John Sinclair 2092 - Wolfsmond über Sydney

von: Rafael Marques

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732568154 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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John Sinclair 2092 - Wolfsmond über Sydney


 

Sydney, Australien, Gegenwart

»Ich glaube, ich habe einen Hörschaden.«

Joe grinste hämisch. »Tja, das kommt davon, wenn man unbedingt in der ersten Reihe stehen will. Ich habe dich ja gewarnt, aber du wolltest nicht hören. Und jetzt hörst du überhaupt nichts mehr.«

Tara Halis sah ihn böse an. Er liebte diesen Ausdruck auf dem Gesicht seiner Frau. Sie konnte einen noch so eiskalten Blick auflegen, er wusste trotzdem immer, dass sie es nicht ernst meinte. Im Gegenteil, sie mochte seine kleinen Scherze, wollte es aber nie so ganz zugeben.

»Sehr witzig«, entgegnete sie. »Wird Zeit, dass ich dir auch mal die Ohren langziehe.«

Tara bekam tatsächlich sein linkes Ohr zu fassen und zog so heftig daran, dass Joe zur Seite taumelte und gegen sie stieß. Die Schmerzen raubten ihm fast den Atem. Wenigstens war seine Frau so gnädig, ihn nach wenigen Sekunden wieder loszulassen.

»Das sollte als Hörschaden reichen«, bemerkte sie grinsend.

»Zu gütig von dir.«

»Tja, so bin ich.«

Wenn Joe ehrlich zu sich selbst war, dann erging es ihm nicht anders als Tara. Auch er hatte unbedingt in der ersten Reihe stehen wollen, um die Jungs von Billy Talent einmal aus der Nähe zu erleben. Das Klingeln in seinen Ohren würde irgendwann auch wieder vergehen. Aber das war es ihm wert gewesen, ebenso wie die horrenden Ticketpreise.

Seit feststand, dass Teile der Concert Hall des Sydney Opera House kommendes Jahr für einige Zeit wegen Sanierungsarbeiten geschlossen werden würden, waren die Eintrittspreise rein zufällig rasant in die Höhe geschnellt.

Andererseits konnte er es sich auch leisten. Er hatte im Aktiengeschäft ein kleines Vermögen erwirtschaftet, weshalb er mit 35 einen Schlussstrich unter seine Karriere gezogen hatte und jetzt einfach das Leben genoss – gemeinsam mit seiner Frau. Regelmäßige Konzertbesuche gehörten da natürlich dazu.

»Wohin jetzt noch?«, fragte Tara. Sie war fünf Jahre jünger als er. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den großen Rehaugen strahlte wieder mal eine unbändige Freude aus. So kannte er sie, seit er ihr kurz vor seinem Schulabschluss das erste Mal begegnet war.

»Du hast wohl immer noch nicht genug.«

»Du etwa?«

»Mit Sicherheit nicht.«

»Also, was sollen wir tun?«

»Erst mal legen wir einen kleinen Spaziergang durch den Park ein.«

Tara kannte seine Vorliebe für nächtliche Wanderungen durch die Natur. Gerade bei Vollmond bildete sich zwischen den Bäumen eine ganz besondere Atmosphäre, die ihm jedes Mal einen Schauer über den Rücken rinnen ließ. Wenn dann noch die Oberfläche des durch den Royal Botanic Garden fließenden Bachs im kalten Mondschein zu glitzern begann, war es um ihn geschehen. Der Abend war noch recht warm. Vielleicht würden es Tara und er sich gleich in dem Park gemütlich machen.

»Ich weiß genau, woran du denkst«, erklärte seine Frau.

»Und?«

Sie lächelte. »Du kennst die Antwort.«

»Dann los!«

Der Royal Botanic Garden begann quasi direkt dort, wo das Areal des Opera House endete. Selbst bei Nacht waren die größeren der durch dieses Gebiet führenden Wege hell erleuchtet. Joe hielt sich nicht gerne im Bereich der Straßenlaternen auf, eher zwischen den alten Bäumen mit ihrem weit verzweigten Geäst. Dort war es zu zweit auch um einiges gemütlicher.

Selbst bei Nacht war die Luft von den Düften der exotischen Pflanzen angefüllt. Joe sog sie tief in sich ein. Dabei wanderte sein Blick über die nahe Skyline. Die teils erleuchteten Wolkenkratzer, die direkt hinter der Grenze des Botanischen Gartens in die Höhe wuchsen, gaben der gesamten Umgebung etwas Surreales.

»Träumst du schon, oder was?«, riss ihn Tara in die Realität zurück. Sie war schon vorgelaufen und stand im Schatten einiger eng nebeneinander wachsender Linden. Nicht weit entfernt glitzerte die Oberfläche eines der zahlreichen Teiche im Mondlicht.

»Ja, nur von dir«, rief er ihr hinterher.

»Das hoffe ich doch.«

Tara lachte und verschwand in der Dunkelheit. Joe sah sich noch einmal um. Außer ihnen befand sich zurzeit niemand in diesem Bereich des Parks. Er hoffte, dass das auch so blieb. In einer Großstadt wie Sydney konnte man das nie wissen.

Er wollte schon loslaufen, als ihn etwas erstarren ließ. Es war ein lautes Heulen wie das eines Wolfs. Über mehr als zehn Sekunden schallte es durch den nächtlichen Botanic Garden, bis es unwillkürlich abbrach.

Plötzlich fröstelte er. Das Geheul war ganz in seiner Nähe aufgeklungen, sicher nicht einmal hundert Meter entfernt. Von einem Tier sah er jedoch nichts, weder einen Hund noch einen Wolf. Eigentlich kannte er Letztere nur aus dem Fernsehen, vor allem, da sie in Australien nicht vorkamen. Er schalt sich einen Narren, überhaupt an Wölfe gedacht zu haben. Sicher war hier irgendwo ein streunender Hund unterwegs, aber selbst das war ihm nicht ganz geheuer.

Er wusste erst nicht, warum er unwillkürlich zu dem hell leuchtenden Erdtrabanten hinaufblickte. Bis ihm einfiel, dass alten Legenden nach bei Vollmond sich normale Menschen in Werwölfe verwandeln konnten. Zumindest versuchten zahlreiche Autoren und Filmemacher, einem das glaubhaft zu machen.

»Tara?«, rief er.

Eine Antwort erhielt er nicht. Wahrscheinlich war sie schon zu weit vorgelaufen. Joe sah sich noch einmal um, bevor er ihr zu folgen begann. Von dem Hund war immer noch nichts zu sehen.

Wenn er ehrlich zu sich selbst war, war die heitere Abendstimmung inzwischen verflogen. Dabei ärgerte er sich über sich selbst. Ein Hund heulte, und schon ging ihm die Fantasie durch. Sonst war er doch auch nicht so leicht zu beeinflussen.

»Tara? Wo steckst du?«

Diesmal erhielt er eine Antwort, wenn auch anders, als er erwartet hatte. Aus dem Schatten des Baumes erklang ein gurgelnder Laut. Fast so, als würde jemand keine Luft mehr bekommen. Schon nach wenigen Sekunden erstarb das Geräusch wieder.

Joe lief es eiskalt den Rücken herunter. Plötzlich hatte er das Gefühl, als würden tonnenschwere Bleigewichte seine Arme und Beine zu Boden ziehen. Er wollte zu Tara laufen, doch er konnte einfach nicht.

»Reiß dich zusammen, verdammt!«, redete er sich selbst zu. Und tatsächlich gelang es ihm, seine Panikattacke zu überwinden.

Er lief einige Schritte vor, bis er abrupt abstoppte. Eine Gestalt wankte ihm aus der Dunkelheit entgegen. Er sah eine Frau mit bauchfreiem, hellblauen Shirt und dunklen Jeans – Tara. Etwas stimmte mit ihr nicht. Sie presste beide Hände gegen den Hals. Zudem torkelte sie mehr, als dass sie lief.

»Tara, was …«, begann er, brach jedoch schnell wieder ab.

Tara senkte ihre Arme. Ihre Kehle hatte sich in eine einzige, grauenvolle Wunde verwandelt, aus der unentwegt Blut sprudelte. Es glich einem Wunder, dass sie sich überhaupt noch auf den Beinen hielt.

Joe wollte etwas sagen, schüttelte aber nur den Kopf. Er fühlte sich so taub, als würde er nicht mehr in seinem Körper stecken. Was er sah, war so schrecklich, dass er glaubte, den Verstand zu verlieren.

Seine Frau hielt sich nur noch wenige Momente auf den Beinen. Dann sackte sie in die Knie und verdrehte die Augen so weit, dass die Pupillen komplett verschwanden. Schließlich brach sie endgültig zusammen und blieb leblos auf dem Rasen liegen. Dabei strömte unentwegt neues Blut aus ihrer Kehle.

»Nein, nein …«, flüsterte er und presste beide Hände gegen das Gesicht. »Oh Gott!«

Direkt hinter Tara erklang ein unheilvolles Knurren. Erneut schälte sich etwas aus der Dunkelheit hervor. Joe entdeckte innerhalb des Zwielichts die Silhouetten zweier Tiere. Hunde waren das auf keinen Fall, dafür waren sie viel zu groß. Auch keine Dingos. Sie sahen aus wie Wölfe, jedoch mehr wie eine mutierte Abart. Aus dem Maul der rechten Kreatur tropften Blut und Fleischfetzen.

Als Joe das sah, wollte er nur noch eines – überleben. Mit einem lauten Schrei wirbelte er im Stand herum und rannte los. Doch die Wölfe ließen ihn nicht entkommen. Er hörte ihr Knurren und Hecheln. Von Sekunde zu Sekunde wurde es lauter, bis etwas mit Wucht gegen seinen Rücken stieß. Joe verlor das Gleichgewicht, stolperte noch über seine eigenen Beine und stürzte zu Boden.

Den ersten Biss spürte er noch, auch den zweiten, der seinen rechten Arm zerfetzte. Als sich die überlangen Reißzähne um seine Kehle legten, verlor er das Bewusstsein.

Australien hatte mich wieder!

Es kam selten genug vor, dass mich, John Sinclair, ein Fall nach Down Under führte. Deshalb versuchte ich zumindest ansatzweise, die klare Luft, den blauen Himmel und den Ausblick auf das nahe Meer zu genießen. Zumindest war mir das im Flugzeug noch möglich gewesen.

Inzwischen befand ich mich in der Ankunftshalle des Kingsford Smith International Airport in Sydney und versuchte, mich in der für mich völlig neuen Umgebung zu orientieren.

Mein letzter Besuch in Australien hatte mich nach Townsville geführt, wo ich einem uralten Aborigine-Fluch und einem Totengeist auf die Spur gekommen war. Es war mir nicht schwergefallen, mich an diesen Fall zu erinnern, immerhin war dabei ein australischer Kollege von mir, der mir sehr sympathisch gewesen war, ums Leben gekommen. Und das bei dem Versuch, die Ermittlungen seines verstorbenen Vaters zu Ende zu bringen. Die Szene, in der er quasi in meinen Armen gestorben war, während ein Speer in seiner Brust gesteckt hatte, war mir immer noch so präsent, als wäre es gestern erst geschehen.1)

Etwa eine...