Prophet der Finsternis - Leben und Visionen des Alois Irlmaier

von: Manfred Böckl

SüdOst Verlag, 2018

ISBN: 9783955877248 , 304 Seiten

4. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Prophet der Finsternis - Leben und Visionen des Alois Irlmaier


 

PROLOG


Galizien/Herbst 1916

Die Waldlichtung am Nordrand der Karpaten hätte idyllisch wirken können, wären da nicht die zersplitterten Baumleichen und der beißende Pulverqualm gewesen, den der Wind von der unregelmäßig feuernden österreichischen Haubitzenbatterie ein Stück weiter hinten herantrieb. Hinzu kamen die fauligen Ausdünstungen der Schlammlöcher, die sich mit dem scharfen Gestank des Kordits mischten und ganze Wolken von Schmeißfliegen auszubrüten schienen. Außerdem war da das Orgeln der russischen Granaten, welche immer wieder über den Forst hinwegrauschten, um Sekunden später im rückwärtigen Frontabschnitt zu detonieren.

„Zur Hölle mit diesem verfluchten Galizien!“, knurrte einer der drei Soldaten, die auf ein paar leeren Munitionskisten am Rand der geschändeten Waldblöße hockten und soeben die letzten Reste Erbseneintopf aus ihren Kochgeschirren gekratzt hatten. Unbehaglich rieb er seinen schütteren Bart. „Ich hab’s im Urin, dass wir heute noch gewaltig Zunder kriegen werden!“

„Mal’ den Teufel nicht an die Wand!“, versetzte der Korporal neben ihm. „Seit dem Morgen ist’s ruhig hier vorne. Der Iwan deckt lediglich die Nachschublinien ein, und wenn du mich fragst, wird’s auch noch eine Weile so bleiben.“ Der Unteroffizier wandte sich dem dritten Mann zu: einem Gefreiten mit scharf ausgeprägter Nase, kantigem Kinn, schmalen Lippen und ungewöhnlich dunklen, fast schwarzen Augen. „Oder was meinst du, Irlmaier?“

Der Gefreite setzte zu einer Antwort an, unterbrach sich aber, weil erneut mehrere großkalibrige russische Geschosse über das Waldstück heulten und fast gleichzeitig auch die Haubitzen feuerten. Erst als der Lärm wieder abflachte, entgegnete er kurz angebunden im oberbayerischen Idiom: „Weiß ich’s? Ich weiß bloß eines: Der Krieg ist ein Wahnsinn!“

Die beiden anderen Uniformierten nickten, dann zog der Korporal einen Fetzen Zeitungspapier und ein Päckchen Tabak aus der Tasche. Während der Machorka – er stammte aus dem Brotbeutel eines gefallenen Kosaken – auf das Papier rieselte, las der Unteroffizier murmelnd einige Zeilen aus dem deutschen Heeresbericht vor: „Im Westen nichts Neues! Materialschlacht an der Somme dauert an, dennoch gibt sich der Chef des Generalstabes, General Falkenhayn, zuversichtlich …“

„Ganz genau die gleiche Soße wie hier im Osten“, unterbrach der Bärtige. „Die Chargierten spucken große Töne, und wir Grabenschweine können im Dreck verrecken!“

„Wär’s dir lieber, die Russen würden zu einer weiteren Offensive antreten?“ Geschickt rollte der Korporal seine Zigarette, dann setzte er hinzu: „So wie vor vier Monaten, Anfang Juni, als der Iwan um ein Haar den gesamten Südabschnitt der Front überrannt hätte und mehr als dreihunderttausend Gefangene machte, ehe wir ihn mit Mühe und Not wieder zum Stehen bringen konnten! – Nein, da ist’s immer noch besser, es bleibt beim Stellungskrieg; wenn’s sein muss, den ganzen Winter hindurch und bis ins neue Jahr 1917 hinein.“

„Weihnachten in Galizien! Das hat uns gerade noch gefehlt!“ Der Infanterist, der zwischen dem Gefreiten und dem Unteroffizier saß, griff nach seinem Kochgeschirr und hängte es ans Koppel. „Stille Nacht zwischen Juden, Polacken und Ukrainern in einem dieser verlausten Dörfer, sofern wir überhaupt ein Ruhequartier von innen sehen werden!“ Abrupt stand er auf und marschierte quer über die Lichtung davon: auf einen der Unterstände zu, die sich unmittelbar hinter den Schützengräben in regelmäßigen Abständen über das morastige Gelände verteilten.

„Dabei hatten wir geglaubt, der Krieg wäre in ein paar Monaten vorbei, als wir Anno vierzehn ins Feld rückten“, murmelte der Korporal. „Und jetzt sind’s schon gut zwei Jahre, dass wir hier draußen …“

Er erstarrte, im nächsten Moment kam sein entsetzter Schrei: „Achtung! Feuerüberfall!“

Unmittelbar darauf gellte der Warnruf Irlmaiers zu dem Bärtigen hinüber, der inzwischen etwa zwanzig Schritte entfernt war: „Weg, Richard! Du rennst direkt in die …“

Der Rest ging in einem ohrenbetäubenden Heulen unter; einen Herzschlag später explodierte die Granate genau neben dem Infanteristen. Die Detonation schleuderte eine Schlammfontäne und blutige Fleischfetzen gen Himmel; gleichzeitig brachte die ungeheure Druckwelle den Gefreiten und den Unteroffizier zu Fall.

Taumelnd kamen die beiden Soldaten wieder auf die Beine und hasteten auf den nächstgelegenen Bunker zu, während nun abermals eine Salve der schweren russischen Geschosse heranorgelte. Auch diesmal gab es Tote und Verwundete; Irlmaier und der Korporal jedoch schafften es mit knapper Not, den Unterstand zu erreichen.

Der Gefreite voran, hechteten sie ins Innere des Erdbunkers, prallten dort gegen die Leiber anderer Uniformierter. Einige keuchende Atemzüge lang blieben sie wie gelähmt liegen; dann trieb ein gurgelnder Todesschrei, der von draußen hereindrang, sie zur hinteren Wand des Unterstandes. Zusammengekauert drückten sie sich dort gegen den glitschigen Lehm und hofften, der Bunker würde ihnen auch diesmal den Schutz bieten, den sie zum Überleben benötigten.

Nach ein paar Minuten, die dem zweiundzwanzigjährigen Alois Irlmaier wie eine Ewigkeit erschienen, sah es tatsächlich so aus, als sei das Schlimmste überstanden. Die Granateinschläge entfernten sich; das Feuer schien sich jetzt auf einen benachbarten Frontabschnitt zu konzentrieren.

„Verdammt, das war knapp!“, stieß der Unteroffizier atemlos hervor. Er erhob sich aus seiner knienden Stellung, rutschte aus, fand Halt an einer der Balkenverstrebungen des Unterstandes und reichte dann dem Gefreiten die Hand, um ihm ebenfalls auf die Beine zu helfen. Auch die vier Soldaten, die sich bereits zuvor im Erdbunker aufgehalten hatten, lösten sich aus ihrer Erstarrung. Einer von ihnen, der am Uniformärmel eine Rot-Kreuz-Binde trug, stolperte fluchend zum Ausgang, durch den das Brüllen der Verletzten und die hektischen Rufe nach Sanitätern hereindrangen.

„Der Richard … Ich habe ihn nicht mehr rechtzeitig warnen können!“ Fassungslos keuchte Alois Irlmaier die Worte heraus, umklammerte dabei den Unterarm des Korporals.

„Keiner hätte es gekonnt!“ Unwillig versuchte der andere, die Hand des Gefreiten abzuschütteln. Als der Zweiundzwanzigjährige seinen Griff nicht lockerte, schnauzte der Unteroffizier: „Reiß dich zusammen, Mann!“

„Nein!“ Der Schrei Irlmaiers ließ den Korporal zusammenfahren – aber der zutiefst erschrockene Ausruf galt nicht ihm, sondern dem Sanitätssoldaten, dessen Gestalt sich jetzt als scharf umrissene Silhouette direkt im Bunkereingang abzeichnete. Fast im selben Augenblick schlug mit infernalischem Heulen erneut eine Granate ein. Purpurrot glühende Lohe umhüllte den Sanitäter gleich einer blasphemischen Aura; einen Sekundenbruchteil später war dort, wo der Mann eben noch gestanden hatte, nur noch brodelnde Schwärze: ein Auf bäumen und Bersten der Erde, das eine Lawine aus Lehmbrocken, Gestein und Balkentrümmern in den Unterstand schleuderte.

Alois Irlmaier hatte das Gefühl, als presse ein ungeheuerlicher Hieb ihm die Luft aus den Lungen; noch während der fürchterliche Schlag ihm den Atem raubte, schienen die tonnenschweren Massen des zusammenbrechenden Bunkers ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen und sein Gebein zu zermalmen. Etwas Hartes traf seinen Schädel; der letzte Gedanke, den der Gefreite zu fassen vermochte, war zugleich der grauenhafteste seines kaum mehr als zwanzigjährigen Daseins: Verschüttet! Bei lebendigem Leibe begraben!

Irgendwann, nach Minuten oder Stunden, kehrte das Bewusstsein des jungen Soldaten zurück – und mit der Erinnerung an den Volltreffer auf den Unterstand kam jäh die Panik. Der zerschlagene Körper verspannte sich, versuchte gegen die grausame Last, die ihn zu zerquetschen drohte, anzukämpfen. Als Alois Irlmaier begriff, dass dies unmöglich war und er noch nicht einmal frei durchatmen konnte, brach ihm eiskalter Schweiß aus. Die salzige Flüssigkeit biss in seine Augen, brannte dort bald unerträglich und bewirkte zuletzt eine Kraftanstrengung, die aus äußerster Verzweiflung geboren war. Die Adern an Stirn und Hals des Gefreiten drohten zu platzen; dann gelang es ihm, den Kopf um einige Zentimeter zu drehen.

Blut rieselte über sein Gesicht; der warme Dunst mischte sich mit dem bitteren Geruch verbrannten Holzes: eines Balkens, der sich zwischen Wange und Schulter Irlmaiers durch Lehm und Steintrümmer gerammt und dabei einen Hohlraum gebildet hatte. Der Spalt war nur schmal, doch durch eine weitere übermenschliche Anstrengung schaffte der Verschüttete es, Mund und Nase dorthin zu bringen. Fieberhaft rang er nach Luft; nach wie vor erlaubte der Druck, der seine Rippen einschnürte, nur qualvoll flache Atemzüge – aber plötzlich fühlte der Gefreite das kaum wahrnehmbare Fächeln, das über seine Haut strich. Mit seinem ganzen Sein konzentrierte er sich auf den dünnen Sauerstoffstrom, saugte ihn in sich ein; nach einer Weile klärte sich sein Denken.

Er machte sich die Lage seiner Gliedmaßen bewusst; stellte fest, dass er zusammengekrümmt begraben war: in ähnlicher Stellung wie ein Ungeborenes im Mutterleib. Für einen Moment glaubte er, sich des Weichen und Behütenden zu entsinnen, das ihn einstmals, in seinem frühesten körperlichen Werden, umhüllt hatte. Um so schlimmer empfand er gleich darauf wieder die Realität des zusammengeschossenen Bunkers, der für ihn und die anderen, von denen kein Lebenszeichen mehr kam, zur mörderischen...