Männliche Depression - Warum verletzte Helden anders ticken und eigene Auswege brauchen. Mit 5-Schritte-Programm

Männliche Depression - Warum verletzte Helden anders ticken und eigene Auswege brauchen. Mit 5-Schritte-Programm

von: Jens-Michael Wüstel

Beltz, 2018

ISBN: 9783407865472 , 247 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Männliche Depression - Warum verletzte Helden anders ticken und eigene Auswege brauchen. Mit 5-Schritte-Programm


 

Das Leiden im Verborgenen


Wenn wir die Zahlen betrachten, so scheint die Angelegenheit klar. Bei Frauen wird bis zu drei Mal häufiger eine Depression diagnostiziert als bei Männern. Jedoch gibt es keine biologischen oder evolutionspsychologischen Gründe, die diesen Unterschied erklären. Vielmehr tun sich sowohl Laien als auch Therapeuten1 bis heute schwer, Männer mit der Diagnose Depression zu konfrontieren. Woran liegt das?

Männer sind Meister der Verschiebung und Verdrängung. Diese durch Sigmund Freud geprägten Begriffe beschreiben einen unbewussten Umgang mit nicht erträglichen Gefühlen. Männer haben keine Depression, sie haben stattdessen »Probleme«. Sie haben »Stress« oder ein »Burnout«. Gefühle, die nicht zugelassen werden können, erfahren eine sogenannte Besetzung in einem anderen, akzeptableren Bereich. Ein Mann, der sich alleingelassen und missachtet fühlt, verschiebt diese Affekte zum Beispiel auf seine Arbeit, seinen Chef, seine Partnerin, seine Kinder. Fortan hat er also Probleme, die er – psychologisch zunächst entlastend – versucht in den Griff zu bekommen. Da der zugrunde liegende Konflikt jedoch ungelöst bleibt, vermehren sich die Probleme im Laufe der Zeit, anstatt weniger zu werden. Der Betroffene entfernt sich außerdem immer weiter von sich selbst, ist immer weniger in der Lage, sich und seine Empfindungen adäquat wahrzunehmen.

Während depressive Frauen direkt leiden, führt der Mechanismus der Verschiebung dazu, dass der depressive Mann seine Umgebung – oftmals ungewollt – leiden lässt. Auch hier finden wir wieder die typische Verteilung von Ursachenzuschreibungen. Frauen tendieren eher dazu, eine »Schuld« bei sich zu suchen, und sie analysieren das zugrundeliegende Problem. Männer hingegen vollziehen eine Art Außenwendung, in der sie Hindernisse und Benachteiligung als von außen verschuldet sehen. Diese Sichtweise ist für die Partner, Kinder, Angehörigen und Freunde schwer belastend. Deren Zuneigung und Liebe wird vom depressiven Mann uminterpretiert als ein Hintergehen und Schwächen der eigenen Position. So finden sich alle Seiten oft in einer Position wieder, in welcher Kommunikation unmöglich geworden ist. Alle fühlen sich missverstanden bei gleichzeitig besten inneren Absichten.

In meiner psychotherapeutischen Praxis begegne ich häufig Männern, die sich im Stich gelassen fühlen und anderen die Schuld zuweisen. Stefan, ein Familienvater Ende dreißig, beschrieb seine Situation so:

Ich will für meinen Jungen nur das Beste. In der Pubertät sind sie schwierig, das ist mir klar. Aber er braucht Orientierung und eine gewisse Führung, sonst gerät er auf die falsche Bahn. Meine Frau ist da viel zu weich. Sie hat Verständnis für ihn, räumt die Socken und das Geschirr weg. Und merkt gar nicht, dass sie damit sein unsoziales Verhalten noch unterstützt. Dann soll ich abends und am Wochenende noch für eine gewisse Erziehung sorgen? Das frisst mich wirklich an, denn im Moment steht es beruflich auf der Kippe. Ich muss dort hellwach sein, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Da könnte ich es eigentlich gut gebrauchen, dass meine Frau mir zu Hause den Rücken freihält. Aber sie beschwichtigt immer, will vermitteln, wo auch mal eine harte Linie angezeigt wäre. Schließlich brauchen wir das alle irgendwie. Sonst erkennen wir nämlich nicht, wo es langgeht.

Stefan vermittelte im ersten Gespräch eine gewisse Härte. Er sprach von seinem Sohn, als wäre dieser eine Art Leibeigener oder Angestellter, den er »auf Trab bringen« wollte. Er hatte durch seine innere Haltung den Schutzraum Familie zu einer Kampfarena gemacht. Seine Frau fiel ihm in den Rücken, anstatt dass sie ihm diesen freihielt. Sie war in seiner Wahrnehmung zu weich und verständnisvoll, und sein Sohn war zu einem Gegner geworden, mit dem er sich täglich sinnlose Hahnenkämpfe lieferte. Typisch für diese Klientengeschichten ist auch die Erwähnung des Berufs. Stefan sah sich auch dort als unverstandener Kämpfer. Ich fragte ihn direkt nach dem Auftrag, den er für mich als Therapeut hatte. Sollte ich seine Frau überzeugen, dass er Recht hatte? Wollte er Absolution für die harte Linie gegenüber seinem Sohn? Es überraschte mich, dass er auf diese Frage eine klare Antwort hatte.

Ich möchte verstanden werden. Ich habe den Eindruck, gegen Wände zu laufen. Mir wäre fast schon die Hand gegen meinen Junior ausgerutscht, so sehr hat er mich mit seiner Art provoziert. Und meine Frau habe ich bereits mehrmals angeschrien. Ich will, dass wir alle wieder miteinander sprechen. Ich möchte mit meiner Position endlich wahrgenommen werden. Das habe ich als Vater und Ehemann verdient.

Stefan wollte »wahrgenommen werden«. Ohne es zu merken, hatte Stefan einen wichtigen Schlüsselbegriff für unsere Gespräche benannt. Es zählt nämlich zu den wesentlichen Bedürfnissen des Menschen, wertgeschätzt und geachtet zu werden. Jede Form einer kommunikativen Missachtung stellt deshalb eine Verletzung dar. Und diese Wunden fügte sich Stefan im Familienleben seit geraumer Zeit fast jeden Tag zu. Sein unerträglicher Druck auf Frau und Sohn hatte diese veranlasst, aus Selbstschutz dichtzumachen. Somit war eine Spirale emotionalen Schmerzes auf allen Seiten entstanden. Jedes Familienmitglied kommunizierte auf einer anderen Metaebene: Die Mutter übte Nachsicht aus einer reifen Erwachsenenposition heraus, Stefan bezog die typisch lenkende Elternrolle und versuchte dadurch seine Autorität zu untermauern; und sein Sohn verharrte noch in einer unreifen, kindlichen Rolle, die aber schon ihren Input aus der Erwachsenenwelt bezog. Ein solches kommunikatives Knäuel ist unauflösbar. Mit den Mitteln des Verstands ist hier keine Lösung zu erzielen. Diese belastenden Situationen steuern fast immer auf einen Super-GAU zu, der in Trennung und Zerwürfnis endet. Dabei meinen alle Beteiligten, vollkommen im Recht zu sein.

Vielmehr war Stefans Bedürfnis nach Wahrnehmung seiner Person der Schlüssel zur Behebung des inneren und äußeren Konflikts. Wir sprachen lange über seine eigene Kindheit und Jugend, und dort zeigte sich, dass dieses Grundthema bereits angelegt war.

Wenn ich an meinen Vater denke, bin ich hin- und hergerissen. Er hat uns Kindern viele Freiheiten gelassen. Vielleicht zu viele, ich weiß es nicht. Aber manchmal hätte ich mir gewünscht, mehr an die Hand genommen zu werden. Ich hätte mir gewünscht, dass er mir zeigt, wie man angelt oder ein Floß baut. Solche Sachen eben. Er aber kam nach Hause, trank seine zwei oder drei Biere und las Zeitung. Dann wieder gab es Zeiten, da war er fast brutal. Wenn ich etwas kaputt gemacht hatte, setzte es Dresche, wie er es nannte. Die hatte er auch bekommen, behauptete er, und geschadet habe es ihm nicht. Er war in diesen Situationen fürchterlich ungerecht und hörte gar nicht zu, wenn wir Kinder versuchten, etwas zu erklären. Geschirr kaputt, eine Ohrfeige. Schlechte Noten, zwei Ohrfeigen. Meine Mutter hat dazu nie etwas gesagt. Sie hat die drohende Bestrafung wohl gern als Druckmittel uns Kindern gegenüber in Kauf genommen. Sie selbst hat außerdem immer mit Rückzug reagiert, wenn wir uns nicht so verhielten, wie sie es wollte.

Stefan hatte also als Kind das erlebt, was heute als Schwarze Pädagogik bekannt ist: Schläge als Mittel der Erziehung gepaart mit dem psychologischen Druck des Liebesentzugs und einer emotionalen Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse. Daraus entwickelte sich bei ihm der Wunsch, als Erwachsener endlich wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. In unseren Gesprächen konnten wir gut herausarbeiten, dass es viele Situationen in seinem Leben gab, in denen er sehr harsch reagierte, wenn er sich missachtet fühlte. Nun kam es bei ihm – wie bei den meisten Männern – zu einer Art Deckelung dieser Gefühle. Die beschriebene Verschiebung führte dazu, dass er mit seinem Bedürfnis und den damit verbundenen Affekten andere Lebensbereiche besetzte. Ausbildung, berufliche und soziale Stellung und Statussymbole erfüllten dabei eine Ersatzfunktion. Sie lieferten ihm die Wertschätzung, die er sich wünschte. Tragischerweise entfremden sie den Mann auch seiner selbst. Die zugrundeliegenden Gefühle werden quasi weggeschlossen, vergessen, sind kaum noch zugänglich.

So ist also nicht das Mannsein das eigentliche Problem; es sind vielmehr die in der Tiefe verborgenen Verletzungen, die wir alle als Menschen im Laufe unseres Lebens ...