Im Sog der Schuld - Roman

von: Laura McHugh

Limes, 2019

ISBN: 9783641216870 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 11,99 EUR

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Im Sog der Schuld - Roman


 

Kapitel 1

Früher habe ich immer gespielt, jemand hätte mich an einem merkwürdigen unbekannten Ort ausgesetzt, und ich müsste allein wieder nach Hause finden. Es gab mehrere Varianten des Spiels, aber alle mit einer Gemeinsamkeit: Ich war in irgendeiner Weise eingeschränkt – entweder gefesselt oder stumm, oder mir fehlte ein Arm oder ein Bein. Allerdings war ich stets überzeugt, dass ich den Weg notfalls auch blind finden würde wie ein Hund, der mithilfe eines geheimnisvollen Instinkts dorthin zurückkehrt, wohin sein Herz gehört … zu seinem Herrchen, auch wenn es Tausende Meilen weit weg ist. Manchmal hielt ich in einer der Städte, in die es mich nach unserem Wegzug aus Keokuk verschlagen hatte, einen kurzen Moment inne – in der Schule, in meinem Zimmer oder mitten auf der Straße – und richtete mich innerlich auf Arrowood aus, auf den Mississippi, auf zu Hause. Dort ist es, dachte ich dann. Ich wusste es einfach. Drehte mich reflexartig in die richtige Richtung, wie eine Kompassnadel, die immer nach Norden zeigt.

Als ich nun in der drückenden Hitze durch die weitläufigen Ackerlandschaften von Kansas und Nordmissouri fuhr, vorbei an den endlosen Weizen- und Maisfeldern, spürte ich förmlich, wie mich die Straße nach Iowa zog, als würde ich unweigerlich dort enden, ganz egal, welche Richtung ich einschlug. Ich kniff die Augen gegen die grelle Sonne zusammen; meine Sonnenbrille musste irgendwo zwischen meinen hastig zusammengepackten Taschen und Kartons verschüttgegangen sein, die ich in meinen alten Nissan gestapelt hatte. Es war Ende September, in der Luft lag noch die typische Stickigkeit des Mittleren Westens, ganz anders als die kühle Herbstsonne Colorados, wo sich gerade die Blätter an den Espen zu verfärben begonnen hatten.

Ich befand mich in der Endphase meines Masterabschlusses, als meine Mutter, die vor nicht allzu langer Zeit wieder geheiratet hatte, mich im Februar anrief, um mir mitzuteilen, dass Eddie, mein leiblicher Vater, beim Blackjack im Mark-Twain-Casino in LaGrange tot umgefallen sei. In den Monaten vor seinem Tod hatte ich nichts von ihm gehört, und unsere letzte Begegnung lag mehr als ein Jahr zurück, deshalb fiel es mir schwer zu sagen, welche Gefühle die Nachricht in mir auslöste. Im Grunde hatte ich ihn bereits vor langer Zeit verloren, damals, als meine beiden Schwestern verschwunden waren, und während meine Trauer über diesen ersten Verlust über Jahre hinweg anhielt, empfand ich nun allenfalls eine eigentümliche Betäubung.

Trotzdem heulte ich wie ein Klageweib beim Trauergottesdienst, der in Illinois stattfand, wo er zuletzt gelebt hatte. Die Trauergäste, hauptsächlich Mitglieder der katholischen Kirchengemeinde, der er erst kurz zuvor beigetreten war, hatten ihn hingegen fast gar nicht gekannt. Ich konnte es nicht ausstehen, dass Beerdigungen unweigerlich jeden noch so kleinen Funken Trauer in mir heraufbeschworen, zu dem ich fähig war – Trauer um Verstorbene oder Gott weiß was sonst noch alles –, und sich jede Strophe von »Amazing Grace« wie ein Dolch in mein Herz bohrte, mein Inneres förmlich aufschlitzte. Der Pfarrer trug einen Umhang über seiner Soutane, der sich melodramatisch aufbauschte und den Blick auf das blutrote Futter freigab, wann immer er die Arme hob. Er schwadronierte darüber, wie viel wir mit den Toten gemeinsam hätten: Jeder von uns hätte seine Träume, Fertigkeiten und Talente, wir alle würden so manches bereuen, hätten Menschen um uns, die wir liebten und die wir enttäuschten, und irgendwann gelange jeder von uns an den Punkt, an dem alles Irdische seine Bedeutung verlöre und unser Leben von einer Sekunde auf die andere ewiger Finsternis oder – sofern man daran glaubte – strahlendem Licht weiche. Manchmal komme der Tod zu früh, manchmal nicht früh genug, und für einige Sünder komme er zu dem Zeitpunkt, den sie selbst gewählt hatten.

Violet und Tabitha wurden nicht erwähnt, als der Pfarrer über jene sprach, die meinem Vater vorangegangen waren, weder als Tote noch als Überlebende. Meine beiden kleinen Schwestern waren weder das eine noch das andere, sondern schwebten irgendwo dazwischen, in jener vagen Hölle der Vermissten. Ich war die einzige Zeugin ihrer Entführung. Damals war ich acht gewesen, und meine gesamte restliche Kindheit hatte ich mich gefragt, ob jener Mann, der sie gestohlen hatte, eines Tages zurückkäme, um auch mich zu holen. Er wurde nie gefasst, und ihre Leichen wurden nie gefunden.

Dad wurde auf dem katholischen Friedhof in Keokuk beigesetzt – trotz der Streitigkeiten zwischen ihnen hatte es mein Großvater nicht über sich gebracht, ihm seinen Platz im Arrowood-Familiengrab zu verwehren –, doch ich nahm nicht daran teil. Bei seiner im Vorfeld bezahlten Beerdigung war keine weitere Zeremonie am Grab vorgesehen, daher wurde mein Vater ohne letzte Worte unter die Erde gebracht.

Monate später bekam ich einen Anruf vom Anwalt unserer Treuhandverwaltung, der mich informierte, dass Arrowood, der Familiensitz, den mein Ururgroßvater am Ufer des Mississippi erbaut hatte und aus dem wir kurz nach der Entführung meiner Schwestern ausgezogen waren, nun mir gehörte. Siebzehn lange Jahre hatte das Haus leer gestanden. Die Treuhandverwaltung hatte für den Erhalt gesorgt und darauf geachtet, dass mein Vater es nicht in die Finger bekam und verhökerte. Und nun würde ich endlich nach Hause zurückkehren.

Die Entscheidung war mir nicht schwergefallen. Auch schon vor meinem letzten Semester an der Uni hatte mich nicht viel in Colorado gehalten: Ich war fünfundzwanzig, arbeitete als Assistentin in der Fakultät für Geschichte und wohnte in einem Apartment, das wegen der Brandschutzverordnung eigentlich gar nicht hätte vermietet werden dürfen, weil die Fenster so klein waren, dass man im Notfall nicht hinausklettern und sich in Sicherheit bringen könnte. Der College-Fonds, den Nana und Granddad mir hinterlassen hatten, neigte sich dem Ende zu. Abends saß ich allein in meiner Bude am Laptop, die Finger reglos über der Tastatur, und wartete auf Worte, die nicht kommen wollten, während mir der Titel vorwurfsvoll von der leuchtend weißen Seite entgegenstarrte: Die Wirkung von Heimweh in historischen Erzählungen. In Colorado hatte ich mich niemals wirklich heimisch gefühlt. Anfangs hatte ich geglaubt, die Berge könnten eine Art Ersatz für den Fluss sein, mich gewissermaßen erden, aber das war ein Irrtum.

Mit dem Tod meines Vaters war die Zahl der Menschen, die beide Teile von mir kannten – jenen Teil vor dem Verschwinden meiner Schwestern und jenen, der danach geblieben war –, auf eine beängstigend überschaubare Anzahl geschrumpft. Ich befürchtete, dass sich mein altes Ich vollends auflösen würde, wenn es niemanden mehr gab, der seine Existenz bezeugen konnte. Als der Anwalt meinte, Arrowood gehöre jetzt mir, war mein erster Gedanke keineswegs, was auf mich zukäme, wenn ich nach Keokuk zurückkehren und allein in dem Haus leben würde. Ich fragte mich auch nicht, ob der Mann, der mich in all meinen Träumen verfolgt hatte, wohl noch in der Gegend lebte. Stattdessen dachte ich an meine Schwestern, wie sie im Garten spielten, im Schatten des Seidenbaums, an mein altes Zimmer mit der rosa Tapete und den Rüschengardinen. Und an Ben, der mein Ich von damals am allerbesten kannte. Mit einem Mal war ich von einer unbändigen Energie erfüllt. Kaum hatte ich den Hörer aufgelegt, kippte ich wie elektrisiert meine Kommodenschubladen auf dem Bett aus und zerrte alle meine Sachen aus dem Schrank.

THE PEOPLE OF IOWA WELCOME YOU: FIELDS OF OPPORTUNTIES. Kaum überquerte ich den Des Moines River und las den Spruch auf dem Schild, atmete ich auf. Mit einem Mal bekam ich wieder Luft, so als hätte ich ein unsichtbares Korsett abgelegt. Ich wurde dort geboren, wo der Des Moines River in den Mississippi fließt, und ein Astrologe meinte einmal, aufgrund meines Sternzeichens, Fische, drehe sich alles in meinem Leben um das Wasser – ich war schwer fassbar, immer im Wandel, ließ mich auf nichts festnageln, war wie ein Fluss stets in Bewegung, ohne jemals irgendwo anzukommen.

Es war ein seltsames Gefühl, nach Iowa zurückzukehren; höchst merkwürdig, dass ich mich auf der einen Seite einer Brücke tatsächlich anders fühlen konnte als auf der anderen. Aber es war so. Und alles, was ich sah, linderte augenblicklich meine tief sitzende Sehnsucht: die Bockbrücke, die Pappeln am Ufer, die quer über die Felder verlaufenden Eisenstäbe der Bewässerungsanlagen, der kleine Mineralienladen, in dessen Schaufenster eine ganze Sammlung frisch aufgespaltener Geoden glitzerte. Ich ließ das Fenster herunter und atmete tief die Keokuk-Luft ein, jenen Mix aus erdiger Überschwemmungsebene und Industrieabgasen. Zu meiner Rechten strömte der Mississippi dahin, und obwohl die Felder die Sicht versperrten, spürte ich ihn ganz deutlich – satt, tief und endlos.

Ich fuhr den Highway entlang in die Stadt, deren Einwohnerzahl laut Schild am Ortseingang um rund ein Drittel geschrumpft war, seit wir weggezogen waren. Vor hundert Jahren, als zahlreiche Güter noch auf Dampfern über den Mississippi transportiert worden waren, hatte Keokuk als das Chicago von morgen gegolten, inklusive Opernhaus, medizinischer Hochschule und eines Baseballteams, das es bis in die Landesliga schaffte. Ein Damm und ein Wasserkraftwerk wurden gebaut, die beide bei ihrer Fertigstellung 1913 als die größten der Welt galten. Später schossen Fabriken entlang des Highways wie Pilze aus dem Boden, allerdings hatten viele von ihnen mittlerweile ihre Tore wieder geschlossen, und mit ihnen waren auch die Arbeitsplätze verloren gegangen. So war Keokuk zu einer Mischung aus Glanz und Verfall verblasst, mit bröckelnden Jahrhundertwendebauten, historischem Baumbestand,...