Aasplatz - Eine Unschuldsvermutung

von: Manfred Wieninger

Residenz Verlag, 2018

ISBN: 9783701745784 , 264 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 16,99 EUR

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Aasplatz - Eine Unschuldsvermutung


 

Der Wall


Für die Lektüre dieses Romans ist es wahrscheinlich ausreichend, wenn man sich den Tatort auf einer Karte ansieht. Jennersdorf also. 46 Grad 56 Minuten östlicher Länge, 16 Grad 8 Minuten geografischer Breite nach Greenwich. Zur Tatzeit, also Ende Februar, Anfang März 1945, ist Jennersdorf ein Teil des Gaues Steiermark, Kreis Feldbach. Ein nicht sehr imposantes, sondern eigentlich eher armseliges, größeres Reihendorf, vier Kilometer westlich der ungarischen Grenze und 140 Kilometer Luftlinie von Wien sowie eine unbekannte Anzahl von Meilen von Milwaukee entfernt. In den beiden letztgenannten Städten dürften in den letzten Jahrzehnten des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ebenso viele Jennersdorferinnen und Jennersdorfer gelebt haben wie in Jennersdorf selbst. Nicht einmal offizielle Straßennamen gibt es im Ort (geschweige denn Trinkwasserleitungen und Abwasserkanäle oder eine richtige Müllabfuhr). Nur die Gemeindestraßen nach St. Martin, Neumarkt, Grieselstein, Henndorf und Hohenbrugg sind befestigt, also geschottert. Die übrigen Verkehrswege sind bei heftigeren Niederschlägen fast unpassierbar. Jennersdorf, und das ist beileibe kein Vorwurf, ist 1945 jedenfalls – mit Verlaub – so urban wie ein Kuhstall. Die meisten Einwohner sind Kleinbauern, Bauern, Knechte und Mägde (neben einer dünnen Schicht an Gewerbetreibenden und Beamten). Das Raabtal, in dem Jennersdorf liegt, hat geologisch nur Schotter und Sand sowie schlecht durchlüftete, saure Ackerkrumen zu bieten. Im Talboden, auf den ehemaligen Auflächen der Raab, ist es zu feucht, auf den Hügeln über dem Tal mit ihren lehmbedeckten Schotterterrassen, zum Beispiel auf dem sogenannten Tafelberg nördlich von Jennersdorf, ist es wiederum zu trocken für wirklich ertragreichen Acker- und Weinbau. Kein Wunder, dass die meisten Jennersdorfer Kleinhäusler sind. Im lokalen Dialekt nennen sich die alteingesessenen Bewohner selbst Heanzen, der Markt Jennersdorf liegt im Heanzenland.

Jennersdorf also. Ein von den Behörden des Königreiches Ungarn nach Kräften, aber bei Weitem nicht vollständig magyarisiertes Bauerndorf, das 1921 unvermutet der Republik Österreich zugeschlagen wurde, was ab Ende August desselben Jahres zu heftigen Scharmützeln zwischen ungarischen Freischärlern auf der einen Seite und österreichischen Gendarmen sowie Jennersdorfer Anschlussbefürwortern auf der anderen Seite führte. Eine kleine alliierte Militärkommission mit italienischen, französischen und englischen Offizieren im Ort war wochenlang interessierter, aber machtloser Zuschauer der bewaffneten Auseinandersetzungen, als deren Höhepunkt die durch Handgranaten erfolgte Sprengung des Bahnwärterhäuschens im Laritzgraben gelten kann, die etwa ein Dutzend darin befindlichen Ungarn das Leben kostete. Ein paar Monate später war Jennersdorf ein burgenländisch-österreichischer Grenzort mit einer Bezirkshauptmannschaft, einem Bezirksgericht, einem halben Bataillon Reichswehr, Alpenjäger, und 2200 Einwohnern, die den Ersten Weltkrieg, die spanische Grippe und alles andere überlebt hatten. Der erste Richter, ein gewisser Dr. Kreissl, der sein Gericht zunächst in der Küche und einem der Zimmer eines Privathauses etabliert hatte, schrieb Ende Jänner 1922 an seine vorgesetzte Dienststelle: »Um sofortige Übersendung der nötigsten Einrichtungsgegenstände, Tische, Sesseln, Stellagen, Kästen, Waschtische, Geschirr, Lampen, Tinte, Schreibrequisiten (hier nicht erhältlich), Kleiderhaken, Bänke, ferner Reichs-, Staats- und Bundesgesetzblätter, Gesetze und Formularienbücher, ungarische Gesetze in deutscher Ausgabe, Drucksorten, Stampiglien usw. wird dringend gebeten.«

Jennersdorf wird in west-östlicher Richtung von der Raab durchflossen, die auf der Teichalm in Hohenau an der Raab entspringt und im ungarischen Györ in die Donau mündet. Nach Jennersdorf wechselt die Raab auf ungarisches Gebiet. Man könnte also sagen, die Raab habe kein Vaterland, sei sozusagen eine vaterlandslose Gesellin. Ganz anders die Jennersdorferinnen und Jennersdorfer der Dreißigerjahre. Die hatten sehr wohl ein Vaterland. Das hieß für die überwiegende Mehrheit allerdings längst nicht mehr Österreich-Ungarn oder gar Ungarn, aber auch nicht Österreich, sondern Deutschland. Jennersdorf war konservativ bis deutschnational. Linke waren im Ort nur unwesentlich häufiger als Chinesen (oder Hawaiianer). Der Antisemitismus war hingegen so verbreitet und so normal wie Brot mit Margarine. Bei der Jennersdorfer Gemeinderatswahl im Jahr 1931 entfielen auf den Landbund, der als Deutsche Bauernpartei selbstredend für den Anschluss an Deutschland eintrat, mit dem Landtagsabgeordneten Georg Fiedler an der Spitze fünf Mandate. Eine weitere Partie aus »dissidenten Landbündlern« errang noch zwei Sitze. Die sogenannte Nationale Wirtschaftspartei, ein Sammelbecken vor allem für Großdeutsche, mit ihren lokalen Spitzenkandidaten Josef Maurer und Dipl.-Ing. Gallbrunner, gewann vier Sitze im Gemeinderat. Die Christlich-Soziale Partei, auch sie bundesweit für ihren wackeren Antisemitismus bekannt, mit ihrem lokalen Spitzenkandidaten, dem Gemeindearzt Dr. Franz Haromy, errang zwei Mandate. Die Sozialdemokraten, die im Bezirk Jennersdorf zwar auch nur eine Minderheit, aber eine durchaus starke, respektable Minderheit waren, erreichten im Ort Jennersdorf selbst nur einen einzigen Sitz im Gemeinderat. Zwar gewannen die Nationalsozialisten auch nur ein Mandat im Ortsparlament, aber ihre Versammlungen waren gut besucht und ihr politischer Aktionismus, der sich bislang vor allem in den mehr als häufigen Hakenkreuzschmierereien ausgetobt hatte, begann sich im Ort und im Bezirk allmählich in einen politischen Terrorismus zu verwandeln. Am 25. Juli 1934, dem ersten Tag des österreichweiten nationalsozialistischen Juliputsches, besetzten Angehörige der illegalen SA die Bezirkshauptmannschaft Jennersdorf und den örtlichen Gendarmerieposten. Die Gendarmen beugten sich der Übermacht und streckten die Waffen. Am Abend des 25. Juli traf der Zollwacheoberrevisor Robert Jaros in seinem Dienstort Minihof-Liebau wenige Kilometer südwestlich von Jennersdorf auf eine Gruppe von marschierenden Nationalsozialisten. Er hielt die Putschisten für bloße Schmuggler und bezahlte seinen Irrtum mit dem Leben. Jaros wurde mit drei Schüssen niedergestreckt (und erlag am 22. September 1934 seinen schweren Verletzungen). In den frühen Morgenstunden des 26. Juli 1934 griffen die Nationalsozialisten das Zollhaus Minihof-Liebau an, in dem sich Jaros’ regierungstreue Kollegen verschanzt hatten. Dabei wurde ein Zollwachebeamter im Rahmen eines längeren Feuergefechts durch einen Bauchschuss schwer verletzt. Schließlich konnten die Angreifer aber zurückgeschlagen werden. Von Regierungsseite wurden Einheiten der sogenannten Ostmärkischen Sturmscharen aus Mogersdorf nach Jennersdorf verlegt und in der ehemaligen Lederfabrik kaserniert. Nachdem der Putsch spätestens am 30. Juli 1934 für gescheitert erklärt werden musste, zog sich eine Reihe von Nationalsozialisten aus dem ganzen Bezirk nach Ungarn zurück. Dass sie dort nicht ewig bleiben würden, war jedem klar. Am 27. Februar 1938 demonstrierten rund 3.000 Nationalsozialisten am Jennersdorfer Hauptplatz und vor dem dortigen Zentralamtsgebäude für den Anschluss an Hitler-Deutschland. Die Kundgebungsteilnehmer, »die aus allen Teilen des Bezirks zusammengeströmt waren«, ließen sich danach von der lokalen ständestaatlichen Obrigkeit nicht mehr aus dem öffentlichen Raum im Zentrum von Jennersdorf vertreiben, sondern demonstrierten Tag für Tag weiter am Hauptplatz und vor dem Amtsgebäude, bis das Ende Österreichs am 13. März 1938 gekommen war. In diesen Anschlusstagen ließ der Jennersdorfer Rechtsanwalt Dr. Felix Luckmann, kommissarischer Ortsgruppenleiter der NSDAP, im Bezirk rund 50 Menschen, »die als treue Österreicher bekannt waren«, verhaften und einsperren.

Jennersdorf zur Tatzeit, im Februar / März 1945: Die Mehrheit der Häuser der nunmehrigen Marktgemeinde (seit 1926) ist niedrig, strohgedeckt, lehmverputzt. Es gibt noch immer hölzerne Kamine und Rauchküchen. Dagegen existieren nur relativ wenige Gebäude, die moderneren Ansprüchen genügen. Wie etwa das 1928 errichtete Zentralamtsgebäude an der Hauptstraße, in dem die Bezirkshauptmannschaft, das Bezirksgericht, die Gendarmeriedienststelle, das Steuer-, Eich- und Postamt untergebracht sind. Außerdem gibt es zur Tatzeit noch eine Apotheke, ein Kino, eine Volks- sowie eine Hauptschule, eine Sparkasse, zwei Ziegeleien und den Bahnhof der ehemals ungarischen Westbahn von Steinamanger nach Graz, die südlich am Ort vorbeiführt. Die meisten dieser Einrichtungen, außer dem Bahnhof, der Apotheke, einem Friseurgeschäft, einer Bäckerei und dem kleinen Stützpunkt der Deutschen Ordnungspolizei, zu dem der Gendarmerieposten im März 1938 geworden ist, haben ihre Tätigkeit längst mehr oder minder eingestellt. Gearbeitet wird in Jennersdorf eigentlich nur mehr am Wall und am eigenen Überleben.

Jennersdorf zur Tatzeit: Die Freiwillige Feuerwehr Jennersdorf ist nur mehr eine HJ-Feuerwehr. Die Volksschule ist seit September 1944 eine Krankenstation...