Stadtnomaden - Wie wir in New York eine Wohnung suchten und ein neues Leben fanden

von: Christina Horsten, Felix Zeltner

Benevento, 2019

ISBN: 9783710950711 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Stadtnomaden - Wie wir in New York eine Wohnung suchten und ein neues Leben fanden


 

Ein Rausschmiss als Geschenk


East 80th Street, Upper East Side, Manhattan & 11th Street, Park Slope, Brooklyn


Christina


»Bye«, sagt der alte Mann im zerlöcherten Feinrippunterhemd. »Viel Glück.« Als er die Tür ins Schloss fallen lässt, zucke ich zusammen. Wir stehen in einer hässlichen Seitenstraße von Brooklyn – und sind obdachlos.

Unsere knapp zwei Jahre alte Tochter Emma halte ich im Arm. All unsere Habseligkeiten sind in einem Mietauto verpackt, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkt. Die Wohnung hatten wir im Internet gemietet, es hätte unsere vierte New Yorker Bleibe in vier Monaten werden sollen. Drei lichtdurchflutete Räume, 160 Quadratmeter, in Sunset Park, einem spannenden Industrieviertel in Brooklyn. Aber hier kennt niemand John, unseren angeblichen Gastgeber. Wir sind auf einen Internetbetrüger hereingefallen – und haben ihm 1400 Dollar überwiesen. Nach ein paar endlos scheinenden Sekunden drehe ich mich zu Felix: »Und jetzt?«

Am Anfang war es nur eine absurde Idee, aus der Not geboren: Weil uns der verrückteste Mietmarkt der Welt zu Nomaden gemacht hat, wollen Felix und ich mit Emma durch New York ziehen, jeden Monat in eine neue Wohnung in einem neuen Stadtviertel. Es wird ein Achterbahnjahr, in dem wir die Stadt, ihre Menschen und uns selbst völlig neu kennenlernen. Aber an diesem Samstag, an dem der Himmel über New York so grau ist wie das Haus vor uns, in dem wir uns so sehr wünschten zu wohnen, erleben wir den absoluten Tiefpunkt unserer Wohnreise.

Warum wir uns das alles antun? Dafür muss ich vielleicht am Anfang beginnen, der für mich immer schon New York hieß. An einem Samstag im Februar, mitten in einem Schneesturm, bin ich Anfang der Achtzigerjahre im Lenox Hill Hospital an der 77th Street auf die Welt gekommen. Vor Freude fuhr mein Vater, der damals am deutschen Generalkonsulat arbeitete, mit dem Auto durch das dichte Schneetreiben bis an die Südspitze Manhattans und wieder zurück. So hat er es mir immer wieder erzählt.

Meine ersten Lebensmonate verbrachte ich in New York, dann wurde mein Vater zurück nach Deutschland versetzt. Auf Fotos sehe ich mich später als Baby im Metropolitan Museum oder im Central Park, erinnern kann ich mich daran nicht. Trotzdem blieb New York unterbewusst tief in mein Gehirn eingebrannt, genau wie ein unverkennbarer amerikanischer Akzent, der viele Jahre später in der ersten Englischstunde wiederauftaucht und die Lehrerin für akkurates British English mindestens genauso verwirrte wie mich. Immer wieder kam ich in den folgenden Jahren für Besuche zurück. Wenn ich nicht in New York war, fühlte ich stets irgendwo in mir ein diffuses Fernweh nach der Stadt – oder ist es Heimweh?

Als ich 2012 eine Korrespondentenstelle in New York angeboten bekomme, schießen mir im Gespräch mit dem Personalchef Freudentränen in die Augen. Weil die Versetzung noch nicht offiziell besiegelt ist, darf ich meinen Kollegen nichts sagen und hangele mich, meine Aufregung nur mit größter Mühe verbergend, durch den Rest des Arbeitstages. Als ich endlich Feierabend machen kann, renne ich zu meinem Auto und rufe vom Handy aus Felix an. »Sie haben mir New York angeboten.« Felix arbeitet damals als freier Journalist und ist in seinem Leben bislang genau einmal umgezogen, von seiner Heimatstadt Nürnberg zum Studium nach München. Die Eltern wohnen bis heute in dem mittelfränkischen Fachwerkhaus seiner Kindheit. »Ich bin dabei!«

Über eine Unterkunftsliste für Praktikanten des deutschen Generalkonsulats finden wir erst mal ein dunkles Kellerzimmer in Chelsea. In der Dusche krabbeln die Kakerlaken, und aus der Nachbarwohnung stinkt es dermaßen nach Katzenpisse, dass man im Hausflur nur durch den Mund atmen kann – aber das Kellerloch ist bezahlbar. Von dort aus suchen wir unsere erste richtige gemeinsame Wohnung.

Überwältigt von den scheinbar unendlichen Möglichkeiten, halte ich mich an Bekanntem fest. Die Upper East Side rund um das Lenox Hill Hospital, eine schicke Gegend östlich des Central Parks, fühlt sich sofort wieder wie zu Hause an – mit der Bäckerei Orwashers, wohin der erste Ausflug meiner Eltern mit mir im Kinderwagen führte, der Hans-Christian-Andersen-Statue im Park, vor der mein Opa mit mir als Baby für Fotos posierte, und dem Eckrestaurant an der 74th Street, das heute ein langweiliges Steakhaus ist, aber mal das Skyline Diner war, wo sich der Kellner bei meinem letzten Besuch als Studentin noch an mich erinnern konnte. »Deine Eltern waren Stammgäste«, sagte er und stellte mir einen Teller Hühnersuppe hin. »Ich sehe euch drei noch vor mir.«

An einem heißen Sommertag ziehen Felix und ich von früh bis spät mit verschiedenen Maklern kreuz und quer durch die Upper East Side. Wir sehen einen Wohnturm, wo Portiers, sogenannte Doormen, mit weißen Handschuhen den Bewohnern wie im Hotel Türen aufhalten und Koffer tragen. Mit einem Makler in Anzug und Krawatte quetschen wir uns in eine der überteuerten und engen Butzen, die er fröhlich »Studio mit Schlaf ecke« nennt. Er zeigt auf einen eingebauten Wandschrank, dessen Türen sich nur öffnen lassen, wenn man das Bett aus der Schlafecke räumt. »Das ist der Schrank für all die Sachen, die ihr nie braucht!« Wir sehen heruntergekommene Wohngemeinschaften an lauten Avenues mit Studenten, die sich auf Matratzen stapeln, wir sehen Wohnungen, deren Fenster direkt auf die Backsteinwände des Nachbarhauses hinausführen (»the classic New York view«) – und schließlich am Ende eines langen Tages ein Apartment, das unser Budget sprengt, aber in das wir uns sofort verlieben: 66 East 80th Street, Apartment 6A.

»Ich freue mich immer riesig, wenn hier etwas frei wird«, sagt die Maklerin und drückt in einem alten, verspiegelten Aufzug auf den dicken, runden, schwarzen Knopf neben der Nummer 6. »Das Haus ist ein echter Geheimtipp, man denkt es von außen nicht, weil es so schlicht aussieht, aber hier gibt es tolle Wohnungen, und die Lage ist unschlagbar.« Wir betreten 6A und sehen schon vom Eingangsbereich aus zwei große Dreifachfenster, dahinter das Häusermeer der Upper East Side, Wassertürme, andere Wohnungen, Basketballplätze auf Dächern. »Alles andere waren Wohnungen, das hier ist ein Zuhause«, sagt die Maklerin. Wir öffnen eines der Fenster, lehnen uns hinaus und sehen rechts die Park Avenue, links das Südende des Metropolitan Museums, dahinter das Grün des Central Parks. Wir taufen es »the view«. »Genau die richtige Wohnung für Geschichtenerzähler«, wird ein Freund später sagen.

6A ist unsere erste große Liebe in der Stadt. Das Allerschönste an unserem neuen Zuhause entdecken wir erst ein paar Wochen nach dem Einzug: die von einem roten Alarmriegel und »Nobody Allowed On Roof«-Schild gesicherte Tür zum Dach. Die Kabel sind durchschnitten, und die Verbotsschilder bleiben wie so oft in New York ohne Konsequenzen. Besonders an klebrigheißen Sommerabenden zieht es uns hinauf ins Freie, wir genießen die Weite, die Menschenleere des Daches, das sich bald anfühlt wie unsere Terrasse. Einmal, im Hochsommer, übernachten wir dort oben und versinken im beruhigend gleichmäßigen Rauschen der Klimaanlagen und im Glitzern des Häusermeeres um uns herum.

Bisher haben wir unser bisschen Verdientes und Erspartes als Studenten und Berufsanfänger ins Reisen gesteckt, jetzt stecken wir es ins Wohnen: 2800 Dollar Miete pro Monat. Fünf- bis zehnmal so viel, wie wir für unsere Studentenzimmer in München bezahlt haben. Anfangs kommt uns das astronomisch viel vor, dann lernen wir, dass der durchschnittliche New Yorker 3500 Dollar im Monat für zwei Zimmer bezahlt und weit mehr als die Hälfte seines Einkommens dafür draufgehen. So gesehen ist unsere Bude ein Schnäppchen – und tatsächlich schaffen wir es, mit meinem Einstiegsgehalt und Felix’ freiberuflichem Strampeln, jeden Monat zusammenzulegen und den Scheck zum Vermieter zu schicken.

Zwei Jahre nach unserem Einzug kommt dann Emma dazu. Das Mount Sinai Hospital liegt direkt an der Strecke des New York Marathons, sodass am Tag nach ihrer Geburt Tausende Menschen von unten her mit uns jubeln. Aus dem Fenster unseres Einzelzimmers, das meine deutsche Krankenversicherung erstaunlicherweise möglich gemacht hat, schauen wir auf den herbstlich verfärbten Central Park, das Krankenhaus schenkt einen weißen Strampler von Ralph Lauren, und die Schwestern bringen einen rosafarbenen und viel zu süßen Geburtstagskuchen. Einen Tag und keine Komplikation später aber ist klar: Wir müssen raus, das Bett wird gebraucht.

»Lass uns doch nach Hause laufen«, sage ich übermütig. »Sind doch nur achtzehn Blocks.« Schon nach der Hälfte sacken mir die Beine zusammen, wir setzen uns in ein Café, das passenderweise »Heavenly Rest«, Himmlische Ruhe, heißt, und blinzeln müde in die Herbstsonne. Nach einer Weile rappeln wir uns wieder auf und schleppen uns die restlichen zehn Blocks nach Hause....