Dinner am Mittelpunkt der Erde - Roman

von: Nathan Englander

Luchterhand Literaturverlag, 2019

ISBN: 9783641241711 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 16,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Dinner am Mittelpunkt der Erde - Roman


 

2014 | Ein geheimes Gefängnis
in der Wüste Negev


Obwohl sie beide jeden Millimeter der Zelle kennen, jeden Kratzer in den Betonsteinen, jeden produktionsbedingten Fleck in den Kacheln, deutet der Wärter über seine Schulter zur über der Tür befestigten Kamera in ihrer dunklen, aufbruchsicheren Halbkugel im Casinostil, die so harmlos aussieht wie eine große Glasmurmel.

An der gegenüberliegenden Wand ist eine zweite, identische Kamera, direkt über dem Kopfende des schmalen Betts des Häftlings. Sie zielt auf die Plexiglastür von Toilette und Dusche und deckt auch das dünne Metallregal mit seinen Büchern, dem Kaugummi und den englischsprachigen Zeitschriften ab (die zu groß dafür sind). Das Regal zeigt, welche Privilegien dem Häftling über die Jahre von seinem Wärter zugestanden wurden.

Eine dritte Kamera ist über das schießschartenähnliche Fenster geschraubt und beobachtet, aus anderem Blickwinkel, die beiden anderen Kameras, die ihrerseits zu ihm hinsehen. Das Bett steht an der Wand gegenüber vom Fenster, an der als einziger kein Überwachungsinstrument hängt. Der Wärter hat schon immer das Gefühl, dass die Wand ungenutzt blieb, weil eine vierte Kamera den Overkill übertrieben hätte – allein schon die Fensterkamera mit ihrem Fischauge in Vogelperspektive erfasst jeden einzelnen Winkel der Zelle. Zusammen zeichnen die Einheiten jede Bewegung des Häftlings in dreifacher Form auf. Lediglich im Bad, dem einzigen toten Winkel der Kamera über der Tür, wird er nur zweifach aufgenommen.

Aufgenommen, mit Zeit und Datum versehen, ergänzt durch die Nummer der Kamera und den Spitznamen der Zelle, The Peach Pit, den der Wärter nur deswegen wählte, weil er gerade zu Hause war, einen Joint rauchte und die hebräischen Untertitel einer Beverly-Hills-90210-Wiederholung las, als der Anruf mit dem Jobangebot kam.

Der Wärter deutet auf die Kamera über der Tür und erklärt dem Häftling, wie es aussieht, wenn es in der Zelle stockdunkel ist und sich der Häftling wünscht, er wäre mit seinen Gedanken allein. Wenn er sich wünscht, es könnte für ihn nichts als Nacht sein, tief und rein.

Es ist ein Schock für den Häftling, da die Kameras und das, was der Wärter durch sie sieht, in ihren nun schon zwölf gemeinsamen Jahren das Einzige sind, worüber sie in ihren suchenden, tastenden, absolut endlosen Gesprächen nie geredet haben.

Der Häftling neigt den Kopf zur Seite und sieht den Wärter zweifelnd an, denn er weiß, dass der nicht ohne Grund plötzlich damit herauskommt. Und der Wärter weiß auch ein paar Dinge. Er weiß, dass er nicht so gebildet ist wie sein von sich so eingenommener verdammter Häftling und sein Talent für Metaphern vielleicht nicht das größte ist. Dennoch hat er ernsthaft versucht, eine zu verwenden, um die Dinge abzumildern, um so etwas wie Bilanz zu ziehen über ihre gemeinsame Zeit und das dann als Brücke zu den erschütternden Neuigkeiten zu nutzen – erschütternd selbst für einen verschwundenen, namenlosen Amerikaner in einer Zelle, die es nicht gibt, auf keiner Liste, nirgends.

Ja, es sind ziemlich schlechte Neuigkeiten.

Wenn er ihm mitteilt, wofür er in keiner Weise verantwortlich gemacht werden kann, wird der Wärter gezwungen sein, etwas, das er fashlot, Stümpereien, und der Häftling »mildernde Faktoren« nennen würde, hinzuzufügen, die der Geschichte eine bestimmte Einfärbung geben und ihn selbst eher schlecht dastehen lassen, ihn, den zuverlässigen, einzigen Freund des Häftlings. Vielleicht bringt es sogar ihre beiderseits geschätzte Beziehung in Gefahr – wobei ihnen der sehr Stockholm-Syndrom-artige Charakter durchaus bewusst ist –, die Häftling Z einmal als »patty-hearstisch« bezeichnet hat, was der Wärter nachschlagen musste.

Zu seiner Verteidigung, was die Komplikation angeht, die er noch nicht zugegeben hat, sagt sich der Wärter, dass er all die Jahre nur versucht hat, Häftling Z zu beschützen. Das war die eigentliche Definition seines Jobs, er, der Wärter, hatte auf den Häftling aufzupassen, und das in mancher Hinsicht, die Z gar nicht verstehen konnte.

Wie, oh, wie war es dazu gekommen! Der Wärter erinnert sich noch an das erste Mal, als er sich vor seine drei in Plastikgehäuse gehüllten Röhrenmonitore setzte, erinnert sich an ihr Leuchten, sein eigenes kleines Triptychon, um seinen Schützling zu beobachten. Die Bildschirme standen nebeneinander, die beiden äußeren eine Idee schräg, genau auf ihn ausgerichtet, und boten drei verschiedene monochrome Perspektiven auf genau das gleiche Nichts. So wie sie dort standen und er ihr blaugraues Licht auf seinem Gesicht spürte, erinnerten sie ihn daran, wie seine Mutter, am Meer sitzend, die Sonne mit einem silbernen Pappspiegel unter dem Kinn einfing, er sah sie vor sich, seine Mutter, wie sie sich in einen Liegestuhl sinken ließ und die Ärmel hochkrempelte, ihren sittsamen Rock jedoch anbehielt, dazu die fest an ihre bestrumpften Beine geschnallten Sandalen.

Es war seine Mutter, die ihm damals, 2002, den Gefallen tat, ihn in diese elende Verbindung zu locken. Er hatte ihre Anrufe auf seinem Handy ignoriert, ihr dann aber auf dem Festnetz geantwortet (dem Telefon, für das sie zahlte), als sie ihn mehrmals über den Anrufbeantworter angeschrien hatte, den sie nicht aufgeben wollte, obwohl er sie anflehte, doch stattdessen wie alle anderen die Mailbox zu benutzen.

Sie rief nicht während einer 90210-Wiederholung an, sondern mitten in einer Sendung, bei der er absolut nicht gestört werden wollte. Er spielte zu Hause bei der englischen Version von Der Schwächste fliegt! mit, worin er ziemlich gut war und immer nur bei den supereinfachen Zwischenfragen nicht weiterwusste, in denen es um eindeutig Englisches ging. Sie ließen ihn auf bittere Weise fühlen, dass Geografie keine Gerechtigkeit kannte und er, nur weil er unglücklicherweise in der Achselhöhle der Levante geboren war, am Ende unweigerlich verlieren musste.

Den gleichen Nachteil empfand er bei seiner anderen Lieblingssendung, der englischen Version von Wer wird Millionär? Da ging es nicht um eine Million Schekel, sondern um britische Pfund, einen Geldregen, von dem ein Mensch ein ganzes Leben bestreiten konnte. Aber wie sollte er die Dinge lernen, die man passiv im Alltag in sich aufnahm? Bei den einfachen Stegreiffragen ging es nicht um Wissen. Es waren kleine Geschenke, die ins Spiel gemischt wurden, Geschenke für die, die das Glück hatten, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geboren worden zu sein. Trotzdem, er bemühte sich aufzuholen.

Er hatte in der Armee viel gelesen, sich weiterzubilden und einen Weg zu finden versucht, in der großen weiten Welt nach oben zu kommen. Sein Plan war es, Israel sehr bald schon möglichst weit hinter sich zu lassen. Was war es noch, was sie damals immer gesagt hatten? »Der Letzte macht das Licht aus.« Der Wärter träumte davon, es nach London oder Manchester zu schaffen, und selbst wenn es Birmingham war, es würde ihm reichen. Dann wollte er in eine dieser Sendungen, wo sie ihn zunächst wegen seines Akzents aufziehen würden, und dann würde er sie alle überraschen, indem er ein hübsches kleines Polster für sein nagelneues englisches Leben gewann.

Als seine Mutter ihn an dem Morgen ans Telefon holte, hörte sie nicht auf zu reden, auch nicht, als der Wärter sie anflehte, doch bitte zu warten, bis die Fragen unterbrochen wurden. Dann, wenn sie wieder jemanden aus der Sendung würfen, sei er ganz Ohr.

»Du landest so oder so im Gefängnis«, sagte seine Mutter und achtete nicht weiter auf seine Einwände. »Aber wenigstens landest du so auf der richtigen Seite der Tür und kannst am Wochenende nach Hause.«

»Wir leben in Israel. Wir lassen selbst Mörder am Wochenende nach Hause. Du kannst ein Dutzend Leute umbringen, und sie lassen dich auf der Hochzeit deiner Kinder tanzen. Damit überzeugst du mich nicht.«

»Es ist ein ganz besonderer Job«, sagte sie. »Streng geheim. Du wirst ein shushuist und hast für den Rest deines Lebens eine tolle Vita. Es ist der Premierminister, der dich will. Der General, es kommt von ihm.«

»Der General will mich

»Dich allein. Und da kannst du dir vorstellen, dass es ein wirklicher Notfall ist, wenn er will, dass ich dich frage. Es ist etwas, mit dem er nicht nach außen gehen kann, und ich sollte eigentlich auch nicht mit dir am Telefon darüber sprechen.«

»Wenn einer dein Telefon abhört, dann er oder seine Faschisten.«

»Oder die Russen«, sagte sie. »Die Amerikaner, die Franzosen oder deine geliebten Engländer. Aber es macht nichts, wenn sie zuhören. Ich habe nichts Falsches gesagt. Rein gar nichts.«

»Du tust es wieder«, sagte er. »Du redest für ihre Protokolle. Ich hasse es, wenn du Dinge sagst, die allein für irgendwelche Spione gedacht sind.«

»Okay«, sagte sie. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich weiß. Ich habe einen sehr merkwürdigen Job.«

»Das hast du.«

»Und jetzt habe ich einen merkwürdigen Job für meinen Sohn, der gut bezahlt wird und nicht schwer sein kann.«

»Woher weißt du das?«

»Weil der General dich für einen Idioten hält. Er lächelt, wenn ich Geschichten über dich erzähle, aber ich sehe es ihm an: Er denkt, du bist ein Narr. Wenn es eine komplizierte Sache wäre, würde er nicht auf dich vertrauen. Du bist loyal und kannst den Mund halten, allein darum geht es ihm.«

»Keiner bewahrt ein Geheimnis besser.«

»Und er denkt auch nicht, dass du eine Freundin findest, der du was ins Ohr flüstern könntest, selbst wenn du es wolltest.«

»Sagt er das, oder du?«

»Wer ist ›er‹? Damit sind wir durch. Denk nicht mal mehr an seinen Namen im Zusammenhang mit dem Job,...