt, und er hat mir versprochen, meine Steuererklärung zeitnah zu erledigen, damit ich nicht so lange von zwei Dritteln von nichts leben muss. Super peinlich, wo Todd und ich doch zusammen auf der Highschool waren. Wahrscheinlich streicht er ein sechsstelliges Gehalt ein, während er nun ganz genau weiß, dass ich im Moment noch nicht mal sechs Dollar zusammenkratzen könnte.

»Fatal«, hat Todd meine finanzielle Situation genannt. Immerhin hat er dabei entschuldigend gelächelt. Das letzte Mal, dass ich aufgrund meiner Finanzen gelächelt habe, ist schon ziemlich lange her. Mein treuer alter Corolla, mit dem ich gerade zum Haus meiner Eltern in Rockhampton fahre, ist mein einzig wertvoller Besitz – na ja, der und meine Anne-auf-Green-Gables-Sammlung. Und meine Hündin Glenda, ein Kelpie. Wenn ich meiner besten Freundin Rosie von meinem Vormittag erzähle, wird sie sich totlachen.

Auf Rockhamptons breiten Straßen fühle ich mich fast wie die Einzige beim Autoscooter. Hach, Rocky. Wir sind berühmt für diese breiten Straßen, ebenso wie für die Tatsache, dass in der Mitte davon Züge fahren. Und natürlich für die Bullenskulpturen aus Glasfaser, die die Kreisel zieren – wie es sich für die Rinder-Hauptstadt Australiens gehört.

Apropos Züge, gerade rauscht einer neben mir her. Ich glaube, Rocky ist der einzige Ort auf der Welt, wo sich Züge einfach so von hinten anschleichen und die Straße mit dir teilen können. Eben standen sie noch alle Cappuccino schlürfend im Depot, und dann wollen sie auf einmal unbedingt mit zu deinem Lieblingschinesen Wah Hah Chinese.

Als ich am Paradise Plaza vorbeifahre, werde ich ganz nostalgisch. Ich bin schon fast zu Hause, und an jeder Ecke winkt eine Erinnerung. Da ist der Hungry Jack’s, wo früher ein Secondhandladen war, dann die Gasse neben dem Kino, wo wir als Teenies unsere West Coast Cooler zischten, und Holy Mackerel, der Fish-and-Chips-Laden für freitagabends. Die neuen Inhaber sind wohl neulich verknackt worden, weil sie Drogen über die Ladentheke verkauft haben. Krass, oder? »Ich nehm zweimal Backfisch und für fünf Dollar Pommes.« Zwinker, zwinker.

Trotzdem gibt es nirgendwo so viele grundanständige Menschen, die dir ihr letztes Hemd gäben und deswegen nur noch in ihren Nylon-Footballshorts rumlaufen würden wie in Rockhampton. Mum und Dad sind ein typisches Beispiel, auch wenn Dad Gott sei Dank keine Footballshorts trägt. Vor vierzig Jahren haben sie zusammen All About Town, eine Kombi aus Zeitschriftenladen und Abendkleidungsgeschäft aufgemacht. Erstaunlicherweise funktionierte die Mischung. Vor anderthalb Jahren verkauften sie den Laden an ein Paar aus Newcastle, das versprach, das Geschäft so weiterzuführen wie bisher. Innerhalb von sechs Wochen war der Laden einem Waxingstudio mit dem Namen Gone Bush gewichen.

Als ich jetzt daran vorbeifahre, fallen mir lauter Geschichten von früher ein. Lenny, Max und ich sind quasi im All About Town aufgewachsen. Ich habe schon Gold-Lotterie-Tickets verkauft, lange bevor ich es vom Gesetz her durfte, und meine Brüder waren sehr beliebt in der Schule, da sie leicht an gewisse Magazine herankamen. Mich reizten nicht so sehr die Magazine, als vielmehr die Süßigkeiten, aus denen ich Gewinn schlagen wollte. Ich schenkte sie den Jungs, in die ich verknallt war. Eines Tages sagte Mum zu Dad: »Ich versteh das nicht, Brian, die Mint Patties sind schon wieder alle!« Dad sah mich schief an und meinte: »Ich kann dir sagen, wo die abgeblieben sind, Denise. Bei Paddy Parker, Paddy Wyatt und Paddy Sadler. Patties für die Paddys.« Meine Brüder brachen in Gelächter aus, ich in Tränen. Dann flüchtete ich ins Büro.

Mein Dad war schon immer sehr direkt. Manchmal ist es geradezu peinlich. Letzte Woche erst war ich mit Mum und Dad bei Bits ’n’ Pizzas, wo sich immer der halbe Ort trifft, und Dad begrüßte einen Bekannten mit den Worten: »Da ist ja der alte Doug McRae – ich dachte, der wär längst tot!«

Auch mit unerwünschten Ratschlägen hält er sich nicht zurück. Ärgerlicherweise trifft er dabei meist den Nagel auf den Kopf. Manchmal sieht er die Dinge allerdings ein kleines bisschen zu einfach. Einmal, als Mum ihn ins Ballett mitgeschleppt hatte, fragte er, wann denn der Gesang losginge. Als Mum ihm erklärte, dass im Ballett nicht gesungen würde, meinte er: »Ich kann dir jetzt schon sagen, damit werden die keinen Erfolg haben.«

Und letzte Woche, als ich ihm erzählte, wie viel der neue Automechaniker in Brisbane für die Wartung meines Corolla haben wollte, sagte er sofort: »Maden leben nicht nur im Garten, meine Liebe!«

Wenn Dads Denken schwarz-weiß ist, dann ist Mums deutlich farbenreicher. Wahrscheinlich passen sie deswegen so gut zueinander, sie gleichen sich aus. Wobei Mum in Sachen Schrullen Dad in nichts nachsteht. Ich weiß noch, wie sie mit uns drei Kindern auf der Rückbank des Commodore durch Rockys breite Straßen raste und uns anschrie, endlich mit dem Streiten aufzuhören. Dann hielt sie vor der St. Joseph’s Cathedral, und wir marschierten hinter ihr her zum Sonntagsgottesdienst, wo sie vom Lesepult aus in ihrer »Kirchenstimme«, wie wir sie nannten, aus der Bibel vorlas. Nach dem Gottesdienst stritten wir uns im Commodore sofort weiter.

Lenny und Max sind inzwischen beide aus Rocky weggezogen, aber immerhin ist Rosie, meine schräge beste Freundin aus der Grundschule, noch hier. Rosie ist gerade die Einzige, die mich vorm Durchdrehen bewahrt – sie schafft es immer, mich aufzumuntern.

Sie will heute Nachmittag vorbeikommen, fällt mir ein. Schlagartig bessert sich meine Laune. Einer ihrer Patienten hat ihr offenbar erzählt, dass Mums und Dads neue Nachbarn diese Woche einziehen, und jetzt ist sie neugierig. Wir beide versuchen schon die ganze Zeit herauszufinden, wer das Haus gekauft hat, doch nicht mal mein Vater, der inoffizielle Bürgermeister von Rockhampton, hat eine Ahnung.

Wenn Rosie und ich nicht gerade Nachbarschaftswache spielen, halte ich mich diszipliniert an die Schreibroutine, die ich mir die letzten zehn Monate verordnet habe: Ich wache auf, frühstücke, laufe mit Glenda an der Yeppen Lagoon, dusche und schreibe drei Stunden, bevor ich mit Mum das Mittagessen bespreche … das war’s auch schon. Mein strenger Tagesablauf scheint zu funktionieren, denn ich bin schon fast fertig mit Diamanten im Staub, meinem mitreißenden Mehrgenerationen-Roman über die Pionierzeit des Edelsteinabbaus im hinteren Queensland.

Ich will den Roman dieses Jahr noch zu Ende schreiben. So kann ich auch meine Entscheidung von vor zwölf Monaten rechtfertigen, mein semiglamouröses Leben als Fernsehreporterin in Melbourne hinter mir zu lassen und nach Port Douglas zu ziehen. Meinen Freundinnen und Kollegen in Melbourne gegenüber begründete ich es damals noch mit dem Wetter und dem weiten Arbeitsweg.

»Es ist einfach zu kalt hier unten«, erklärte ich meiner fassungslosen Chefin, die wissen wollte, warum ich aufhörte. »Ich komme aus Queensland! Ich ertrage diese Winter einfach nicht!«

Tief in meinem Herzen wusste ich natürlich, dass ich Melbourne nur deswegen verließ, weil ich eindeutig noch in meinen Exfreund Jeremy verliebt war und ich unserer Beziehung neues Leben einhauchen wollte. Doch als ich ihm drei Monate nach unserer Trennung in den äußersten Norden von Queensland folgte, wo er aufgrund eines neuen Jobs hingezogen war, war es offensichtlich, dass er keine Zukunft mehr für uns sah. Kurz darauf fand er prompt die Liebe seines Lebens.

Von Herzschmerz benebelt hielt ich es noch ganze acht Wochen in Port Douglas aus und übernahm immer wieder Jobs für WIN TV, bevor ich über den Bruce Highway nach Süden flüchtete und wieder bei Mum und Dad in Rocky einzog, um meine Wunden zu lecken.

Als ich in die Auffahrt zum Haus meiner Eltern einbiege, bin ich erleichtert, dass sich mein Herz beim Gedanken an Jeremy nicht mehr jedes Mal anfühlt, als würde es ausgewrungen. Stattdessen durchlebe ich jetzt die emotionale Berg-und-Tal-Fahrt: Im einen Moment bin ich überzeugt, über ihn hinweg zu sein, im nächsten habe ich totalen Liebeskummer und ziehe alle um mich herum mit meinem Katzenjammer runter. Ich kultiviere den ersten Zustand, indem ich Facebook, Alkohol und alle Leute, die Jeremy nebenbei erwähnen könnten, meide. Innerhalb der tröstenden Grenzen von Rocky hebt sich langsam die schwere Trauerwolke, und ich kann den Kummer, an den ich mich die letzten Monate geklammert habe, loslassen.

Ich steige aus dem Auto, und Glenda kommt schwanzwedelnd auf mich zugelaufen. »Hi, Süße!«, sage ich und umarme sie. Sobald ich sie loslasse, läuft sie zielstrebig weiter und blickt sich am Zaun nach mir um. Scheinbar ist sie gar nicht meinetwegen so aufgeregt, sondern wegen der zwei Männer in der Auffahrt nebenan. Ich kann sie kaum davon abhalten, über den Zaun zu springen und die beiden abzuschlabbern.

Als ich es schließlich geschafft habe, Glenda mit Leber-Leckerlis ins Haus zu locken, rufe ich: »Hey, Mum, sieht aus, als hätten wir endlich neue Nachbarn.«

Keine Antwort von Mum, die ich mit Schlagzeugsticks in den Händen vor dem Fernseher vorfinde, wo sie aufmerksam einem afrikanischen Bongo-Trommler zuschaut. Seit dem Verkauf von All About Town fängt Mum ein seltsames Hobby nach dem anderen an, und afrikanisches Trommeln scheint...