Chirurgie und Bildgebung

von: Karl-Heinz Schultheis, Ulrich Mödder, Gerald Antoch, Christoph-Thomas Germer, Wolfram Trudo Knoefel, Michael Laniado

Georg Thieme Verlag KG, 2018

ISBN: 9783132410916 , 400 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 104,99 EUR

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Chirurgie und Bildgebung


 

1 Schilddrüse


Gabriele Meyer, Rainer Görges, Andreas Bockisch, Karl-Heinz Schultheis

1.1 Chirurgisch relevante Krankheiten


Erkrankungen der Schilddrüse sind in Deutschland eine Volkskrankheit mit einer sehr hohen Prävalenz. Die häufigste endokrine Erkrankung ist die euthyreote Struma. Der Begriff „Struma“ ist aus dem Lateinischen übernommen (struma, -ae, f.; im Deutschen: die Struma, eingedeutschter Plural: die Strumen) und bedeutet „Drüsenschwellung“, „Geschwulst am Hals“. Appellativ wird die Bezeichnung „Kropf“ verwendet. Das Synonym „Struma“ wurde 1718 von Lorenz Heister in die medizinische Literatur eingeführt. Per definitionem ist jede Schilddrüse, die die Normvolumina überschreitet, eine Struma.

Merke

Normwerte der Schilddrüsengröße Erwachsener nach Angaben der WHO (World Health Organisation):

  • Männer: bis zu 25 ml

  • Frauen: bis zu 18 ml

Der Begriff „Struma“ beschreibt damit nur den Befund einer Vergrößerung, macht jedoch keinerlei Aussagen über die zugrunde liegende Morphologie und die vielzähligen Ursachen. Eine Struma betrifft in Deutschland über 30% der Erwachsenen. Epidemiologischer Hauptrisikofaktor für die Strumagenese ist eine regionale Jodunterversorgung der Bevölkerung. Der Zusammenhang konnte sowohl für diffuse als auch für knotige Veränderungen belegt werden. Neben einem erniedrigten Jodspiegel werden weitere Ursachen angeführt:

  • Goitrogene (strumigene Substanzen)

  • Schwangerschaft

  • Selen-, Zink- und Eisenmangel

  • Wasserstoffperoxid (fällt bei der Schilddrüsenhormonproduktion an)

  • DNA-Schäden (Schäden an der Desoxyribonukleinsäure)

  • Rauchen

Sind in einer Region über 10% der Bevölkerung von einer Struma betroffen, wird von „endemischen Strumen“ gesprochen, ansonsten von „sporadischen“. Im Jahr 2007 hat die WHO Deutschland aus der Liste der Länder mit Jodmangel gestrichen, dennoch weist ca. ¼ der Bevölkerung weiterhin nach langjährigem Jodmangel eine Struma und einen im Urin nachweisbaren Jodmangel auf. Jüngste Untersuchungen zeigen einen Rückgang von Struma- und Knotenprävalenz unter verbesserter Jodversorgung. Dies ist insbesondere bei den kindlichen Strumen zu verzeichnen.

Eine plausible Hypothese beschreibt die Knotenentstehung als einen sequenziellen Vorgang über eine diffuse Hyperplasie zur Nodularität. Durch spezifische mono- und polyklonale genetische Veränderungen entstehen aus Vorläuferzellen der Thyreozyten Tumoren in der Schilddrüse, die in ihrer Dignität, Funktion und Morphologie erheblich variieren können. Anders als rein hyperplastische Schilddrüsenknoten sind diese Knoten als echte Tumoren zu verstehen, die sich durch ein benignes (Adenom) oder malignes Wachstumsverhalten (Karzinom) auszeichnen können. Sie unterliegen einer Entwicklung und regressiven Veränderungen:

  • Einblutungen

  • Blutabbaustufen in verschiedenen Stadien

  • zystische Degeneration

  • Bindegewebevermehrung

  • Fibrose

  • dystrophe Verkalkung

Knotige Veränderungen in der Schilddrüse sind in Deutschland stark altersstufengeschichtet und je nach Untersuchungsart bei 20–68% der Erwachsenen nachweisbar ▶ [3] ▶ [8]. Das sind in Deutschland schätzungsweise 20 Mio. Menschen.

Nach Angaben des Deutschen Krebsregisters wurden in den letzten Jahren jeweils ca. 5000 Operationen an der Schilddrüse mit der Diagnose eines Schilddrüsenkarzinoms registriert, 3500 bei weiblichen und 1500 bei männlichen Patienten. Damit ist das Schilddrüsenkarzinom der häufigste endokrine Tumor mit zunehmender Inzidenz. Bei Frauen unter 40 Jahren stellt das Schilddrüsenkarzinom insgesamt die dritthäufigste Krebserkrankung dar. Die Inzidenz von registrierten Schilddrüsenkarzinomen hat sich in den letzten 25 Jahren verdreifacht. Sie korreliert mit der zunehmenden Feststellung sog. Inzidentalome. Das sind subklinische Mikrokarzinome von maximal 1 cm Durchmesser, die histologisch am häufigsten den papillären Schilddrüsenkarzinomen zugeordnet werden. Es handelt sich bei dieser Steigerung mutmaßlich um die Kombination aus einer reellen Zunahme und der häufigeren Diagnose als Folge einer breit angewandten Sonografie und einer subtileren pathologischen Untersuchung.

Die Gesamtzahl der Schilddrüsenoperationen in Deutschland beläuft sich derzeit auf etwas weniger als 100 000 Operationen pro Jahr. Neben der führenden Dignitätsindikation ergeben sich chirurgische Behandlungsgründe bei hyperthyreoten Funktionsstörungen. Labordiagnostisch weisen 0,4% der Bevölkerung eine manifeste und 1,8% eine latente Hyperthyreose auf. Ursächlich für die Überfunktion ist in Regionen mit einer Jodmangelversorgung am häufigsten eine Schilddrüsenautonomie. In Regionen ohne Jodmangel ist der Morbus Basedow die häufigste Ursache für eine Schilddrüsenüberfunktion. Beide genannten Funktionsstörungen sind von hoher chirurgischer Relevanz. Neben der Dignität und der Funktion kann die Morphologie der Schilddrüse eine Operationsindikation darstellen. So kann die Schilddrüse aufgrund ihrer Größe zur lokalen Kompressionssymptomatik oder aufgrund ihrer Lage zu einer Einflussstauung führen. Sie kann wegen ihrer auffälligen Kosmetik mit erheblichen psychischen und sozialen Problemen behaftet sein.

Merke

Schilddrüsenerkrankungen und ihre chirurgische Relevanz lassen sich dementsprechend unter den sich überschneidenden Aspekten Morphologie, Funktion und Dignität subsumieren ( ▶ Abb. 1.1).

Chirurgisch relevante Schilddrüsenerkrankungen.

Abb. 1.1 

1.2 Differenzialdiagnostischer Einstieg


Merke

Der differenzialdiagnostische Einstieg bei der Abklärung von Schilddrüsenerkrankungen basiert auf der Anamnese, der klinischen und der sonografischen Untersuchung, einer laborchemischen Basisuntersuchung sowie ggf. einer funktionsmorphologischen Szintigrafie und einer Feinnadelpunktion. Daraus lässt sich zumeist hinreichend eine Operationsindikation ableiten oder verwerfen.

1.2.1 Anamnese


Schilddrüsenerkrankungen werden bei blickdiagnostischen Auffälligkeiten, häufiger jedoch bei der orientierenden Abklärung vielfältiger Symptome und der Erhebung einer gezielten Routineuntersuchung oder nebenbefundlich bei der Diagnostik angrenzender Organe festgestellt. Der differenzialdiagnostische Einstieg erfolgt über eine gründliche Anamneseerhebung. Diese beinhaltet die Abfrage folgender Punkte:

  • sicht- und tastbare Halsschwellungen und ihre zeitliche Veränderung

  • Krankenvorgeschichte (frühere Strahlentherapie oder -exposition, Medikamentenanamnese, Jodexposition)

  • Familienanamnese (strumige genetische Disposition, positive Anamnese für multiple endokrine Neoplasien, familiäre Polyposis coli)

  • Symptome einer lokalen Kompression (Atemnot, Schluckbeschwerden, Räusperzwang, Heiserkeit, Globusgefühl, Drucksymptome bei Neigung des Kopfes)

  • allgemeine Symptomen, die auf eine Funktionsstörung hindeuten können (z.B. Herzrhythmusstörungen, Antrieb, vegetativer Komplex)

  • stattgehabte Voruntersuchungen und Vorbehandlungen

1.2.2 Klinische Untersuchung


Die klinische Untersuchung ermittelt und graduiert eine diffuse Vergrößerung und differenzierbare Knotenbildungen. Sie gibt wichtige Hinweise auf die Konsistenz der Schilddrüse, auf ihre Schluckverschieblichkeit, auf Druckschmerzhaftigkeit, Zeichen einer Infektion sowie den zervikalen Lymphknotenstatus oder eine Einflussstauung.

1.2.3 Sonografie


Als wichtigste und häufig einzig erforderliche Bildgebung ergänzt die Sonografie jede Basisuntersuchung der Schilddrüse. Die Schilddrüsensonografie wird angewandt zum Screening und zur Verlaufskontrolle bei bekannten Veränderungen, zur Lokalisationsdiagnostik bei Punktionen sowie zur Rezidivkontrolle bei Zustand nach Schilddrüsenoperation und Zustand...