Der christliche Glaube erklärt in 50 Briefen

von: Gerhard Lohfink

Verlag Herder GmbH, 2018

ISBN: 9783451817953 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 19,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Der christliche Glaube erklärt in 50 Briefen


 

2. Brief
Vom Tier zum Menschen


Sehr geehrter Herr Westerkamp,

vielen Dank für Ihre freundliche – nein, für Ihre so herzliche Antwort! Sie sind mit meinem Vorschlag ganz einverstanden. Genauso auch Ihre Frau. Fangen wir also vorläufig einmal mit Briefen an. Sie wollten allerdings mehr tun, als nur meine Briefe lesen. Da Sie in Ihrem Beruf ständig recherchieren müssen, haben Sie das auch gleich im Blick auf den Glauben getan. Sie haben im Internet bei Wikipedia unter dem Stichwort „Kommunion“ nachgesehen und dort gelesen, die heilige Kommunion sei „Spendung und Empfang der Gaben von Brot und Wein, die den Leib und das Blut Christi repräsentieren“. Und nun fragen Sie nach dem „Blut“ und was hier eigentlich mit „repräsentieren“ gemeint sei.

Soll ich darauf jetzt eingehen? Ich möchte es lieber (noch) nicht. Und zwar aus folgendem Grund: In meinem ersten Brief habe ich mehrfach von Gott gesprochen – dass er heilig, verborgen und unfassbar sei. Schon das war im Grunde zu viel. Ich kann nicht einfach anfangen, fröhlich und sozusagen freihändig über Gott zu reden und erst recht nicht über die Sakramente der Kirche. Da muss noch anderes vorausgehen. Bevor man über Gott spricht, sollte man zuerst über die Welt und den Menschen sprechen – ich jedenfalls sehe das so. Unser Vorhaben hat also beim Menschen anzufangen. Wie sollen wir ihn betrachten? Was macht ihn aus? Ist er lediglich ein hochspezialisiertes Tier mit einem Gehirn, das größere Speicherkapazität und dichtere neuronale Vernetzungen hat als die Gehirne der Affen?

Das 20. Jahrhundert war noch nicht sehr alt, da sprach der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, von den „drei großen Kränkungen der Menschheit“. Die erste Kränkung sei die Einsicht des Kopernikus gewesen, dass die Erde gar nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Die zweite Kränkung sei das, was wir seit Charles Darwin wissen: Der Mensch hat sich aus der Tierwelt entwickelt. Und die dritte Kränkung: Ein großer Teil des menschlichen Seelenlebens entzieht sich unserem Bewusstsein. In unserem Unbewussten geschehen Dinge, über die wir keine Macht haben. Wir sind nicht Herr im eigenen Haus. Sigmund Freud behauptete: Diese drei revolutionären Einsichten haben die Menschheit erschüttert. Sie haben den Menschen tief gekränkt. Er ist nicht mehr Mittelpunkt der Welt. Er ist nicht mehr abgesondert von den Tieren. Er ist nicht mehr Herr seiner selbst.

Ich muss gestehen, dass ich diese drei berühmten „Kränkungen“ bis heute nicht verstanden habe. Ich habe mich noch nie als Mittelpunkt der Welt gefühlt. Und es ist noch sehr die Frage, ob das unsere Vorfahren je getan haben. Es erschüttert mich auch nicht, dass der Planet Erde nur ein Stäubchen in einem riesigen Universum ist. Vielmehr bewundere ich das Weltall und staune darüber, dass in seinen unendlich weiten, eiskalten und von tödlicher Strahlung durchfluteten Räumen überhaupt Leben möglich ist.

Und die abgrundtiefen Räume des Unbewussten? Natürlich erschrecke ich, wenn in der Nacht Träume in mir aufsteigen und ich beim Aufwachen begreife, wie viele konfuse Phantasien, wie viele Versagensängste und wie viele dunkle Wünsche in meiner Seele zu Hause sind. Und ich stelle bekümmert fest, dass ich am Tag immer wieder Dinge tue, die ich eigentlich gar nicht tun möchte. Doch ich erfahre eben auch, dass ich mir bestimmte Dinge verbiete, dass ich meine Phantasie zügeln kann und dass aus den Quellen des Unbewussten nicht nur Verworrenes hervorkommt, sondern auch Notwendiges und Schönes: Lösungen für Dinge, die am Tag zuvor noch unlösbar schienen, und darüber hinaus Zuneigung, Hingabe und Dankbarkeit. Weshalb sollte ich über das Reich des Unbewussten in mir gekränkt sein? Verbindet es mich doch mit der Herkunft des Menschen und den Tiefen der Welt. Ist nicht gerade in dieser Tiefe auch der Ort, wo Gott sein leises Wort zu mir sprechen kann?

Und warum sollte es mich kränken, dass der Mensch in einem überaus langen und hochkomplizierten Prozess aus dem Tierreich entstanden ist? Ich staune über den unfasslichen Reichtum der Arten, der mir ständig begegnet: über die winzigen blauen Blumen am Rand der Wiese, von denen ich bis heute nicht weiß, wie sie heißen – über das unbeschreibbare fluoreszierende Grün eines Käfers, der mir neulich über die Hand krabbelte – über den geschmeidigen Gang der Katze, die jeden Morgen über meinen Rasen flaniert – und über die Stubenfliegen, die ich eigentlich nicht mag und deren Startgeschwindigkeit mich immer von neuem verblüfft, wenn meine Hand zuschlagen will.

Sollte es mich wirklich kränken, dass Gott den Menschen nicht aus einem Lehmkloß geformt hat, wie es die Bibel gleich am Anfang in symbolisch-poetischer Verdichtung beschreibt? Dass Gott vielmehr eine unfassliche Evolution in Gang setzte: über organische Verbindungen – über Makromoleküle – über Bakterien und Algen – über Quallen und Lurche – über die ersten Landtiere – über Wirbel- und Säugetiere – über unsere affenähnlichen Vorfahren bis schließlich hin zum homo sapiens?

In meinem vorausgegangenen Brief, Herr Westerkamp, war davon die Rede gewesen, dass Gott durch Menschen handelt. Diese Grundeinsicht der Theologie ist nun zu erweitern: Gott greift niemals durch Einzelaktionen in den Gang der Welt und der Geschichte ein. In der Geschichte handelt er immer durch Menschen; bei der Entstehung des Lebens (und natürlich auch sonst) handelt er durch sogenannte Zweitursachen*: Gase verbinden sich, Moleküle entstehen, erste Zellen mit Stoffwechsel und Reproduktion bilden sich heraus und so immer weiter bis zum Menschen – bis zu ihrer Tochter, die jetzt Schulaufgaben macht oder im Garten spielt. Alles entwickelt sich aus einer Kette „natürlicher“ Ursachen – aber das Ganze kommt vom Anfang bis zum Ende aus der Schöpferhand Gottes.

Nein, ich kann in all dem weder eine Kränkung des Menschen noch eine Herabsetzung Gottes sehen! Eine Schöpfung, die Gott so will, dass sie sich vom Urknall bis zum Geist des Menschen entfaltet, ist für mich noch viel größer und bewundernswerter als die alten Weltentstehungs-Mythen der Menschheit. Dabei ist festzuhalten, dass die Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bibel gar kein Mythos ist: Hier werden bereits mit theologischer Schärfe alte Mythen entzaubert: Die Sonne ist kein Gott und der Mond ist keine Göttin, sondern sie sind „Leuchtkörper“, die Gott geschaffen hat (Gen 1,16). Man durfte sie mit den Mitteln der damaligen Naturerkenntnis beschreiben.

Ich kann einfach keine Kränkung darin sehen, dass mein Skelett, mein Nervensystem, mein Verdauungstrakt und überhaupt mein gesamter Organismus weit in das Tierische zurückreichen und dort über Jahrmillionen in vielen Anläufen und zahllosen Fehlversuchen entwickelt wurden.

Ich weiß natürlich, dass gerade diese Verwurzelung des Menschen im Tierreich viele Forscher dazu gebracht hat, dem Menschen Geist und Freiheit abzusprechen. Seine angebliche Willensfreiheit sei nichts anderes als bloße Einbildung und Selbsttäuschung. In Wirklichkeit werde der Mensch in allem, was immer er tue, von physikalischen und chemischen Prozessen gesteuert. Nichts gegen physikalische und chemische Prozesse! Natürlich gibt es sie überall und unablässig, und ohne sie gäbe es kein menschliches Leben.

Und doch sind Standpunkte dieser Art eine leichtfertige Vereinfachung. Es ist ungefähr so, als würde ich von einem berühmten und faszinierenden Gemälde sagen: „Was ist dieses Gemälde? Es ist absolut nichts anderes als 700 Gramm Leinwand, drei Kilo Rahmen und dann noch 200 Gramm Farbe in Form von Pinselstrichen.“ Die Angaben selbst sind zwar nicht zu bezweifeln. Sie treffen zu. Aber werden sie dem Bild gerecht? Das Gemälde ist entschieden mehr!

Ich habe aber noch ein besseres Beispiel: Wenn alles, was wir tun, durch rein physikalische und chemische Prozesse festgelegt ist, so sind wir nichts anderes als Marionetten, Bio-Maschinen und Roboter. Menschliche Zuneigung ist dann eine Wunschvorstellung, Liebe eine Illusion. Doch wir wissen genau: Das Faszinierende an der Liebe ist gerade, dass sich mir der andere in Freiheit zuwendet. Wenn seine Zuwendung nichts als Steuerung und Zwang wäre, könnte ich sie auf die Dauer nicht ertragen. Einen Roboter benutzt man, aber man liebt ihn nicht.

Selbstverständlich setzen wir nicht den lieben langen Tag Akte der Freiheit. Das meiste von dem, was wir tun, ist zur Gewohnheit gewordene Regel, ist Ritual und Routine. Aber dann kann die Stunde kommen, wo wir entscheiden müssen, was wir zu wählen haben, und wo wir schließlich in Freiheit das tun, was in vielen kleinen Schritten gereift ist.

Im Übrigen ist es schon seltsam: Gerade diejenigen Hirnforscher, die Willensfreiheit konsequent leugnen, geben sich größte Mühe, dass wir ihre Sichtweise übernehmen. Sie sagen wörtlich: „Wir sollten endlich aufhören, von Freiheit zu sprechen!“ So etwa der Neurophysiologe Wolf Singer! Das ist nichts anderes als ein Appell an uns. Ein Appell aber setzt selbstverständlich Freiheit voraus. Es sei denn, der Satz „Wir sollten endlich aufhören …“ sei als eine Art Zauberformel gedacht, die magisch und unwiderstehlich wirken soll. Wissenschaftler in der Rolle von Magiern? Man sieht: Wer die Willensfreiheit leugnet, verwickelt sich unweigerlich in Selbstwidersprüche.

Herr Westerkamp, es kann sein, dass Ihnen und Ihrer Frau all das eine Selbstverständlichkeit ist, und dass Sie beide in dieser Hinsicht überhaupt keine Probleme haben. Sie lieben Ihre Tochter und wissen, dass diese Liebe mehr ist als tierischer Instinkt oder...