John Sinclair 2071 - Der kriechende Tod

von: Marc Freund

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732559312 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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John Sinclair 2071 - Der kriechende Tod


 

Der Mann mit dem blaugrauen Kittel eines Hausmeisters trat über die Schwelle und stellte seinen Werkzeugkasten ab.

Er fuhr sich mit der flachen Hand über das stoppelige Kinn und starrte auf die Wasserlache, auf der einige schillernde Seifenblasen ruhten. Ansonsten rührte sich nichts.

»Verdammte Saubande«, entfuhr es Christian Landmann.

Dies war nicht seine gewohnte Ausdrucksweise. Im Gegenteil. Er war jetzt bereits in seinem siebten Jahr an diesem Internat, und sein Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern konnte man getrost als ausgesprochen gut bezeichnen.

Natürlich gab es besonders unter den Jungen ein paar vorlaute Kandidaten, die gerne mal über die Stränge schlugen. Auch einige der älteren Mädchen hatten es faustdick hinter den Ohren. Aber alles in allem hatte Landmann seinen Sauladen, wie er das Robert-Koch-Internat sich selbst und seiner Schwester Bianca gegenüber gerne scherzhaft nannte, im Griff. Nun ja, soweit man das als Hausmeister eben behaupten konnte.

Landmann schob sich seine Brille, die gerade im Begriff war, abzurutschen, auf die Nase zurück und machte sich an die Arbeit.

Er öffnete den blauen Metallkasten und griff zielsicher nach einer Rohrzange und einer aufgerollten Drahtspirale, die er am späten Vormittag im Baumarkt erstanden hatte.

Damit bewaffnet näherte er sich der Pfütze und beugte sich hinunter.

Er streifte sich die gelben Gummihandschuhe über, die er sich in die Brusttasche seines Kittels gestopft hatte.

Seine Mundwinkel verzogen sich, als er in die inzwischen erkaltete Flüssigkeit griff. Seine Finger suchten nach dem quadratischen Metallrost, der lose auf dem Abfluss saß, und zogen ihn heraus. Angewidert legte der Hausmeister ihn beiseite.

Es war nicht das erste Mal, dass die Leitung des Internats ihn verständigt hatte, um hier nach dem Rechten zu sehen. Beim letzten Mal hatten die pubertierenden Mädchen den Abfluss absichtlich mit Tampons vollgestopft.

Christian Landmann hatte daraufhin geduldig den vollgesogenen Klumpen herausgeklaubt und in den Müll entsorgt. Der Schulleitung gegenüber hatte er den alten Abwasserleitungen die Schuld gegeben.

Was mochte es dieses Mal sein?

Landmann langte in die Öffnung hinunter. Seine Finger tasteten sich vorsichtig voran. Er spürte nichts. Möglich also, dass der Klumpen oder was immer es war, noch tiefer saß.

Der Hausmeister seufzte und ging auf die Knie. Er spürte augenblicklich, wie das kalte Wasser seine Kleidung durchdrang.

Er krempelte sich den rechten Ärmel auf und startete einen neuen Versuch.

Für einen Moment glaubte er, etwas zu fassen bekommen zu haben, doch dann entglitt es seinen Fingern wieder.

Was, zum Teufel, war das?

Er dachte an die Mädchen der sechsten und siebten Klasse, wie sie kichernd irgendeinen Müll hier reingestopft hatten. Allen voran sicher die rothaarige Vivien, die es neuerdings zu genießen schien, sich überall aufzuspielen und unbeliebt zu machen.

Landmann rammte seine Hand hinunter in die Öffnung und traf dieses Mal tatsächlich auf einen Widerstand. Selbst durch den Latex seines Handschuhs fühlte es sich seltsam weich und wabbelig an.

Plötzlich war es verschwunden, und ein schlürfendes Geräusch ertönte. Das Wasser begann wieder abzulaufen.

Zunächst noch zaghaft, aber immerhin.

Landmann zog die Hand heraus, betrachtete akribisch das noch immer leuchtende Gelb seines Handschuhs und wartete ab. Die Lache um ihn herum verringerte sich zusehends, bis sie weitestgehend vom Boden verschwunden war.

Nur im Abfluss selbst blieb ein Rest Sickerwasser stehen.

Landmann griff nach der langen Drahtspirale, mit der er dem verstopften Rohr zu Leibe rücken wollte.

Im trüben Wasser schimmerte etwas, das aussah, wie eine große Blase. Aber es war keine.

Es war ein Auge.

Landmann schrie vor Entsetzen auf und warf seinen Oberkörper nach hinten. Unsanft landete er auf seinem Hintern und stieß einen keuchenden Laut aus.

Bunte Lichter tanzten plötzlich vor seinen Augen. Wenn er die Lider schloss, erkannte er auf seiner Netzhaut ein Sägeblatt mit scharfen Zacken, das sich schneller und schneller zu drehen schien.

Unterzuckerung. Ausgerechnet jetzt.

Er ächzte, blieb platt auf dem Boden sitzen und fingerte mit seiner linken Hand ein Stückchen Traubenzucker aus seiner Kitteltasche.

Mit den Zähnen zog er das rote Bändchen der Plastikverpackung ab und spie es achtlos aus.

Durch den Sturz war das Täfelchen in mehrere Teile zerbrochen. Einige davon fielen hinunter und landeten auf den feuchten Fliesen. Landmann gelang es, noch ausreichend Traubenzucker aufzufangen und sich gierig in den Mund zu stopfen.

»Selbst schuld, wenn du nicht regelmäßig isst oder mal wieder das Trinken vergessen hast«, hörte er die Stimme seiner Schwester sagen.

Bianca.

Landmann schloss die Augen und lächelte. Sie wohnte in Goslar, der schönen kleinen Stadt im Harz, keine zehn Kilometer von hier.

Sie hatten eine tiefe Verbindung zueinander. Immer schon, selbst als sie noch Kinder gewesen waren.

Landmann blinzelte. Die zuckenden Bilder vor seinem inneren Auge verblassten nach und nach. Dieses Mal war es nur ein leichterer Anfall gewesen.

Das Auge, dachte er. Ganz sicher war es nur eine Einbildung gewesen. Ein erstes Warnzeichen, bevor das scharfe Sägeblatt aufgetaucht war.

Er nahm die Brille ab und wischte sich mit der linken Hand über das Gesicht. Noch ein kurzer Moment der Konzentration, dann konnte es weitergehen.

Auf allen vieren und seine Sehhilfe mit dem dunklen Horngestell wieder an vertrauter Stelle, kroch er wieder an den Abfluss des Duschraums heran.

Noch immer stand das Wasser fast bis zum oberen Rand. Insofern keine Veränderung. Aber das Auge war verschwunden.

Landmann lächelte erneut und schüttelte den Kopf. Es war inzwischen früher Nachmittag, und er freute sich auf seine Tasse Kaffee, die er sich in etwa einer Stunde aufbrühen würde.

Entschlossen packte er die Drahtspirale und wickelte sie ab.

Das Ende, an dem sich eine dreizackige Kralle befand, führte er in das Loch unter ihm ein. Langsam ließ er den Draht durch seine Hände gleiten, bis er auf einen Widerstand stieß.

Endlich. Jetzt musste er nur noch …

Landmann blinzelte, als er den kleinen Ruck verspürte. Es war nur eine kurze Bewegung des Drahts gewesen, aber der Hausmeister hatte sie deutlich gespürt.

Vorsichtig beugte er sich über die Öffnung. Es war nichts zu sehen. Nur die Spirale, die in dem leicht getrübten Wasser verschwand.

Jetzt lass dich nicht verrückt machen, dachte er. Sicher handelte es sich um einen weiteren Streich der Mädchen. Sie würden sich etwas anderes ausgedacht haben. Natürlich, sie konnten ja nicht ewig ihren alten Trick wiederholen.

Landmann wollte die Drahtspirale tiefer in den Abfluss einführen, als sie ihm mit brutaler Gewalt durch die Hände gezogen wurde. Der Hausmeister spürte ein sengend heißes Gefühl an den Handinnenflächen.

Er schrie vor Schmerz und Schreck auf. Gleichzeitig nahm er den Geruch von verschmortem Gummi wahr.

Die Spirale sauste mit einem surrenden Geräusch weiter in den Abfluss hinein, so als hätte Landmann einen fetten Fisch an der Angel.

Ungläubig starrte er auf den langen Draht, der sich immer weiter abwickelte. Die Handflächen des Hausmeisters waren blutig, dort, wo sich das Material des Werkzeugs in seine Haut gefressen hatte.

Dennoch packte Landmann plötzlich zu, aus einem Reflex heraus.

Er griff die Spirale mit beiden Händen, um die Vorwärtsbewegung zu stoppen. Und tatsächlich gelang es ihm.

Er spürte die Zugkraft, die jemand oder etwas am anderen Ende erzeugte.

Der alte Mann und das Meer, dachte Landmann. Das, was er hier gerade erlebte, war eine Neuinszenierung des Hemingway-Stoffs.

Der Hausmeister und … ja, wer eigentlich?

Landmann hielt den Draht fest in seinen Händen. Wer immer das andere Ende hielt, er verharrte offenbar in seiner Bewegung, wartete ab.

Vorsichtig rutschte der Mann mit dem Kittel noch weiter an die Öffnung des Abflusses heran. Er spähte zur Wasseroberfläche hinunter. Sie bewegte sich unmerklich.

Der Hausmeister atmete flach, konzentrierte sich. Er ignorierte den Schmerz, der vor allem in seiner linken Handinnenfläche tobte, und begann langsam an dem Draht zu ziehen. Vorsichtig.

Zentimeter für Zentimeter zog er zurück an Land. Es war nur ein schwacher Widerstand zu spüren.

Lächerlich, dachte Landmann, wenn mich einer so sehen würde.

Aber hier war um diese Zeit niemand mehr.

Er zog weiter. Es ging jetzt sogar sehr viel leichter. Landmann löste seine linke Hand und hob seinen Arm, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Da riss ihn plötzlich ein gewaltiger Ruck nach vorne, direkt auf den Abfluss zu. Die Brille flog ihm aus dem Gesicht und landete klappernd irgendwo außerhalb seiner Reichweite. Mit dem Brustkasten voran schlug er hart auf dem Boden auf. Seine rechte Hand verkrampfte sich. Aus einem Reflex heraus packte er die Spirale noch fester.

In Sekundenschnelle tauchte seine Faust, die das letzte Ende des Drahts hielt, in den Abfluss.

Landmann schrie auf, als sein ganzer Arm bis zum Schultergelenk darin versank. Dann endlich ließ er los.

Er spürte, wie die letzten Zentimeter der Spirale an ihm vorbei sausten, bis der Draht endgültig...