Bergkristall 299 - Heimatroman - Im Dorf hieß sie nur Gänseliesl

von: Carolin Ried

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2017

ISBN: 9783732556946 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Bergkristall 299 - Heimatroman - Im Dorf hieß sie nur Gänseliesl


 

„Wulle-wulle!“ Anja Lobach fragte sich immer wieder, weshalb Gänse auf diesen Lockruf reagierten, die Hendln aber auf „Putt-putt“ oder ähnliche alberne Wortschöpfungen, was nicht besagte, dass „Wulle-wulle“ weniger albern war.

Was die Gänse betraf – diese hier vom Billinger-Hof – so folgten sie auch jetzt wieder schnatternd Anjas Ruf. Mit erwartungsvoll gereckten Hälsen kamen sie angewatschelt, an der Spitze wie immer der Wullerich. So hatte Anja den intelligenten, zutraulichen Ganter getauft.

Seine Vorzüge, wie auch die seiner Artgenossen, wären garantiert auf dem Hof ihres Stiefvaters ohne Anja unentdeckt geblieben. Wullerich hätte sein Geheimnis irgendwann mit in die Bratpfanne genommen. Dank Anja aber schaute man ihn und sein Gefolge doch schon etwas respektvoller an. Die „neue“ Tochter des Bauern hatte ihn und seine Hofleut überzeugt – Gänse waren keinesfalls dumm. Man musste sich nur die Mühe machen, sie genau zu beobachten.

Anja hatte dies getan, wie sie sich auch mit allen anderen vier- und zweibeinigen Hofbewohnern befasst und befreundet hatte, nachdem sie vor zwei Monaten aus ihrer Heimatstadt Passau hierher nach Rehfeld gekommen war, das in der Nähe von Bad Tölz lag.

Passau war eine interessante Stadt. Doch Anja verspürte kein Heimweh. Sie pries die Entscheidung ihrer Mutter, die den begüterten Bauern Arnold Billinger geheiratet und sie mit hierhergenommen hatte. Der neue Ehemann war durchaus bereit gewesen, eine zwanzigjährige Stieftochter mitzuheiraten. Anja sollte ihn sogar Vater nennen. Ihr leiblicher Vater war seit achtzehn Jahren tot.

„Aber Wullerich! Doch net so stürmisch!“

Kaum konnte sich Anja der nimmersatten, krakeelenden Gänseschar erwehren. Der Umgang mit den Tieren machte ihr Freude, besonders Wullerichs Anhänglichkeit, die sich auch jetzt wieder zeigte. Dicht drängte er sich an sie, ließ sich den Kopf kraulen und rieb den Hals schmeichelnd an ihren Waden.

„Da schau her! Gänseliesl in voller Aktion! Grüß Gott!“

So tönte plötzlich eine angenehme männliche Stimme über den Zaun, der die Gänsewiese und den Garten umgab. Und diese Stimme gehörte Thomas Waldhofer, einem jungen Schmied. Er schaute so aus, wie man sich einen Schmied eben vorstellte, groß, sehnig, muskulös. Außerdem war er sehr attraktiv, so, wie sich Anja immer einen Schmied vorgestellt hatte. Wieso, wusste sie selbst nicht.

„Grüß Gott!“, erwiderte sie zurückhaltend.

Gut ausschauenden jungen Burschen musste man grundsätzlich zurückhaltend begegnen. Sonst sah es ja so aus, als sei man beeindruckt!

„Sie nehmen’s doch net übel, wenn ich so einfach ‚Gänseliesl‘ sag?“

Der junge Mann lehnte sich mit den Armen auf den Zaun, ganz offensichtlich zu einem Schwatz aufgelegt. Sonst hatte er es immer nur bei seinem Gruß bewenden lassen.

„Warum sollt ich ‚Gänseliesl‘ übel nehmen? Diesen Spitznamen hab ich doch hier im Dorf schon lange weg. Aber die Leut meinen’s net bös. Geh, Wullerich, jetzt ist’s genug.“

Der Ganter wollte gar nicht von Anja ablassen, ebenso sein Anhang. Nur mit erheblichem Stimmaufwand konnte sie das Geschnatter übertönen.

„Nein, bös meinen die Leut das natürlich net“, bestätigte der junge Mann. „Eher im Gegenteil, als Kosenamen! Sie sind den Rehfeldern sehr sympathisch. Wissen Sie auch, weshalb?“

Mit „Ksch-Ksch“ und scheuchenden Handbewegungen gelang es Anja endlich, sich ihre gefiederten Freunde vom Hals zu schaffen. Sie stoben auseinander, sammelten sich wieder und wackelten in Richtung des kleinen Teichs davon.

„Vielleicht mögen mich die Leut, weil ich von der Stadt weggegangen bin, um hier auf dem Land zu leben, und weil sie merken, wie wohl ich mich hier fühl.“

„Das wär der eine Grund. Und der zweite?“

„Ich weiß net.“

Anja bereute plötzlich, dass sie Wullerich und seine „Familie“ nicht als „Schutztruppe“ weiter um sich geduldet hatte. Eine längere Unterhaltung mit Thomas wäre damit unmöglich gewesen. Ihr Gesprächspartner machte sie verlegen mit seinem bewundernden Blick. Ja, es war Bewunderung, was sie in seinen ausdrucksvollen Augen las.

Bisher hatte sie ihn, obwohl er eine beachtliche Erscheinung war, wenig beachtet. Nun bekam sie einen Eindruck von ihm, den Eindruck von einem charmanten Burschen.

„Und die Leut“, mutmaßte sie weiter, „rechnen’s mir vielleicht auch an, dass ich ein Herz hab für solche Viecherln, um die sich sonst niemand besonders kümmert, zumindest so lang sie noch net mit Apfel gefüllt sind. Die armen Dinger!“

„Hm, na ja.“ Thomas wiegte den Kopf. „So ungefähr haben Sie’s getroffen. Die Rehfelder denken aber weniger an das traurige Schicksal dieser Viecherln. Sie denken mehr daran, dass ein Madel aus der Stadt überhaupt in der Landwirtschaft mit anpackt. Noch zumal es gar net nötig wär, weil der Billinger-Bauer schließlich genügend Leut hat.“

„Ja, aber deswegen kann ich doch net die Händ in den Schoß legen. Wenn der Vater schon so großzügig ist, mich aufzunehmen – als Anhängsel – dann ist’s doch selbstverständlich, dass ich mich dafür auch ein bisserl nützlich mach auf seinem Hof. Das heißt, von nützlich kann ja bisher noch net die Red sein. Noch wurstel ich ja nur herum und richte Schaden an. Aber es wird alle Tag besser. Was gibt’s da zum Lachen?“ Anjas große Augen funkelten. „Sie halten’s wohl net für möglich, dass sich ein Madel aus der Stadt in die landwirtschaftliche Arbeit hineinfindet?“

„Doch, das halt ich für möglich! Wenn es sich so bemüht wie Sie! Und genau das ist’s ja, was den Leuten hier in Rehfeld so imponiert. Der zweite Grund für die Sympathien! Ich hab über was ganz anderes lachen müssen. Über das ‚Anhängsel‘!“

Thomas’ Blick ruhte sekundenlang auf der zierlichen Gestalt des Madels, zu dem Gänseliesl nur insofern passte, als es sich eben so eifrig mit diesem Geflügel beschäftigte. Ansonsten stellte man sich unter einer Gänsehüterin eher einen barfüßigen, blondbezopften Trampel aus uralten Bauerngeschichten vor, mit Strickstrumpf und Schürze.

Angetan mit sportlicher weißer Hemdbluse und modernem blauer Jeans, entsprach diese „Gänseliesl“ aber ganz und gar dem Bild der Städterin von heute. Und ganz und gar auch dem Bild, das durch so manche männliche Träume geisterte! Thomas hätte auf Anhieb diejenigen Rehfelder nennen können, in deren Köpfen Gänseliesl schon längst herumspukte. Es waren nicht wenige!

„Anhängsel? War das so ein lachhafter Ausdruck?“

„Auf Sie bezogen – schon!“ Thomas lehnte immer noch gemütlich auf dem Zaun. Es schien, als wollte er hier den ganzen Samstagabend verbringen. „Wer sollt denn wohl was gegen ein solches Anhängsel einzuwenden haben?“

So, nun fing er auch noch mit faden Schmeicheleien an! Aber wieso eigentlich fad? Anja wurde einer Antwort enthoben.

Der Billinger-Hof lag am Ende der Dorfstraße, die sich als befahrbarer Feldweg fortsetzte. Und auf diesem Weg näherte sich ein Mädchen auf dem Radl. Katrin Riedel, die jüngere Tochter der Kramers. Sie arbeitete in Bad Tölz als Fotolaborantin und war die einzige Rehfelderin, deren Sympathien sich Anja nicht erfreute. Warum dieses Madel ihr von Anfang an schon die kalte Schulter zeigte, war ihr ein Rätsel. Noch!

Der Blick, den Anja jetzt von ihr auffing, als sie neben dem jungen Schmied aus dem Sattel sprang, war feindselig und verächtlich.

„Hallo! Grüß dich, Thomas!“

Er wurde mit einem koketten Lächeln bedacht, Anja mit einem kühlen Nicken.

„Guten Abend, Katrin!“ Die Miene des jungen Mannes drückte nicht gerade übermäßiges Wohlwollen aus.

Anja wunderte sich, Katrin Riedel hätte, was ihr Äußeres betraf, Wohlwollen verdient. Sie war zwar etwas füllig, aber sie hatte ein ansprechendes, wenn auch etwas puppenhaftes Gesicht und trug das rötliche Haar kurzgeschnitten und glatt als Ponyfrisur.

„Gut, dass ich dich treff, Thomas! Ich hätt dich sonst eh nachher angerufen. Ich hab nämlich zwei Karten für das Popkonzert in Bad Tölz erwischen können. Natürlich hab ich dabei an dich gedacht. Du magst doch diese Musik, und wenn du heut Abend nix anderes vorhast, dann …“

„Hab ich aber schon, Katrin! Und ich kann noch net einmal sagen ‚leider‘, sondern vielmehr ‚erfreulicherweise‘! Anja hat nämlich gerad eben meine Einladung angenommen zum Frühlingstanz beim Geißenwirt!“

***

Gusti, die betagte Wirtschafterin, die den Junggesellenhaushalt des Billinger-Bauern bis vor zwei Monaten versorgt hatte, teilte sich die Aufgaben jetzt mit der neuen Bäuerin, Anjas Mutter Margret. „Bäuerin“ wurde diese respektvoll genannt, obwohl sie wie ihre Tochter keinen blassen Schimmer von der Landwirtschaft hatte.

Dass sich der Billinger gleich zwei weibliche Stadtleut auf den Hof geholt hatte, war zuerst von den Rehfeldern und dem Personal des Bauern kopfschüttelnd belächelt worden. Das hatte sich inzwischen gegeben. Es ließ sich mit den beiden Städterinnen bestens auskommen. Und dem bislang so ehescheuen, wählerischen Billinger war das späte Glück zu gönnen. Besser eine Frau aus der Stadt als einsam bis ans Lebensende!

Gusti empfand die Aufgabenteilung als willkommene Entlastung. Und so herrschte auf dem Billinger-Hof rundum Zufriedenheit.

Gusti hatte eben den Hof verlassen, um im Dorf einen Besuch zu machen. Die beiden jungen Mägde und die drei Knechte waren ebenfalls heut am Samstagabend ausgeflogen. Nur die Familie saß jetzt nach...