Mit den Bäumen wachsen wir in den Himmel - Autistische Kinder mit der Heilkraft des Waldes fördern

von: Clemens G. Arvay

Goldmann, 2019

ISBN: 9783641243852 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 15,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Mit den Bäumen wachsen wir in den Himmel - Autistische Kinder mit der Heilkraft des Waldes fördern


 

Kapitel 2:
Mit den Bäumen wachsen wir in den Himmel


Du nimmst mich wortlos an der Hand,
wenn dich das Wasser heimlich ruft,
führst mich still ins Auenland,
wo unsre große Weide fußt.

Was Baumstämme mit unserem Nervensystem zu tun haben


Jonny und ich verbringen viel Zeit im Auwald. »Unser« Fluss windet sich wie eine mächtige Schlange durch sein grünes Tal. Wenn die Sonnenstrahlen das kristallklare Wasser durchdringen, leuchten die von Mikroalgen besetzten Steine am Grund smaragdgrün. Das Tal ist ausgedehnt und flach, sodass die Fließgeschwindigkeit des Wassers gering bleibt. An vielen Stellen hat sich der Fluss in mehrere Arme aufgeteilt, zwischen denen sich steinige Inseln gebildet haben, die ihre Lage von Jahr zu Jahr verändern. In den Flussbiegungen hat das Wasser breite Schotterstrände aufgeschüttet. Wie in den Tropen die Palmen säumen bei uns Weiden, Pappeln, Eichen und Hainbuchen den Strand. Der Wald reicht bis ans Ufer heran und streckt sein Geäst über das Wasser. Von Frühjahr bis Herbst sind die Schotterbänke eine Art »zweites Wohnzimmer« für Jonny und mich. An warmen, sonnigen Tagen verbringen wir dort oft den ganzen Tag unter dem blauen Himmel. Im Winter kommen wir ebenfalls an den Fluss, bleiben aber dann nur kurz. Es erfüllt mich immer mit Freude, zu sehen, wie das Wasser, die Steine, die Sonne und der rundherum präsente Wald Jonnys Gesicht so sehr verzaubern, dass ich darin trotz seiner konsequenten Schweigsamkeit und Zurückgezogenheit das große Glück ablesen kann, das die Natur in ihm entstehen lässt. Doch der Fluss und sein Tal sind nicht nur bezaubernd schön, sondern haben auch einen großen therapeutischen Wert für Jonny – und im Übrigen auch für mich.

Wahrnehmungstraining in der Natur


Autismus ist immer mit einer Wahrnehmungsproblematik verbunden, bei der das Gehirn seiner »Türwächter-Funktion« nicht ausreichend nachkommt.17 Es gelangt zu viel herein, was besser draußen bleiben sollte. Zur Veranschaulichung dieses Problems eignet sich der bekannte Party-Vergleich: Wenn wir uns in einer geselligen Menschenmenge befinden, verschwimmen die Stimmen rund um uns zu einem Klangteppich und rücken in den Hintergrund. Gleichzeitig gelingt es uns im Normalfall, uns auf einen Gesprächspartner zu konzentrieren und diesem zuzuhören. Die Stimme des Gesprächspartners tritt in den Vordergrund und wird verstärkt. Wir können bestimmte akustische Signale also »hereinzoomen«, ähnlich wie unser Sehsinn es uns ermöglicht, auf ein Objekt zu fokussieren und den Rest verschwimmen zu lassen. Diese Differenzierung zwischen Vordergrund und Hintergrund funktioniert bei Menschen mit Autismus nicht reibungslos.18 Das Ergebnis ist eine unzureichend gefilterte, »erdrückende« Wahrnehmung – eine Art neuronales Rauschen. Wir können uns das auch wie ein Foto vorstellen, auf dem alles scharf ist (oder alles unscharf). Bei solchen Fotos fällt es uns oft schwer, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Auf guten Fotos ist das Objekt stets scharf von einem verschwommenen Hintergrund abgehoben. Dadurch entsteht aus den Bildpunkten und Farben eine klar zu erkennende Gestalt. Die unzureichende Vordergrund-Hintergrund-Differenzierung kann daher auch als Störung der Gestaltbildung beschrieben werden.19

Temple Grandin, eine Dozentin für Tierkunde an der University of Colorado, ist eine international renommierte Expertin für die landwirtschaftliche Tierhaltung und außerdem eine der bekanntesten autistischen Autorinnen. Sie beschreibt das Problem mit den nicht funktionierenden Wahrnehmungsfiltern folgendermaßen: »Ich kann auf einem geräuschvollen Flugplatz kein Telefon benutzen. Obwohl meine Hörschärfe normal ist, kann ich am Telefon nichts verstehen, wozu fast alle anderen Leute in der Lage sind. Wenn ich versuche, das Hintergrundgeräusch auszublenden, blende ich auch die Stimme am Telefon aus.«20 An diesem Beispiel veranschaulicht sie das Kernproblem der autistischen Wahrnehmung aus eigener Erfahrung und auf leicht nachvollziehbare Weise: Die Differenzierung zwischen Vordergrund und Hintergrund gelingt ihr nicht. Entweder sie wird von Eindrücken überschüttet, hat also zu viel im Vordergrund, oder sie drängt zu viel in den Hintergrund. Im Hinblick auf die Gestaltbildung könnte man auch sagen: Es gelingt Grandin nicht, die akustische »Gestalt« der Stimme am Telefon von den übrigen Geräuschen abzuheben.

Vor allem autistische Kinder müssen erst lernen, mit diesen Herausforderungen umzugehen und die korrekte Gestaltbildung zu bewerkstelligen. So wird verständlich, warum sie oft wie »weggetreten« wirken oder nichts mehr zu hören und zu sehen scheinen – beides Phänomene, die ich von Jonny sehr gut kenne. Wenn er »abschaltet«, reagiert er nicht mehr, wenn man ihn ruft, und ist mit den herkömmlichen Formen der Kontaktaufnahme kaum mehr erreichbar. Es kann dann vorkommen, dass er sehenden Auges gegen den nächsten Laternenmast läuft. In seiner Wahrnehmung ist in solchen Situationen zu viel in den Hintergrund getreten. Olga Bogdashina, Psychologin und Mitbegründerin des internationalen Autismus-Instituts (IAI), nennt diesen Vorgang »Herunterfahren der Systeme«.21 Es handelt sich um eine Strategie, mit der überbordenden Wahrnehmung umzugehen. Bogdashina ist nicht nur Autismusexpertin, sondern selbst Mutter eines autistischen Sohnes. Der Musiker und Dichter Thomas McKean aus den USA – ebenfalls Autist – sieht in der Wahrnehmungsproblematik die primäre Ursache autistischer Auffälligkeiten: »Ich glaube, sensorische Anomalien sind die Wurzel vieler, wenn nicht aller Verhaltensweisen, die unangemessen oder bizarr wirken.«22

Die unzureichend gefilterte Wahrnehmung macht Jonny auch für physikalische Reize sehr empfindlich. Dieses Problem liegt bei vielen autistischen Kindern vor. Olga Bogdashina berichtet: »Viele verweigern das Anziehen bestimmter Stoffe, weil sie die Textur auf ihrer Haut nicht ertragen. Da ihre taktile Hypersensitivität überwältigende Empfindungen verursacht, können schon leichte Berührungen dazu führen, dass sie eine Panikattacke erleiden.«23 Besonders im Winter leidet Jonny erheblich unter dem Gefühl der schweren, warmen Kleider an seinem Körper. Seine Kämpfe gegen Jacken, Mützen, Handschuhe – und auch gegen Schuhe, Hosen und Pullover – belasten ihn emotional ebenso sehr wie seine Bezugspersonen. Bei den meisten Menschen blendet das Gehirn die Empfindungen, die von Kleidern am Körper verursacht werden, mit der Zeit aus. Bei Jonny scheint das nicht der Fall zu sein. Er kann nicht aufhören, seine Kleidung zu spüren.

Bogdashina beschreibt eine weitere typische Situation: »Ein anderes recht häufiges Problem autistischer Kinder, das darauf zurückgeht, dass sie nicht aufhören können, Empfindungen wahrzunehmen, tritt beim Schneiden der Fingernägel auf.«24 Sie schildert den Fall des kleinen Alex, der jedes Mal nach dem Nagelschneiden für eine Woche wahrnimmt, dass jetzt mehr Luft an seine Finger gelangt. Darunter leidet er so stark, dass er große Angst vor dem Schneiden der Nägel entwickelt hat und währenddessen in Panik gerät.

Jonny wollte bis zum Alter von zwei Jahren auf keinen Fall mit bloßen Füßen oder Händen mit Gras oder Sand in Berührung kommen. An Spielen im Sandkasten war nicht zu denken. Er dürfte das Kitzeln des Grases und die Textur des Sandes so intensiv wahrgenommen haben, dass die Berührung sich für ihn fast schmerzhaft anfühlte. Bereits die Annäherung an eine Wiese oder einen Sandspielplatz löste Panikzustände bei ihm aus. Er verweigerte die Berührung mit allem, was zu weich, hart, nass, rau, warm, kalt, stachelig oder kitzelig war oder in anderer Weise bei Berührung besondere Empfindungen verursachte. Diese Wahrnehmungsstörung erschwerte seinen Alltag erheblich. Doch vor allem blieben ihm durch seine Abwehr und Vermeidung von bestimmten Sinneswahrnehmungen elementare Erfahrungen verwehrt. Wir lernen durch Interaktion mit der Außenwelt. Auch unser Nervenkostüm, das in der frühen Kindheit erst noch entwickelt werden muss, bildet sich durch sensorische Erfahrung aus. Indem er diese verweigerte, brachte sich Jonny auch um die Gelegenheit, dass sich seine Wahrnehmungsproblematik durch »Spürtraining« verbessern konnte. Ergotherapeuten versuchten ihn spielerisch dazu zu bewegen, neue Materialien zu betasten und ihn durch Massagebälle, flauschige Kugeln oder raue Gegenstände »abzuhärten«. Die Ergotherapie verfolgt das Ziel, die Handlungsfähigkeit und Umweltanpassung von Kindern (und Erwachsenen) durch gezielte Aktivitäten und Wahrnehmungen zu fördern. Doch alle diese Versuche blieben bei Jonny erfolglos und wurden von ihm vehement abgewehrt. Manchmal scheint es mir, als wäre Jonny mit dem siebten Duan des chinesischen Kung-Fu auf die Welt gekommen. Das ist der »blaue Drache«, ab dem sich ein Kämpfer als Großmeister bezeichnen darf. Seine Abwehrbewegungen führt er so flink und effizient aus, dass es auch beim Anziehen ein Kunststück darstellt, mit einem Kleidungsstück überhaupt in seine Nähe zu kommen.

Was in der Ergotherapie nicht gelang, funktionierte in der Natur. Es mag nicht überraschen, dass Jonny in unserem Auwald viel entspannter war als in den Behandlungsräumen der Therapeuten. Er wirkte im Wald aber sogar deutlich entspannter als im Alltag. Behutsam und unter Wahrung seiner Grenzen führte ich ihn an die unterschiedlichen Formen und Texturen des Waldes heran. Ich legte seine Hände zum Beispiel auf die raue Borke eines Baumes, dann auf das weiche Moos. Wir...