Bonfire - Sie gehörte nie dazu - Thriller

von: Krysten Ritter

Diana Verlag, 2018

ISBN: 9783641224400 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 12,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Bonfire - Sie gehörte nie dazu - Thriller


 

1

Zwei Meilen hinter der Ausfahrt nach Barrens wird der State Highway 59 zur Plantation Road. Das alte Holzschild ist leicht zu übersehen, selbst in dieser farblosen Umgebung. Ich schaffe es jetzt schon seit Jahren, auf Fahrten von Chicago nach New York ohne Angst daran vorbeizufahren. Ich halte dann den Atem an, zähle bis fünf, atme aus – lasse Barrens hinter mir, ohne dass der Schatten der Vergangenheit aus dem Gebüsch kriecht und über mich herfällt.

Es ist ein Spiel, das ich als Kind gespielt habe. Wenn mir etwas Angst machte oder wenn ich im Dunkeln in den alten Schuppen im Garten gehen musste, habe ich den Atem angehalten. Und solange ich das tat, konnte mir niemand etwas anhaben, kein Axtmörder und kein Monster aus einem Horrorfilm. Ich hielt den Atem an und rannte so schnell ich konnte, bis ich mich im Haus in Sicherheit gebracht und die Tür hinter mir zugeschlagen hatte. Ich habe sogar Kaycee das Spiel beigebracht, als wir noch Kinder waren und uns noch nicht gehasst haben.

Es ist vielleicht etwas peinlich, aber ich mache das immer noch. Und das Verrückte ist, dass es funktioniert.

Meistens jedenfalls.

Allein, eingeschlossen auf der Toilette einer Tankstelle, schrubbe ich mir die Hände, bis die Haut rissig wird und Blut ins Waschbecken tropft. Es ist das dritte Mal, dass ich mir die Hände wasche, seit ich über die Grenze nach Indiana gefahren bin. In dem angelaufenen Spiegel über dem Becken sieht mein Gesicht bleich und angespannt aus. Die Erinnerungen, sie sind wieder da.

Das war keine gute Idee.

Ich öffne die Toilettentür und blinzle in die frühe Morgensonne, als ich in meinen Wagen steige.

An der Ausfahrt fahre ich an einem Hirschkadaver vorbei, über dem Fliegen summen. Der Kopf des Tiers ist noch erstaunlich intakt und sieht beinahe schön aus, das Maul zu einem letzten Seufzer geöffnet. Ich frage mich, ob der Hirsch von einem Auto angefahren oder von einer Kugel getroffen wurde. Normalerweise werden überfahrene Tiere ziemlich schnell fortgeschafft, in einen Räucherofen gehängt und zu Dörrfleisch verarbeitet. Mit siebzehn habe ich mal mit meinem alten Ford Echo einen Hirsch überfahren. Der war schneller weg, als ich abgeschleppt wurde. Aber diesen Hirsch hat aus irgendeinem Grund niemand angerührt.

Die Jagd ist eine beliebte Freizeitaktivität in Barrens – oder vielmehr die Freizeitaktivität schlechthin. Sie ist Teil der hiesigen Kultur – wenn man es denn so nennen kann. Die Jagdsaison beginnt offiziell erst im Winter, aber jedes Jahr schleichen Jugendliche schon im Herbst mit einem Sixpack, einem Scheinwerfer und dem Jagdgewehr ihres Vaters durch den Wald, um einen Bock zu schießen oder den Hirschkühen mit ihren Kälbern beim Äsen zuzusehen. Und nach ein paar Bieren feuern sie auf alles, was sich bewegt.

Mein Vater hat mich früher mit auf die Jagd genommen. Zur Festigung der Vater-Tochter-Bindung gehörte auch der regelmäßige Besuch beim Tierpräparator. Die Köpfe von Hirschen, Koyoten und Bären zieren als Trophäen die Wände meines Elternhauses. Die Fasane, die er aus der Luft holte, musste ich immer mit einem Fuß auf den Boden drücken, während er ihnen den Hals umdrehte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie er sich aufgeregt hat, als ich bitterlich um den ersten Hirsch geweint habe, den ich ihn hatte schießen sehen, wie er mich gezwungen hat, meine Hand auf den noch warmen Körper zu legen und zuzusehen, wie das Blut aus der Schusswunde drang. »Der Tod ist schön«, sagte er.

Meine Mutter war auch schön, bis der Knochenkrebs sein Werk verrichtete. Er fraß ihr das Haar vom Kopf und höhlte ihren Körper aus, bis er nur noch Haut und Knochen war. Als sie starb, sagte mein Vater zu mir, es sei ein Segen und wir sollten dankbar sein, dass der Herrgott sie zu sich genommen habe.

Ich biege von der Plantation Road auf die Route 205 ab, die irgendwann in die Main Street übergeht. Der Geruch von Kuhmist schlägt mir entgegen. Es ist Mitte Juni, das Schuljahr ist gerade zu Ende, aber es fühlt sich an wie Hochsommer. Die Felder liegen braun unter der Sonne. Nach einer weiteren Meile fahre ich an einem nagelneuen Schild vorbei: Willkommen in Barrens – 5027 Einwohner. Als ich das letzte Mal hier war, vor zehn Jahren, betrug die Einwohnerzahl gerade mal die Hälfte. Die Main Street ist zwar die Hauptstraße, aber wenn einem auf knapp fünfzehn Kilometern drei Autos entgegenkommen, ist das schon dichter Verkehr.

Ich zähle die Telefonmasten. Ich zähle die Krähen, die auf den Drähten hocken. Ich zähle die Silos am Horizont, die wie Finger aufragen. Ich verwandle alles in meinem Leben in Zahlen, in Buchhaltung. Seit zehn Jahren wohne ich jetzt in Chicago. Seit drei Jahren bin ich Rechtsanwältin. Nach einem halben Jahr selbstständiger Arbeit habe ich eine Stelle bei der Umweltschutzorganisation CEAW bekommen, dem Center for Environmental Advocacy Work.

Ich habe eine Zukunft, ein Leben, ich besitze eine helle Eigentumswohnung im Stadtteil Lincoln Park mit Bücherregalen bis an die Decke, in denen sich keine einzige Bibel findet. Ich treffe mich mit Freunden in Bars und Clubs und Kneipen in Downtown Chicago, wo die Cocktails Zutaten haben wie Flieder oder Eiweiß. Ich habe jetzt Freunde – und Liebhaber, wenn man sie so nennen will. So viele ich möchte, namenlos und ununterscheidbar. Sie gehen ein und aus in meinem Leben und teilen mit mir das Bett, wenn ich das will.

In den meisten Nächten werde ich inzwischen sogar nicht mehr von Albträumen heimgesucht.

Ich habe mir oft geschworen, nie wieder nach Hause zu fahren. Jetzt weiß ich es besser. Jedes Selbsthilfebuch der Welt sagt einem, dass man vor seiner Vergangenheit nicht davonlaufen kann.

Ich habe meine Wurzeln in Barrens. Wenn diese Wurzeln ein für alle Mal gekappt werden sollen, muss ich das selber tun.

Main Street. Das Haus, das einmal die Kirche beherbergt hat – ein einstöckiger, fensterloser Betonbau, wo wir jeden Sonntag hingingen, bis mein Vater zu dem Schluss kam, dass der Pfarrer die Heilige Schrift zu lax auslegte und vor allem den Schwulen gegenüber zu tolerant war –, ist jetzt eine »White Castle«-Burgerbude. An dem Gebäude, in dem sich früher die Bibliothek befand, wohin meine Mutter mit mir gern zur Märchenstunde ging, prangt jetzt ein Schild mit der Aufschrift Johnny Chow’s Oriental Buffet. In meiner Jugendzeit gab es im ganzen Ort kein einziges Restaurant.

Aber vieles ist auch unverändert: Das Neonschild des Veteranenvereins VFW flackert immer noch, und Mel’s Pizza, wo ich manchmal nach der Schule mit dem Rad hingefahren bin, um mir ein Stück Pizza zu holen, liefert immer noch Teigwaren aus. Der »Jiffy Lube Pit Stop« ist noch da, auch »Jimmy’s Autoteile« und der runtergekommene Pornoladen, der früher Kaycee Mitchells Vater gehörte. Und ihm vielleicht immer noch gehört, was weiß ich. Aber das »Temptations« hat ein neues Dach und eine neue Leuchtreklame. Der Laden scheint also zu brummen.

Ich entdecke eine Krähe auf einem Telefonkabel über mir, eine zweite etwas weiter entfernt. Eine für Leid, zwei für Freud’

Abseits der Main Street sieht nichts mehr so aus wie früher: nagelneue Reihenhäuser, ein Möbelhaus, ein italienisches Restaurant, das im Schaufenster eine Salatbar anpreist. Nichts wirkt vertraut, bis auf den Schrotthändler und das Drive-in-Kino gleich dahinter. Das Kino war der Schauplatz unzähliger Geburtstagspartys mit den Kindern aus der Sonntagsschule und auch eines deprimierenden Thanksgiving, kurz nach der Beerdigung meiner Mutter. Es war die Hauptattraktion im Ort, bis »Optimal Plastics« nach Barrens kam.

Noch mehr Krähen auf den Telefonkabeln. Drei, vier, fünf, sechs … sieben, eine Hex’ kocht Rüben. So viele Krähen.

Wieder hier zu sein schnürt mir die Brust und die Kehle zu. Ich umfasse das Lenkrad fester. An der ersten roten Ampel – an der einzigen Ampel von Barrens – hole ich tief Luft und schließe die Augen. Diesmal hab ich die Situation im Griff.

Der Typ hinter mir hupt ungeduldig. Die Ampel ist auf Grün gesprungen. Ich gebe ein bisschen zu viel Gas und schieße auf die Kreuzung. Als ich aus dem Augenwinkel ein vertrautes orangefarbenes Schild bemerke, setze ich, ohne nachzudenken, den Blinker und biege auf den Parkplatz des Donut Hole ein – das ebenso wie das Drive-in-Kino unverändert ist.

Ich schalte den Motor ab. Bleibe sitzen. Nach wenigen Sekunden ohne Klimaanlage wird es entsetzlich heiß im Auto. Draußen ist es bereits um diese frühe Zeit über fünfundzwanzig Grad warm, viel wärmer als in Chicago. Und furchtbar schwül. Ich kämpfe mich aus meiner Lederjacke und nehme meine Handtasche vom Beifahrersitz. Ich brauche einen Schluck Wasser.

Als ich gerade die Tür öffne, fährt ein blauer Subaru in die Parklücke neben mir. Er bremst so plötzlich, dass ich zusammenzucke. Der Fahrer hupt zweimal.

Ich steige aus, genervt darüber, wie dicht der Subaru neben mir geparkt hat, und in dem Moment sehe ich, dass die Fahrerin mich anlächelt und mir mit beiden Händen zuwinkt. Sie zeigt fragend auf das Donut Hole, und ich habe den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um mich zu entscheiden, ob ich wieder in mein Auto steigen, nach Chicago zurückfahren und die ganze Sache vergessen soll oder nicht. Aber plötzlich bin ich wie gelähmt. Irgendwann im Lauf meines Lebens hat mein Kampf-oder-Flucht-Instinkt sich in etwas verwandelt, das mir befiehlt: Halt still, mach dich unsichtbar, und warte, bis es vorbei ist.

Misha Dale....