Im Luftschloss wohnt kein Märchenprinz - Roman

von: Christoph Dörr

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641201845 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 5,99 EUR

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Im Luftschloss wohnt kein Märchenprinz - Roman


 

1. Kapitel

Wunderschön, wie das Meer kristallen glitzert. Eine Schaumkrone verschwindet wie Zucker im Cappuccino.

Ein Mädchen steht direkt vor mir und blinzelt in die Sonne. »Die ist aber süß«, sagt die Kleine.

Ich lächle sie an. »Wie lieb von dir. Danke.«

»Wie heißt denn deine Schildkröte?«

»Lilly.«

Sie streichelt ihren Panzer. »Warum muss Lilly im Müll spielen?«

Tatsächlich ist es ein beachtlicher Berg. Plastikflaschen, zerfetzte Tüten, grünliche, verrottete Fangnetze, Styropor und massig Glasscherben. Alles einfach dem Strand überlassen, als sei er die Fußmatte des Meeres. Drei Säcke voll haben mein Kollege Hannes und ich am Strand von Warnemünde aufgesammelt, Badeschlappen sogar, und ein labberig schmieriges Kondom hatte ich in den Fingern. Pfui, das ist so eklig. Den ganzen Schmuddel haben wir heute Morgen um mich herumgestapelt.

Guten Tag, ich heiße Anna Herzig und liege inmitten eines miefenden Müllhaufens.

»Lilly weiß gar nicht, dass das Müll ist«, erkläre ich dem Mädchen. »Und Meeresschildkröten auch nicht. Da können Plastiktüten, die im Wasser schweben, für ein Schildkrötenauge wie eine leckere Quallenmahlzeit aussehen. Nur können sie diese Tüten nicht einfach zerkauen und verdauen.« Das Mädchen nickt. »Diese unfreiwillige Tütennahrung führt zu Verdauungsproblemen, Gewichtsverlust und insgesamt einer Schwächung, die den Tod der Meeresschildkröte bedeuten kann.«

Lilly wühlt sich durch den Sand und streckt dem Mädchen ihr Köpfchen entgegen.

Die Kleine schnieft. »Dann sterben alle Lillys?« Tränchen kullern über ihre Wangen.

»Na, das haben Sie ja toll hinbekommen!« Ihr Vater streicht ihr über die Haare. »Komm, Carla.«

Hannes geht neben mir in die Hocke. »Das war wirklich nicht sehr kindgerecht, liebe Kollegin.«

»Aber es entspricht den Fakten.«

Ich wäre viel lieber im Labor am Mikroskop geblieben. In der Kantine gibt es heute Pinkel mit Grünkohl, mein Lieblingsgericht. Um Punkt zwölf Uhr hätte ich es auf dem Teller gehabt, wie immer. Stattdessen werde ich angestarrt und fühle mich zunehmend unwohl.

Eine gräuliche Seniorin mit Strohhut drängt nach vorne. »Was hat denn dieser Müll in meinem schönen Seebad zu suchen? Seit 27 Jahren komme ich zur Erholung her, habe immer ordnungsgemäß meine Kurtaxe bezahlt und meinen Strandkorb auch. Und Siiie, eine schäbige Nixe sind Sie!«

»Ich …«

In der Tat, ich bin eine, wie ich gerade am Ostseestrand liege. Allerdings nicht ›schäbig‹, wie ich hoffe. Sicherlich bin ich nicht so dekorativ wie die Disney-Arielle, ich trage bloß eine selbstgebastelte Schwanzflosse, einen mit Blümchen beklebten Bikini und Rosenblüten im Haar. Quasi eine deutsche Ökoversion, biologisch abbaubar.

»Hören Sie bitte«, sagt Hannes betont sanft. »Wir sind vom Institut und …«

»Sie sind wohl ihr Betreuer?«

»… vom Institut für Meeresbiologie. Wir wollen informieren und auf die Verschmutzung der Meere aufmerksam machen.«

Hannes. Er hat mir das alles eingebrockt. »Diese super Guerilla-PR-Aktion«, wie er es nennt. Hannes arbeitet in unserer Pressestelle, er muss es ja wissen. Dennoch ist es eine unübliche Idee, zu der er mich überredet hat: Die Meerjungfrau soll zeigen, dass Menschen und Meerestiere an der Umweltverschmutzung leiden.

»Hannes, haben wir jetzt nicht genug Aufklärung betrieben?«

»Komm, wir haben doch drüber gesprochen«, raunt er mir zu, »und jetzt ziehen wir es auch durch. Du hast gesagt, einen Versuch ist es wert …«

Damit wollte ich ihm einen Gefallen tun. Innerlich gewunden habe ich mich dennoch. Eigentlich ist es mir zuwider, bei einer solchen Aufführung mitzuwirken. Ich habe damit keine Erfahrung, und es passt einfach nicht zu mir.

Aber wenn ich mich nicht für die Tiere einsetze, leiden sie weiter.

Was ich nicht geglaubt habe, ich sehe es erstaunt: Immer mehr Badegäste schlendern herbei, unsere Aktion scheint zu fruchten. Sogar Selfies werden gemacht. Was denn, mit mir?

Ich hätte nicht frühstücken, besser noch drei Tage gar nichts essen dürfen. Bestimmt leuchten meine weißen Strähnen in der Sonne, ich hätte schwarz nachfärben sollen. Offen gestanden fühle ich mich gerade gar nicht wohl in meiner Haut. »Du siehst toll aus«, hat Hannes gesagt, als es vor zwei Stunden losging. »Richtig sexy.«

Davon kann keine Rede sein, so ein Unsinn. Wenn, dann sehe ich höchstens hausbacken aus. Ich bin 40 und meine Kleidergröße ist es auch, an blöden Tagen sogar 42. Dabei will ich doch ein Strich in der Landschaft sein und kein Balken, bitte, bitte, bitte.

Die Junisonne krallt sich in mein Schuppenkleid, es schimmert silbrig. Mir ist darin unsäglich heiß. Ich schwitze nicht, ich schmelze.

»Hey, Nixe.« Ein Jugendlicher taxiert mich grinsend hinter seiner Pilotensonnenbrille und formt mit seinen Händen beachtliche Bälle. »Voll korrekte Hupen.«

Ich schmelze wohl doch nicht.

»Yo.« Sein Kumpel rülpst lautstark, zerdrückt seine Bierdose und wirft sie auf unseren Meeresmüllberg.

So ein Flegel. Während ich noch über die passende Antwort nachdenke, mischt sich eine Frau mit wallenden Haaren ein, die bis eben mit Hannes gesprochen hat. Eine Holzkette mit großen Kugeln baumelt vergnügt vor ihrer Brust. Sie trägt ein Sommerkleid, dessen Blumenmuster bunter leuchtet als eine Girlande mit asiatischen Lampions.

»Wunderbar bekloppt, einfach ’ne geile Idee. Ihr seid Aktionskünstler, oder?« Sie wirft ihre krause Mähne nach hinten. »Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit, genau darum geht’s. Eure Botschaft müsste man im Internet weiterverbreiten, und du gehörst ins Fernsehen«, sagt sie zu mir.

Die Frau verunsichert mich.

»Ich sollte mich auch einbringen.« Sie wird immer hibbeliger. »Darf ich mich dazulegen?«

»Danke, ähm, das ist nicht nö …«

»Passen Sie auf mit den Scherb …«

Hannes und ich reden gleichzeitig los … pardauz, Sand sprüht, da liegt sie schon direkt vor mir. Lilly hat sich eilig in ihren Panzer verzogen.

»Warte.« Die engagierte Frau lässt die Träger über ihre Schultern gleiten, schiebt das farbenfrohe Kleid nach unten und wickelt es eng um Beine und Füße, offenbar als Schwanzflosse gemeint.

Was allerdings noch mehr auffällt: ihr Büstenhalter. Der ist jetzt sichtbar. Und ihr gebräunter Bauch. Dagegen wirke ich noch bleicher, weiß wie Milch.

Hoffentlich fettarme Milch.

Sie strahlt mich an. »Ich bin die Micha, und meine Unterstützung habt ihr einfach verdient.«

Die Micha. Irritiert lächle ich zurück.

»Ich darf mich vorstellen, Anna Herzig heiße ich. Und ihr Name ist Lilly«, sage ich und stupse gegen ihren Panzer.

Mit der Micha neben mir fühle ich mich umso mehr von neugierigen und belustigten Blicken durchbohrt. Ihre verstrubbelten Locken wehen mir ins Gesicht, mein Schuppenschwanz zwickt, und Durst habe ich auch. Ich schließe die Augen und verziehe mich ins Wasser, betörend, von liebreizender Gestalt, die Fische applaudieren mir mit ihren Flossen. In Atlantis wartet sehnsüchtig mein Wassermann, hach, der mich fest in den Arm … aua. Mein linker Ellbogen scheuert im Sand. Ich rutsche auf dem Unterarm hin und her, die Kuhle darunter wird ständig tiefer. Das Erdinnere kann nicht mehr fern sein.

Sonst empfinde ich es als Stärke, unscheinbar zu sein. Nur funktioniert das gerade nicht. Denn unscheinbar zu sein bedeutet leider nicht, unsichtbar zu sein. Aber ich muss hier helfen, es entspricht meiner Überzeugung. Also nicht der Überzeugung, eine alberne Arielle abzugeben, dabei fühle ich mich lausig. Wenn schon, wäre ich viel lieber eine literarisch korrekte Meerjungfrau: schutzsuchend, reif für die Rettung. Und wenn ich erlöst bin, möchte ich bezaubern. Wie es die Figuren im Märchenwald tun, mit denen ich aufgewachsen bin. Jedenfalls ist es mir zutiefst ein Bedürfnis, für den Ozean und seine Bewohner da zu sein, sie brauchen mich.

Mein Forschungsgebiet sind eigentlich die Seesterne. Putzige, wundersame Wesen, allerdings auch sehr gefräßige Raubtiere. Mit ihren fünf Armen umklammern sie Muscheln oder Krebse, meinen das aber gar nicht liebkosend.

So unangenehm umschlungen fühle auch ich mich gerade von der kleinen Menschentraube, die sich irgendwie immer näher schiebt, beklemmend näher. Unwillkürlich rutsche ich nach hinten, was wieder am Unterarm brennt. Ich hätte mir ein Kissen mitbringen sollen, der Sand ist rauer als gedacht. Autsch, Plastik drückt in meinen Rücken. Ich fühle mich gefangen wie Thunfisch in der Dose.

Vorzugsweise halte ich mich in geschützten Ecken auf, aus denen ich das Drumherum erst mal beobachten kann, bevor ich mich entfalte. Wenn ich mich überhaupt entfalte. Hilfe, ich möchte wirklich nicht im Mittelpunkt stehen. Und liegen erst recht nicht!

»… ach was, als Rentnerin gehören Sie doch zu den größten Klimakillern«, schnaubt die Micha. »Häufige Flugreisen, ein kuschelig warmes Haus und selbst zum Bäcker mit dem Auto!«

Ups, was habe ich versäumt?

»Das muss ich mir von Ihnen nicht bieten lassen!« Die Gräuliche, sie ist ja immer noch da, schnaubt aber nicht mehr empört, sondern scheint zu hyperventilieren.

»Menschen wie Sie zerstören unseren Planeten!« Die Micha spuckt ihr den Satz regelrecht vor die Füße. Das ist nicht die Art von Protest, die ich mir vorgestellt habe. Ich berühre ihre Schulter mit der freien Hand, mein anderer Arm ist im Sand eingeschlafen. »Augenblick, bitte. Micha, bleiben Sie ruhig, wir sind hier nicht auf Konfrontation aus.«

»Doch, klar, immer kampfeslustig!«, raunt sie mir gar nicht so leise zu.

Ich...