Führen Sie mich in Versuchung, Mylord!

von: Mary Balogh

CORA Verlag, 2018

ISBN: 9783733734114 , 264 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 5,99 EUR

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Führen Sie mich in Versuchung, Mylord!


 

1. KAPITEL

Percival William Henry Hayes, Earl of Hardford, Viscount Barclay, war über alle Maßen, massiv und kolossal gelangweilt. Wobei ihm natürlich kar war, dass sämtliche dieser Beschreibungen sich im Grunde genommen auf dasselbe Phänomen bezogen, aber ganz ehrlich: Er war geradezu gelähmt vor Langeweile. Er war fast schon zu gelangweilt, um sich aus dem Sessel zu hieven und zur Anrichte auf der anderen Seite des Raums zu begeben, um sein Glas nachzufüllen. Nein, er war eindeutig zu gelangweilt dafür. Oder möglicherweise auch einfach zu betrunken. Eventuell hatte er nämlich bereits einen ganzen Ozean an Spirituosen in sich aufgenommen.

Er feierte seinen dreißigsten Geburtstag, beziehungsweise er hatte ihn gefeiert. Denn vermutlich war es längst nach Mitternacht, was wiederum bedeuten würde, dass sein Geburtstag inzwischen hinter ihm lag und damit auch seine sorglosen, ausschweifenden, nutzlosen Zwanzigerjahre.

Er lümmelte, wie er einigermaßen erfreut feststellte, in seinem mit weichem Leder bezogenen Lieblingssessel neben dem Kamin in der Bibliothek seiner Stadtvilla. Allerdings war er nicht allein, wie es sich um diese nachtschlafende Zeit eigentlich geziemt hätte, egal um welche verdammte Zeit es sich genau handeln mochte. Durch den Nebel seines Alkoholrauschs waberte die vage Erinnerung an eine Feier im White’s Club, im Kreis einer befriedigend großen Meute seiner Kumpane, vor allem, wenn man berücksichtigte, dass es erst Anfang Februar war – und kein Mitglied der feinen Gesellschaft sich freiwillig in London aufhielt.

Der Geräuschpegel, erinnerte er sich weiter, war im Laufe des Abends derart eskaliert, dass etliche der älteren Mitglieder missbilligend die Stirn gerunzelt hatten – was für ein Haufen verkalkter Tattergreise. Selbst die sonst so unerschütterlichen Kellner zeigten erste Anzeichen von Anspannung und Unsicherheit angesichts eines mehr als heiklen Dilemmas: Wie sollte man einen Schwarm betrunkener, zum Teil adliger Gentlemen rausschmeißen, ohne besagte Gentlemen samt all ihrer Angehörigen bis in die nächsten (und vergangenen) drei bis vier Generationen aufs Nachhaltigste zu beleidigen? Aber wie sollte man sie nicht rausschmeißen, wenn doch diesbezügliche Zurückhaltung den Zorn der gleichermaßen hochgeborenen Tattergreise hervorrufen würde?

Irgendeine annehmbare Lösung musste sich jedoch gefunden haben, denn hier saß er nun, in seinem eigenen Haus, umgeben von einer kleinen Truppe treuer Kameraden. Die anderen mussten sich zu anderen Orgien weitergeschleppt haben oder waren vielleicht auch einfach zu Bett gegangen.

„Sid.“ Er drehte den Kopf an der Rücklehne des Sessels, ohne das Risiko einzugehen, ihn zu heben. „Habe ich deiner geschätzten Meinung nach heute Abend den Ozean leer getrunken? Ich wäre überrascht, wenn es anders wäre. Hat mich nicht jemand dazu herausgefordert?“

Der Ehrenwerte Sidney Welby starrte leeren Blicks ins Feuer – oder zumindest dorthin, wo ein Feuer geflackert hatte, bevor es heruntergebrannt war, weil sie versäumt hatten, Kohle aufzuschütten oder einen Diener mit dieser Handreichung zu beauftragen. Er furchte nachdenklich die Stirn, bevor er sich zu einer Antwort durchrang. „Das hättest du gar nicht geschafft, Perce“, murmelte er dann. „Wird doch spän… ständig ersetzt, von Flüssen und Strömen und so. Bächen und Rinnsalen. So schnell wie man ihn leert, wird nachgefüllt.“

„Und außerdem regnet es von oben drauf“, ergänzte Cyril Eldrige hilfsbereit. „Genau wie aufs Festland. Es kommt dir nur so vor, als ob du ihn ausgetrunken hättest. Aber falls er wirklich ausgetrocknet sein sollte, schließlich hat’s ja länger nicht geregnet, dann waren wir alle daran beteiligt. Mein Kopf wird sich morgen früh mindestens drei Mal größer als sonst anfühlen, und verdammt noch mal, ich habe den starken Verdacht, dass ich versprochen habe, meine Schwestern zur Bibliothek oder irgend so was zu begleiten, und wie du weißt, Percy, wird meine Mutter ihnen nicht erlauben, nur mit einer Zofe als Begleitung zu gehen. Und wie ich sie kenne, bestehen sie auch noch drauf, im Morgengrauen aufzubrechen, damit ihnen nur ja niemand zuvorkommt und sämtliche lesenswerten Bücher vor der Nase wegschnappt. Von denen es, meiner tiefsten Überzeugung nach, allerdings auch nicht allzu viele gibt. Was machen die alle überhaupt schon so früh hier in der Stadt? Beth hat ihr Debüt schließlich erst nach Ostern, und so viele Kleider kann sie doch nicht brauchen. Oder doch? Was weiß ein Bruder schon. Absolut gar nichts, wenn man meinen Schwestern glaubt.“

Cyril war einer von Percys zahlreichen Cousins und Cousinen. Es gab zwölf davon auf der väterlichen Seite der Familie, die Söhne und Töchter der vier Schwestern seines Papas, und dreiundzwanzig auf mütterlicher Seite, jedenfalls nach letztem Stand der Dinge. Allerdings meinte er sich zu entsinnen, dass seine Mama kürzlich erwähnte, Tante Doris, ihre jüngste Schwester, sei erneut in delikaten Umständen, zum ungefähr zwölften Mal. Ihr Nachwuchs stellte einen großen Teil jener dreiundzwanzig, demnächst dann also vierundzwanzig. Sämtliche Cousins und Cousinen waren reizend. Alle liebten ihn, und er liebte sie alle, und natürlich auch alle seine Onkel und Tanten. Nie gab es eine inniger verbundene, liebevollere Sippe als die seine, und zwar auf beiden Seiten. Ich bin wirklich, resümierte Percy trübsinnig, der Glücklichste aller Sterblichen.

„Bei der Wette ging es übrigens darum, dass du Jonesey vor Mitternacht ins Koma trinken kannst, Perce“, informierte ihn Arnold Biggs, Viscount Marwood. „Eine beachtliche Leistung. Er ist um zehn vor zwölf unter den Tisch gerutscht. Sein Schnarchen hat uns dann die Entscheidung erleichtert, White’s zu verlassen. Es war wirklich äußerst störend.“

„So war das also.“ Percy gähnte herzhaft. Ein Geheimnis der Nacht gelüftet. Er hob sein Glas, setzte es aber, sobald ihm einfiel, dass es leer war, wieder schwungvoll auf dem Tisch neben seinem Sessel ab. „Teufel noch mal, das Leben ist verflucht langweilig geworden.“

„Morgen geht’s dir wieder besser, sobald der Schreck, dreißig geworden zu sein, sich gelegt hat“, tröstete Arnold. „Oder meine ich heute und gestern? Ja, das tue ich. Der kleine Zeiger der Uhr auf dem Kaminsims steht auf drei, und ich glaube ihm. Doch da die Sonne nicht scheint, muss es wohl noch mitten in der Nacht sein. Obwohl – um diese Jahreszeit ist es immer mitten in der Nacht.“

„Wie kannst du von Langeweile reden, Percy?“, erkundigte Cyril sich. „Du hast alles, was ein Mann sich wünschen kann. Alles.“

Percy ließ seine Gedanken über die zahlreichen Vorteile schweifen, die das Leben für ihn bereithielt. Cyril hatte natürlich in gewisser Weise recht, das ließ sich nicht leugnen. Nicht nur, dass er die bereits erwähnte große und liebevolle Familie hatte, er war auch noch als einziger Sohn zweier Eltern aufgewachsen, die ihn gleichermaßen anbeteten. Ja, es hatte sich sogar ergeben, dass er der einzige Nachwuchs geblieben war – obwohl sein Vater und seine Mutter offenbar weiterhin tapfer versucht hatten, das Kinderzimmer mit Brüdern und Schwestern für ihn zu bevölkern. Sie hatten ihn mit allem überhäuft, was er möglicherweise wollen oder brauchen könnte, und verfügten über die nötigen Mittel, es mit Stil zu tun.

Sein Urgroßvater väterlicherseits hatte sich als jüngerer Sohn und daher nur „Ersatzerbe“ eines Earls als vornehmer Geschäftsmann etabliert und den Grundstock eines bemerkenswerten Vermögens gelegt. Sein Sohn, Percys Großvater, machte daraus ein gewaltiges Vermögen, das er noch vermehrte, indem er eine wohlhabende, sparsame Frau heiratete, der man nachsagte, jeden Penny mehrmals umgedreht zu haben, bevor sie ihn ausgegeben hatte. Percys Vater erbte den ganzen Reichtum, abgesehen von einer mehr als großzügigen Mitgift für jede seiner vier Schwestern. Und dann verdoppelte und verdreifachte er sein Vermögen durch kluge Anlagestrategien und heiratete seinerseits eine Frau, die eine beachtliche Mitgift in die Ehe einbrachte.

Seit dem Tod seines Vaters vor drei Jahren war Percy so reich, dass er die Hälfte seines verbleibenden Lebens damit hätte verbringen können, die Pennys zu zählen, die seine Großmutter so sorgfältig gehütet hatte. Oder auch die Pfundmünzen, wenn er schon dabei war. Und dann war da noch Castleford House, das riesige, florierende Anwesen in Derbyshire, das sein Großvater einst erworben hatte – angeblich mit einem Bündel Banknoten –, um der Welt seine Bedeutung zu demonstrieren.

Percy sah auch gut aus. Es gab keinen Grund, diesbezüglich falsche Bescheidenheit an den Tag zu legen. Selbst wenn sein Spiegel hätte lügen sollen oder seine Wahrnehmung dessen, was der Spiegel ihm zeigte, irgendwie verzerrt gewesen wäre, blieb doch die Tatsache bestehen, dass ihm, wo immer er auftauchte, bewundernde, mitunter auch neidische Blicke folgten, von Männern wie Frauen. Er entsprach, wie nicht wenige Menschen ihn hatten wissen lassen, dem Ideal des attraktiven, hochgewachsenen, dunkelhaarigen romantischen Helden. Außerdem erfreute er sich, toi, toi, toi, seit eh und je fantastischer Gesundheit. Er klopfte sicherheitshalber auf Holz, genauer gesagt: auf die Tischplatte neben ihm, was sowohl das leere Glas als auch Sid hochspringen ließ. Und er besaß noch alle seine Zähne, die ordentlich gepflegt und schön weiß waren.

Er war intelligent. Als Junge wurde er von drei Hauslehrern unterrichtet, weil seine Eltern es nicht über sich brachten, ihn aufs...