Anton Kuh - Biographie

von: Walter Schübler

Wallstein Verlag, 2018

ISBN: 9783835342095 , 572 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 29,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Anton Kuh - Biographie


 

»Eine wahre Wedekind-Tragödie« –
Wie er wurde


»Ein reines Wedekind-Drama« sei ihre Familie, klagt Auguste Kuh Ende 1919 Hermann Bahr ihr Leid.[1] – Welche Rolle verkörpert darin ihr Sohn Anton? Und wer sind die Dramatis personae?

Auguste Kuh, am 22. Januar 1855 in Prag als Tochter des Lederhändlers Baruch Perlsee und dessen Gattin Franziska geboren und seit 24. Dezember 1882 mit Emil Kuh verheiratet, 1885 Umzug nach Wien.

Georg Kuh, ältester (überlebender[2]) Sohn, Jahrgang 1888, studierter Jurist, geht als Bankbeamter Anfang 1914 in die USA, kann dort nicht Fuß fassen und kehrt Mitte 1917 nach Wien zurück.

Anton Kuh, am 12. Juli 1890 geboren, »über dessen ›geistige Manieren‹ man sich [zwar] hie und da in Wien beklagt hat«, aber in den späten 1910er Jahren die »einzige junge Elementarkraft unseres Journalismus«[3].

Margarethe »Grete« Kuh, am 1. September 1891 geboren, im Ersten Weltkrieg freiwillige Krankenpflegerin und ab 1917 »Private«[4].

Marianne »Mizzi« Kuh, geboren am 30. Januar 1894, Krankenschwester, laut Meldezettel: »Private«.[5]

Anna »Nina« Kuh, am 15. Oktober 1897 geboren, die am 20. Juni 1918 bei einer Vernehmung zu Protokoll gibt: »Schulbildung: Volks-, Bürger- u. Handelsschule«, »Beruf und Stellung im Berufe: Keinen«.[6]

Johann »Hans« Kuh, Jahrgang 1895, hat die Szene bereits verlassen, ist als Handelsschulabsolvent und nunmehriger »Kontorist« Anfang 1914 in die USA ausgewandert.

Auch nicht mehr im Spiel: der Vater, Emil Kuh, hinreißender Redner, schlagfertiger, geistreicher Causeur, begnadeter Parodist und Stimmenimitator, an dessen sprudelndem, kaustischem Witz man nur manchesmal »jenen Geist der Suite, den methodische Menschen mehr vorziehen als eine gewisse, an feste Ordnung nicht gebundene Genialität«, vermißt.[7] Ein Jugendfreund attestiert seinen Leitartikeln schmunzelnd den »romantische[n] Idealismus des väterlichen Achtundvierzigertums, [a] durch keine Zahlen- und Sachkenntnis gehemmt«.[8]

Nach dem frühen Tod des Familienerhalters, der am Pfingstsonntag 1912 im 57. Lebensjahr an »Schlagadernverkalkung«[9] verstirbt, scheinen die ohnehin permanent prekären Verhältnisse chronisch desolat geworden zu sein. Mögen die zahlreichen Prager und Wiener Honoratioren, Kollegen und Freunde, die dem langjährigen Redakteur des »Neuen Wiener Tagblatts« am 29. Mai 1912 in der israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs die letzte Ehre erweisen, für dessen Beliebtheit und Ansehen zeugen – Zählbares hinterläßt er, zeitlebens sorglos im Umgang mit Geld und Gesundheit, seiner Familie nicht.

Das familiale Wedekind-Drama, in dem – das nur nebenbei, aber nicht zu vergessen – Kinder mit ihren Eltern selbstverständlich per Sie verkehren, spielt in den Kulissen der Boheme. Auguste Kuh, von ihrer Tochter Grete als »unbürgerlich« und »alles eher, als was man Hausfrau nannte«, beschrieben, hat zwar keinen Beruf erlernt, ist aber hoch gebildet und verdient sich, »weil sie u. wir nie Geld hatten«, mit Latein-, Griechisch- und Französisch-Nachhilfeunterricht sowie Klavierstunden »manchmal [ein] paar Gulden«.[10] Sie bringt auch vereinzelt Artikel sowie Übersetzungen literarischer Texte aus dem Französischen in der »Prager Presse« und im »Prager Tagblatt« unter und gibt den zuständigen Redakteuren unverhohlen zu verstehen, daß ihr schon klar ist, daß die Bekanntheit ihres Sohnes Anton ihr dabei keineswegs Türen öffnet, sondern im Gegenteil beim Akquirieren von Aufträgen nur schadet, weil er mit allen anbindet.[11] Nicht bloß für Anton Kuh, auch für seine Schwestern und seine Mutter ist das Kaffeehaus »dauernder, selten verlassener Aufenthaltsort«.[12]

Klagen über »Existenzschwierigkeiten«, über »erfolgloses ›Schnorren‹«[13] – einige Schnorrbriefe sind überliefert[14] –, aktennotorische Zechprellerei, in der Sprache des »Zentralpolizeiblatts«: »betrügerische Kost- u. Quartierschulden«[15], Beschwerden über die wenig verläßliche Unterstützung seitens ihres Sohnes[16] und Mahnungen Dritter an die Adresse Anton Kuhs[17] konturieren den materiellen Hintergrund der konfliktträchtigen Konstellation.

Nach dem »Hingang« ihres »Herzenskindes« – Georg stirbt am 27. November 1919 an Blutvergiftung –, das nach der Rückkehr aus den USA in seiner neuen Karriere als Journalist – er publiziert unter dem anglisierten Vornamen »George« unter anderem im »Neuen Wiener Journal« – keinen Boden unter die Füße bekommt, obwohl Auguste Kuh sich für ihren von ihr verzärtelten, unleidlichen Ältesten bei Arthur Schnitzler und Hermann Bahr verwendet, klagt sie letzterem gegenüber: »Neid und Scheelsucht eines nur auf seine Geltung bedachten jüngeren Bruders« hätten Georg »von jedem Unternehmen ferngehalten«. Er sei in der Verbitterung gestorben, »von seinem Bruder, dem er echte Liebe und neidlosen Beifall gezollt, verächtlich beiseite geschoben worden zu sein.«[18] Ähnlich in einem Brief an Arthur Schnitzler: Georg sei von seinem Bruder »in seinem ganzen schriftstellerischen Bestreben fürchterlich unterdrückt« worden.[19]

Nicht als küchenpsychologische Erklärung von Anton Kuhs behaupteter »Scheelsucht«, sondern als einziges weiteres Zeugnis, das etwas Licht auf die Stellung der zwei Kuh-Brüder innerhalb der Familie wirft, hier die »Aussage« von deren ältester Schwester: Auguste Kuh habe Anton, mit seinem gewinnenden Charme von Kindesbeinen an Everybody’s Darling, dem älteren Bruder gegenüber von klein auf geradezu stiefmütterlich zurückgesetzt, weil sie ihn als Konkurrenz für den von ihr vergötterten »Erstgeborenen« betrachtete.[20]

Näher dran an Wedekind, aber auch kaum besser ausgeleuchtet ist die Rivalität der Kuh-Schwestern um Otto Gross, den charismatischen Verfechter umfassender Libertinage, dem »sexuelle Revolution, Hetärentum, Matriarchat, Polygamie, Orgie […] keine Gedankenspiele und keine spekulativen Felder [waren], sondern ein geistig-körperlicher Aktionsraum, in den er andere einbezog und den er mit anderen besiedelte«.[21] Stets mit von der Partie: Opium, Morphium, Kokain.

Mizzi lernt Gross vermutlich im Sommer 1914 kennen, als dieser sich nach seiner Entlassung aus der Landesirrenanstalt Troppau zur Nachbehandlung bei Wilhelm Stekel im Bad Ischler Sanatorium Wiener aufhält. Sie ist längerfristig mit ihm liiert, von 1914 bis zu seinem frühen Tod 1920, hat mit ihm eine Tochter, die am 23. November 1916 geborene Sophie.

Grete ist als Krankenpflegerin zur selben Zeit in Vinkovci, Slawonien (heute Kroatien), stationiert, da Gross dort als Assistenzarzt Dienst tut und seiner Ehefrau Frieda brieflich mitteilt, daß er seine neue Freundin heiraten wolle.[22]

Nina wird im Juni 1918 nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Mizzi um Otto Gross von der Polizei einvernommen und gibt dort zu Protokoll, daß sie seit Sommer 1914, »von kurzen Unterbrechungen abgesehen«, mit Gross verkehre und zwischen ihnen ein »Liebesverhältnis« bestehe.[23]

Wiederum unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß es nicht darum zu tun ist, »allen Findlingen in [m]einer Obhut ihre Väter nachzuweisen« – Siegfried Kracauer über die Neigung des Trivialbiographen, alle frühen Lebensabschnitte wenn schon nicht als Vorzeichen, so doch als »logische« Vorgeschichte zu sehen[24] –, im folgenden kursorisch die schulischen Beurteilungen Anton Kuhs, deren Gesamtqualifikation in etwa unter den Begriff »verhaltensoriginell« zu fassen wäre und damit auf den »Neurastheniker« vorauszuweisen scheint: Über die Volksschulzeit ist nicht mehr bekannt, als daß der Sechsjährige 1896/1897 eingeschult wurde: Alle Unterlagen vor 1900 wurden skartiert.[25] Der »Haupt-Katalog der Ia Classe vom Schuljahre 1900/01« des »k. k. Staatsgymnasiums im III. Bezirke Wiens« vermerkt zwar nicht eben berauschende »Leistungen in den einzelnen Unterrichtsgegenständen«: »Religionslehre: genügend / Lateinische Sprache: nicht genügend / Deutsche Sprache (als Unterrichtssprache): genügend / Geographie und Geschichte: genügend / Mathematik: genügend / Naturgeschichte: nicht genügend / Zeichnen: nicht genügend / Turnen: genügend / Kalligraphie: genügend« und unter »Äußere Form der schriftlichen Arbeiten«: »nicht empfehlend« – eine Beurteilung, die sich durch die ganze Gymnasialzeit hindurchzieht, nur fallweise gibt’s hier ein »minder empfehlend« –, aber immerhin unter »Sittliches Betragen« noch »befriedigend« und unter »Fleiß«: »ungleichmäßig«. Während sich unter den Benotungen der einzelnen Unterrichtsgegenstände in den Folgejahren kaum einmal ein »befriedigend« findet, geht’s mit der Beurteilung des Betragens ab dem zweiten Semester des Schuljahres 1903/1904 rapide bergab: Der »Haupt-Katalog der IV a Classe vom Schuljahre 1903/04«: »Sittliches Betragen: minder entsprechend wegen seines Benehmens beim Unterrichte u. seinen Mitschülern gegenüber«; »Haupt-Katalog der V. Classe vom Schuljahre 1904/05«: im ersten Semester »minder entsprechend wegen Unordnung und Unterrichtstörung«, im zweiten »entsprechend«; »Haupt-Katalog der...