Die Bibliothek der Geister - Der schwarze Mond

von: D.J. MacHale

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2019

ISBN: 9783641233693 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Die Bibliothek der Geister - Der schwarze Mond


 

Prolog

EINE WEITERFÜHRENDE SCHULE ist eigentlich kein gefährlicher Ort. Normalerweise jedenfalls nicht. Aber an den unheimlichen Ereignissen, die an der Coppell Middle School passierten, war nichts normal. Das erste Schulhalbjahr hatte so angefangen wie jedes andere, aber es dauerte nicht lang, da geschahen Dinge, die kein Schüler je wieder vergessen würde. Obwohl die meisten sie sicherlich gerne vergessen hätten.

Manche waren der Ansicht, die Schule sei verflucht. Andere hielten das Ganze nur für eine Pechsträhne. Niemand konnte jedoch bestreiten, dass eine unheilvolle schwarze Wolke über der Schule aufgezogen war, eine Wolke, die eine unbegreifliche Serie von Unglücksfällen auslöste. Niemand wusste, warum das geschah, wann diese Phase wieder enden würde … und ob sie überhaupt wieder enden würde.

An dem Tag, an dem das erste Basketballspiel dieser Saison stattfinden sollte, gab es vorher eine Show-Veranstaltung, um das Basketballteam der Schule zu motivieren. Auf der Tribüne in der Sporthalle saßen dicht gedrängt Hunderte aufgeputschter Schüler, die ihr Basketballteam anfeuern wollten. Ein Teil der Tribüne war von der Schulband besetzt. Im dröhnenden Rhythmus des Schlagzeugs gingen die Blechbläser vollkommen unter, die Holzbläser hatten überhaupt keine Chance. Aber niemand beschwerte sich. Es war ja sowieso keine besonders gute Band.

Die Lehrer saßen auf der untersten Bank der Tribüne. Eigentlich hätten sie sich zwischen die Schüler setzen sollen, um für Ruhe zu sorgen, aber da der einzige Sinn einer »Pep Rally« darin bestand, möglichst viel Lärm zu machen, griffen sie nicht ein.

Das Motivationsteam hatte gegenüber der Band Stellung bezogen. Es gab Jubelrufe, die mit dem, was die Band da gerade spielte, nicht das Geringste zu tun hatten. Cheerleader bewegten sich Rad schlagend und mit Flickflack-sprüngen über den Boden der Turnhalle. Jedes Mal, wenn eine von ihnen auf den Füßen landete, kreischten alle Schüler aus vollem Hals. Wenn eine Cheerleaderin einen Fehler machte und auf dem Hintern landete, schrien die Zuschauer noch lauter. Sie schrien, wenn das Motivationsteam mit Papierbändern wedelte und wenn der Bandleader seinen Stab schwang. Im Grunde genommen schrien sie die ganze Zeit.

Es war ein nur halbwegs organisiertes Chaos, und dabei war das Basketballteam noch gar nicht aufgetaucht. An der Spitze des Durcheinanders stand die Jahrgangssprecherin der 8. Klassen, Ainsley Murcer. Sie befand sich auf der anderen Seite der Turnhalle, gegenüber der Tribüne. An ihrer Seite stand der Lehrer für audiovisuelle Medien, der das Mischpult bediente. Ainsley hatte das Spektakel eigentlich minutiös durchgeplant und für die ganze Show eine genaue Choreografie erstellt, um einen möglichst dramatischen Effekt zu erzielen. Die Band sollte ein Lied spielen, die Show dann an das Motivationsteam übergeben, das ordentlich jubeln würde. Dann sollten die Cheerleader das Publikum mit ihrer gewagten Akrobatik begeistern. Und schließlich würden sie dem Schuldirektor die Bühne überlassen, damit er seine Rede halten konnte. Auf dem Höhepunkt der Veranstaltung sollte die Band die Schulhymne spielen und das Basketballteam einziehen.

In Ainsleys Vorstellung würde alles wie am Schnürchen funktionieren. Allerdings entpuppte sich das Ganze jetzt eher als Chaos, weil alle Programmpunkte gleichzeitig abliefen.

»Die Band sollte jetzt noch nicht spielen!«, beschwerte sich Ainsley beim Lehrer am Mischpult. »Keiner kann das Motivationsteam hören und die Cheerleader machen einfach, was ihnen gefällt, nur um anzugeben.«

Der Lehrer bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick und zuckte mit den Schultern. Sie hatten die Veranstaltung nicht mehr in der Hand.

»Wann ist meine Rede dran?«, rief Mr Jackson, der Schulleiter, Ainsley zu.

»Gleich!«, antwortete Ainsley. Sie versuchte zu klingen, als habe sie alles unter Kontrolle. Sie hatte dem Schulleiter diese Veranstaltung vorgeschlagen, und nun drohte alles im Chaos zu enden. Sie drückte ihm ein Mikrofon in die Hand und sagte: »Ich gebe Ihnen ein Zeichen.«

»Soll ich für Ruhe sorgen?«, fragte Mr Jackson.

»Nein!«, wehrte sich Ainsley energisch. »Ich schaffe das schon. Ich sorge dafür, dass die Band aufhört zu spielen, damit das Motivationsteam loslegen kann.«

Ainsley war fest entschlossen, die Veranstaltung wieder in den Griff zu bekommen. Als sie in Richtung Tribüne rannte, kam sie an einer Gruppe von Jungs vorbei, die mit gelangweilten Mienen an der Wand lehnten. Sie sahen eigentlich aus, als wären sie viel zu cool, um an einer Pep Rally teilzunehmen.

»Wie läuft’s denn so, Mercer?«, rief einer der Jungs Ainsley zu. Es war Nate Christmas, der Anführer der Clique. Er freute sich, dass der perfekte Plan der Jahrgangssprecherin so gar nicht aufging.

»Super!«, rief Ainsley ihm im Vorbeirennen fröhlich zu. »Könnte nicht besser sein!«

Nate und seine Freunde grölten, dann gab er ihnen ein Zeichen und sie folgten ihm aus der Halle.

Als Ainsley sich der Band näherte, entdeckte sie ein Mädchen, das in halber Höhe auf der Tribüne saß. Sie wurde von einer Gruppe völlig ausgeflippter Schüler, die sie offenbar nicht einmal bemerkt hatten, an die Wand gedrückt. Sie stach aus der Gruppe hervor, weil sie als Einzige weder schrie noch jubelte und insgesamt nicht so wirkte, als hätte sie auch nur das kleinste Quäntchen Spaß. Das Mädchen hieß Kayla Eggers, und am gequälten Ausdruck auf ihrem Gesicht war zu sehen, dass sie sich ganz weit weg wünschte.

Ainsley begegnete Kaylas Blick und nickte ihr zu, als wollte sie sich entschuldigen. Kayla reagierte nicht darauf, sondern sank noch mehr in sich zusammen.

Ainsley hatte inzwischen den Bandleader erreicht. »Hört jetzt auf mit dem Lied!«, rief sie.

»Was sagst du?«, schrie der Bandleader zurück.

»Hört auf! Ihr sollt noch gar nicht spielen!«

»Danke!«, schrie der Bandleader. »Wir spielen noch eins, wenn du willst.«

»Nein! Hört auf!«

Ainsley wandte sich um, rannte zurück in Richtung Mischpult und kollidierte auf halber Strecke mit einer Cheerleaderin. Die beiden purzelten in einem Gewirr von Armen und Beinen auf den Boden und ernteten lautes Gelächter von der Tribüne.

»Was machst du denn?«, brüllte die Cheerleaderin wütend. »Geh aus dem Weg!«

»Tut mir leid, tut mir echt leid«, sagte Ainsley und half dem Mädchen auf die Füße.

Die Cheerleaderin riss sich unwirsch los, setzte ein künstliches Lächeln auf und stolperte weiter. Ainsley raste zurück zum Mischpult. Mr Jackson erwartete sie geduldig.

»Moment, ich sorge jetzt mal für Ruhe!«, rief er ihr über den Lärm hinweg zu.

»Nein! Das ist meine Show!«, schnauzte Ainsley ihn an.

Mr Jackson runzelte die Stirn. Er war es nicht gewöhnt, dass eine Schülerin so mit ihm redete.

»Entschuldigung.« Ainsley versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. »Ich bin nur ein bisschen … im Stress.«

»Ja, das ist mir nicht entgangen«, erwiderte Mr Jackson.

Ohrenbetäubender Jubel brandete auf. Die Basketballmannschaft war eingetroffen. Die Spieler trabten einer nach dem anderen zwischen den beiden Tribünen herein und rannten auf das Spielfeld. Das Gejohle der Menge sprengte beinahe die Halle. Endlich verstummte die Band. Es hörte ja sowieso keiner zu.

Die Spieler umrundeten das Spielfeld, dribbelten ihre Basketbälle und spielten sie einander zu. Der Boden vibrierte unter den aufprallenden Bällen. Diese zusätzliche Vibration ließ den Lärmpegel erneut durch die Decke gehen.

»Wann soll ich meine Rede halten?«, rief Mr Jackson Ainsley zu.

»Eigentlich sollten Sie reden, bevor die Mannschaft einläuft«, blaffte Ainsley frustriert. »Warum läuft denn alles schief? Das ist eine Katastrophe!«

»Wenigstens kann es nicht mehr schlimmer werden«, sagte der Lehrer am Mischpult. Doch da täuschte er sich.

Bamm. Bamm. Bamm.

Mehrere kleinere Explosionen zerrissen die Luft. Die Schüler erschraken und schrien überrascht auf. Jemand hatte unter der Tribüne einige Knallfrösche gezündet … genau unter der Stelle, an der Kayla Eggers saß.

Es knallte und krachte und Kayla drückte sich noch dichter an die Wand. Die Kinder um sie herum sprangen auf, schubsten einander aus dem Weg und flüchteten. Die Knallgeräusche dauerten nur ein paar Sekunden, aber der Schaden war nicht mehr gutzumachen. Das Johlen der Menge und das Geräusch der prellenden Basketbälle war verstummt. Jetzt saß Kayla ganz allein direkt über der Stelle, an der das Chaos ausgebrochen war. Rauch waberte unter ihrem Sitz hervor. Sie kauerte sich an die Backsteinmauer und war vor Angst wie gelähmt. Sie weinte leise vor sich hin.

Hunderte von Menschen sahen stumm in ihre Richtung. Einen Moment lang geschah nichts. Aber während alle anderen ihre Aufmerksamkeit auf Kayla konzentrierten, erspähte Ainsley an einer anderen Stelle eine Bewegung. Unter der Tribüne kroch eine Gestalt hervor: Nate Christmas.

Das war zu viel. Wut und Enttäuschung brachen aus Ainsley heraus. Sie riss Mr Jackson das Mikrofon aus der Hand und drückte auf den Einschaltknopf. Zuerst entstand eine durchdringend kreischende Rückkopplung, dann war sie Herrin der Lage.

»Ich sehe dich, Nate Christmas.«

Ihre wütende Stimme drang durch Hallenlautsprecher und hallte durch die ansonsten stille Sporthalle. Jetzt richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf Ainsley. Und in diesem Moment geschah es: Der Abschnitt der Tribüne, auf dem Kayla saß, begann leise zu zittern. Es war, als hätte ein Erdbeben die Turnhalle erfasst. Aber die Einzigen, die es spürten, waren jene, die sich noch auf der Tribüne befanden. Die Schüler brachen in Panik aus, schubsten...