Prävention von Stimmstörungen

von: Elin Rittich, Sibylle Tormin

Georg Thieme Verlag KG, 2018

ISBN: 9783132018013 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 26,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Prävention von Stimmstörungen


 

2 Gegenstandsfeld Stimme


Sibylle Tormin, Bernward Bock

Man muss jemand sein, um eine Stimme zu haben, etwas verursacht nur Geräusche (Bernhard Waldenfels ▶ [312]).

2.1 Stimme in der Gesellschaft


Die Stimme spielt für die psychologische, physiologische und kognitive Entwicklung eines Menschen eine große Rolle. Dieser Prozess beginnt bereits pränatal über die intrauterine Perzeption der mütterlichen Stimme und setzt sich kontinuierlich fort über die Wahrnehmung der eigenen Stimme mit Erprobung ihrer Facetten und Möglichkeiten und über die Wahrnehmung der Stimme von Bezugspersonen. Das Selbstgespräch und die stimmliche Selbsterfahrung eines Kindes ermöglichen ihm wertvolle akustische und sensorische Eigenwahrnehmungserfahrungen und tragen, ebenso wie auch alle Varianten von Sprech-, Sing-, Finger-, Klatsch- und Schaukelspielen, zur motorischen und emotionalen Entwicklung bei. Gedächtnis und alle Sinnesmodalitäten werden angesprochen und gefördert. Der Umgang mit starken Gefühlen wie Wut, Liebe, Angst und die Fähigkeit zur kommunikativen Äußerung wird mit dem Spracherwerb und dem Einsatz des stimmlichen Ausdrucks gelernt. In gleichem Maße wird die Erfahrung gemacht, dass es möglich ist, durch Einsatz der Stimme und durch Kommunikation etwas außerhalb der eigenen Person bewirken zu können ▶ [276].

Gemeinsames spielerisches Üben von Kinderliedern und -versen sorgt zudem nicht nur für einen physiologischen Aufbau der Kinderstimme, sondern schult auch elementare soziale Fähigkeiten. Richter sieht darin „die Entwicklung grundlegender kultureller Techniken unserer zivilisierten Welt“ ▶ [231]. Nicht zuletzt gelangen auch viele Erwachsene, die im Alltag ihre Stimme nur weit unterhalb ihrer prosodischen und emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten in einem relativ begrenzten tonalen Bereich nutzen, im Dialog mit einem Säugling zu einer größeren Bandbreite ihrer stimmlichen Möglichkeiten (sogenannte Ammensprache ▶ [276]).

Zusatzinfo

Singen

Studien belegen, dass Singen verschiedene positive Wirkungen erzeugen kann. So weisen Kinder und Jugendliche, die regelmäßig in einem Chor singen, wesentlich größere Tonhöhenumfänge in ihren Stimmen auf und können deutlich lauter und leiser singen sowie tendenziell lauter rufen als solche, die nicht regelmäßig sängerisch aktiv sind ▶ [99]. In Stimm- und Sprachtherapien integriert wirkt sich Singen nachweislich positiv auf den Therapieverlauf aus und wird daher zur Förderung der Sprachentwicklung empfohlen ▶ [233]. Bei Erwachsenen wirkt sich Chorsingen positiv auf die Abwehrkraft des Immunsystems aus, nachgewiesen in vermehrter Absonderung von sekretorischem Immunglobulin A im Speichel ▶ [163], ferner auf die Atmung, die Körperhaltung und den Muskeltonus ▶ [232]. Auch gibt es Hinweise, dass Singen vor Publikum u.a. für die vermehrte Ausschüttung von sog. Glückshormonen (Serotonin, Noradrenalin, Beta-Endorphin) sorgt ▶ [31].

Beim Singen in Kinderkrippen und Kitas ist allerdings von Bedeutung, welches gesangliche Vorbild gegeben wird. Wenn Kindern von Erziehern und Erzieherinnen in deren eigener, deutlich tieferen, Bruststimmlage vorgesungen und dabei die natürliche kindliche Stimmlage nicht genügend berücksichtigt und gefördert wird, könnte dieses Vorbild stimmschädigende Singweisen hervorrufen ▶ [192]. Wird die Kinderstimme nicht in ihrer physiologischen Lage, sondern in der „ungemischten Brustregisterfunktion ohne Ränderschwingung“ ▶ [191] trainiert, wird sie in ihrem Umfang eingeschränkt bleiben und möglicherweise auch eher zu kindlichen Stimmstörungen (Dysphonien) neigen (ebd.). So fordern Kinderstimmbildner, dass der gesunde Umgang der Kinder mit ihrer Stimme gefördert und dies als ein Qualifikationsziel in der Erzieherausbildung berücksichtigt wird ▶ [192]. Allerdings wird diese Thematik durchaus kontrovers diskutiert, wenn andererseits beklagt wird, die Erzieherinnen müssten ihre Stimmen in ungesunde Höhen pressen, um sich der kindlichen Lage anzupassen ▶ [136], ▶ [192].

Die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, stimmliche Fertigkeiten zu perfektionieren, sprechen und singen zu können, unterscheidet den Menschen vom Tier und damit auch von seinen nächsten Verwandten, den Primaten. Auch die Möglichkeit Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse zu formulieren sowie gedankliche Konstrukte zu entwickeln, zu reflektieren und zu verbalisieren, macht diesen Unterschied aus. Der Einsatz von Stimme und Sprache impliziert auch die Fähigkeit Symbole zu benutzen, zu diskutieren, Ironie, Polemik, Sarkasmus – und Humor – einzusetzen. Die Stimme ermöglicht einen differenzierten Ausdruck von Emotionen. In ihrer Erweiterung zur Singstimme vervielfachen sich diese Möglichkeiten noch ▶ [276]. Neben den Fähigkeiten des Schreibens und Lesens ist der Einsatz der Stimme in der mündlichen Kommunikation ein wesentlicher Aspekt des Menschseins.

In vielen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens sind während der letzten Jahrzehnte zum stimmvermittelten direkten, telefonischen oder mündlichen Kommunizieren indirekte und verschriftlichte Varianten hinzugekommen. So kommunizieren wir seit geraumer Zeit beruflich und privat per E-Mail, SMS, Chat, WhatsApp. Auch wenn in letzterem oder via Skype auch gesprochene Nachrichten digital übermittelt werden: Das bisher gängige soziale Medium Stimme tritt in diesen neuen Kommunikationsmöglichkeiten und den sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter noch nicht in den Hintergrund, konkurriert aber zumindest mit ihnen. So können wir mittels digitaler Kommunikation im Internet Informationen austauschen, Handel treiben und uns via E-Learning oder Blended Learning fortbilden und studieren. Das Verfassen von kurzen oder längeren Texten auf der Computer-, Tablet- oder Smartphone-Tastatur ist nicht nur für viele Kinder und Jugendliche zur souverän ausgeführten Selbstverständlichkeit geworden. Dieser Trend, bei dem Vieles darauf hindeutet, dass unser stimmliches Ausdrucksvermögen entbehrlicher und das Feld der stimmvermittelten Kommunikation kleiner wird, scheint noch nicht am Ende zu sein.

Es gibt Hinweise, dass sich diese vorwiegend visuell ausgerichteten Medien negativ auf unser Sprachvermögen und langfristig auch auf stimmliche Kompetenzen des digitalen Menschen auswirken können ▶ [277]. Für die Stimm- und Sprachentwicklung kleiner Kinder ist es unerlässlich, ständig über den Einsatz von Stimme und Sprache zu interagieren. Was früher selbstverständlich war und bei Kindern dabei von Beginn an für eine profunde Stimmausbildung sorgte, ist u.a. aufgrund veränderter Kommunikationsformen nicht mehr gewährleistet. So konstatiert Richter, dass in unserer Gesellschaft nicht mehr genügend mit Kindern gesprochen und gesungen wird ▶ [231]. Eine weitere Folge unserer visualisierten Kommunikation ist nach Beobachtungen Richters et al., dass die Sensibilität für gute stimmliche Leistungen auf der Bühne und in den Medien abnimmt ▶ [232].

Ebenso gibt es aber auch experiment- und studiengestützte Erkenntnisse, die verdeutlichen, dass der Wirkeffekt der Stimme auch in einer sich kommunikativ verändernden Gesellschaft immer noch eine große emotionale Bedeutung hat. Seltzer et al. fanden in einer Untersuchung heraus, dass tröstende Worte, von einer vertrauten Person unmittelbar nach einer Stresssituation gesprochen, für eine Freisetzung des Hormons Oxytocin sorgen, das mit Wohlgefühlen und Zärtlichkeit in Verbindung gebracht wird. Dieser Effekt trat nicht auf, wenn die vertraute Person die tröstenden Worte per Chat übermittelte ▶ [268].

Auch im sozialen und beruflichen Kontext ist es zunehmend wichtig, Kompetenzen in mündlicher und stimmvermittelter Kommunikation zu besitzen, um sich behaupten und profilieren zu können oder bestimmte Berufe überhaupt ausüben zu können. Dabei kommt es nicht nur auf das „Was“ (verbale, sprachliche Ebene), sondern mindestens ebenso stark auf das „Wie“ des Gesagten an (vgl. ▶ [80], ▶ [161], ▶ [271] u.v.a.). Auf die einzelnen qualitätsbestimmenden (also das „Wie“ modifizierenden) Faktoren wird unter Kap. ▶ 2.3 näher eingegangen. Im Folgenden wird ein Blick auf die Wirkungen der gesunden Sprechstimme geworfen.

2.2 Stimme als Wirkungsfaktor


Die menschliche Stimme ist mehr als nur ein akustisches Informationsweitergabemedium, mehr als ein Oszillator, der sprachliche Zeichen hörbar werden lässt. Aus philosophischer und psychologischer Sicht fungiert die Stimme vielmehr auch als Anzeichen ▶ [161], in dem die seelische und emotionale Befindlichkeit des Sprechers, aber auch Daten wie Geschlecht und ungefähres Alter und bestimmte Hinweise auf die Persönlichkeit hörbar werden können. Es können in der Stimme angeborene und erworbene Persönlichkeitscharakteristika zum Ausdruck kommen, und Menschen tendieren dazu, von einer Stimme auf Merkmale der Persönlichkeit der betreffenden Person zu schließen. Dies muss nicht immer übereinstimmen und kann dazu führen, dass Urteile über das Gegenüber abgeleitet werden, die dann die Beziehung zu dieser Person beeinflussen ▶ [104].

In unzähligen Stimm- und Rhetorikratgebern, Kommunikationstrainings,...