Toleranz: einfach schwer

von: Joachim Gauck

Verlag Herder GmbH, 2019

ISBN: 9783451815270 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Toleranz: einfach schwer


 

Zum Beispiel: Das Haus I


Auf der Suche nach einem lebensnahen, alltäglichen Beispiel für Toleranz kam mir Thomas in den Sinn, ein guter Bekannter in Westdeutschland, der vor einigen Jahren ein Haus von seiner Tante geerbt hat. Ein Mietshaus mit mehreren Parteien in einer westdeutschen Großstadt. Für Thomas, der seinen Lebensunterhalt als Angestellter in einer Stadtverwaltung verdient, ein ziemlicher Rollenwechsel. Dieses Mietshaus erschien mir plötzlich ein passendes Bild für eine Gesellschaft im Kleinen. Die Mieter brauchen Regeln, um miteinander auszukommen. Sie müssen sich nicht lieben, sie sollten sich aber auch nicht hassen. Sie müssen lernen, Konflikte zu lösen und in immer neuen Konstellationen miteinander auszukommen. Da Thomas mir regelmäßig von dem Haus erzählt, sind mir die Bewohner und die Verhältnisse vertraut geworden, ohne dass ich jemals vor Ort gewesen wäre. Und erstaunlich oft ging es in seinen Geschichten um Toleranz beziehungsweise ihre Grenzen.

Bevor Thomas das Erbe antrat, hatte er kurzzeitig Zweifel, ob ihn das Haus finanziell nicht überfordern würde. Das Gebäude war in einem relativ schlechten Zustand, ein wenig verwahrlost, die Fassade wies Risse auf, im Treppenhaus bröckelte der Putz von den Wänden. Bekannte rieten ihm, das Erbe vorsichtshalber auszuschlagen. Doch die Entscheidung fiel schnell. Das Haus erinnerte Thomas an Gefühle, Gerüche, Erinnerungen aus der Kindheit, als er die Tante regelmäßig besucht hatte. Dieser Ort gehörte zu seiner Geschichte. Und die Sparkasse sicherte ihm einen Kredit zu. Er trat das Erbe an.

Die neue Rolle forderte ihn allerdings gehörig heraus. Er arbeitete drei Tage in der Stadtverwaltung und kümmerte sich den Rest der Woche um das Haus. Es galt, neue Mietverträge aufzusetzen, neue Versicherungen abzuschließen, alle Daueraufträge zu ändern und Angebote für die Gebäudesanierung einzuholen. Ein Rundgang mit einem Architekten förderte zudem zutage, dass auch im Keller und auf dem Dachboden Ausbesserungen erforderlich sein würden. Thomas machte Pläne für die Ausbesserungsmaßnahmen, nahm Verhandlungen mit Firmen auf und holte das Einverständnis der Mieter für die Baumaßnahmen ein. Bei diesen ersten Gesprächen erfuhr er auch erstmals von Konflikten.

Es gebe ein Problem im Haus, erklärte ihm die ehemalige Grundschullehrerin, die unten im Erdgeschoss wohnt. Das »Problem« seien die beiden Studenten unter dem Dach. Sie hielten sich nicht an die Nachtruhe, probten regelmäßig mit Freunden Musikstücke, mit denen sie angeblich bei verschiedenen Live-Veranstaltungen auftraten. Sie fände es ja lobenswert, sagte die Lehrerin, dass sich die Studenten Geld verdienten, aber warum üben sie zuhause und nicht in irgendeinem Club? Mehrfach hätten sich die Hausbewohner bei der Tante beschwert, doch die sei mit der Sache im fortgeschrittenen Alter überfordert gewesen. Mehrfach hätten die Mieter sogar die Polizei gerufen. Dann sei zwar für einige Tage Ruhe eingetreten, doch kurz darauf sei die Auseinandersetzung in die nächste Runde gegangen. »Sie werden sich doch kümmern?«, fragte die Grundschullehrerin und sah Thomas erwartungsvoll an.

Thomas kümmerte sich. Zunächst suchte er ein Gespräch mit den Studenten, verwies sie auf die Hausordnung, forderte deren Beachtung. »Eine Gemeinschaft braucht ein Minimum an Regeln, braucht gegenseitige Rücksichtnahme.« Doch schon während des Gesprächs merkte er, dass seine Argumente die Studenten nicht erreichten. Warum, so musste er sich vielmehr anhören, würden sich die Mieter in ihrem Fall beschweren, wo doch die Familie im ersten Stock einen Hund hätte, der nachts nicht selten laut und lange bellte? Außerdem spielten sie im Dachgeschoss. Da gebe es keine Mieter daneben und darüber.

Thomas wollte kein Spießer sein, er wollte sich aber auch nicht auf der Nase herumtanzen lassen – und schrieb eine Abmahnung. Als allerdings schon nach zwei Wochen der nächste Beschwerdeanruf kam, sah er keinen anderen Ausweg mehr und setzte ein Kündigungsschreiben auf. Eine so lange und systematische Missachtung der Regeln konnte nicht mit Duldung rechnen. Doch bevor er den Brief noch einmal mit einem Rechtsanwalt durchgehen konnte, erreichte ihn das Kündigungsschreiben der Studenten; sie waren ihm zuvorgekommen. Thomas war es mehr als recht. Die unerwartet frei gewordene Dachwohnung brachte ihn sogar auf die Idee, sie für sich selbst als Zweitwohnung zu nutzen. Homeoffice ließ sich mit seiner Arbeit vereinbaren, Thomas hatte sich erkundigt. Und Anwesenheit im Haus würde dem Fortgang der Sanierungsmaßnahmen nur dienlich sein. Schon bald lebte Thomas mehr in seinem Haus als in seiner Mietwohnung.

Die Grundschullehrerin war für ihn die Verbindung zur alten Zeit, er erinnerte sie aus der Kindheit. Jetzt war sie schon einige Jahre pensioniert, aber sie ging zwei Mal jede Woche weiterhin in ihre Schule, drei Straßenzüge weiter, und gab Nachhilfeunterricht bei Schülern mit Sprach- und Schreibschwierigkeiten. Frau N. war so etwas wie ein personifiziertes Regelwerk für die Bewohner. Eigentlich hatte immer sie für das Klima im Haus gesorgt, indem sie etwas vorlebte, das für alle nützlich und hilfreich war. Wenn gestresste Nachbarn wenig Zeit für die Sorgen der eigenen Kinder hatten, fanden sie Geduld und Gehör bei ihr. Man konnte ihr die Schlüssel für die Wohnung und die Briefkästen anvertrauen, wie auch die Balkonblumen in Urlaubszeiten. Nur in einem Fall war ihr Verhältnis zu einem Mitmieter gestört.

Früher, so erzählte die Lehrerin, hätte sie zur Familie S. im ersten Stock ein freundschaftliches Verhältnis gehabt. Sie hätten die Geburtstage miteinander gefeiert, wären auch miteinander ins Kino gegangen. All das sei inzwischen vorbei. Nicht wegen des Hundes, den Herr S. vor zwei Jahren angeschafft hätte, obwohl laut Mietvertrag das Halten von Tieren untersagt sei und ihr das Bellen manchmal tatsächlich auf die Nerven ginge. Nein, der Grund lag im Sinneswandel von Herrn S. Es hatte einige heftige Debatten gegeben, und nun gehe sie Herrn S. aus dem Weg.

Herr S. war im Stadtteil geboren, nur wenige Hundert Meter entfernt. Doch – so behauptete er, als Thomas ihn kurze Zeit später sprach – der Stadtteil sei nicht mehr sein Zuhause. Früher hätten nur Deutsche hier gewohnt, dann seien türkische Familien zugezogen, danach auch andere Ausländer, nun seien die Deutschen in der Minderzahl, und im eigenen Land würden die eigenen Regeln nicht mehr gelten. Würde die Firma, bei der Herr S. arbeitet, nicht so nah liegen, wäre er längst umgezogen. Seine Tochter, erklärte Herr S., hätte er jedenfalls nicht in eine Schule gehen lassen können, in der drei Viertel der Schüler nicht einmal richtig Deutsch könnten. Trotz des viel längeren Schulwegs habe er sie woanders eingeschult. »Wie soll denn sonst etwas aus ihr werden?«

Früher, so erfuhr Thomas des Weiteren, hatte Herr S. die SPD gewählt, da hatte er noch Politiker wie Willy Brandt vor Augen. Heute findet er richtig, was Sozialdemokraten wie Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowsky sagen – aber die sollen aus der SPD ja rausgeschmissen werden. »Wenn man deren Meinung vertritt, ist man schon ein Rassist.« Wie könne es aber sein, dass Hunderttausende junger Männer ins Land kämen, die keine Chance auf Asyl hätten und trotzdem nicht abgeschoben würden? Wie viel Frauen sollten denn noch vergewaltigt werden? Jedenfalls hat es Herrn S. gereicht. Bei den letzten Bundestagswahlen hat er die AfD gewählt.

An jenem Abend hatte Thomas mich angerufen. Das Gespräch belastete ihn. Er selbst hat immer für die Grünen votiert. Hat mit ihnen gegen Atomkraft und rassistische Parolen demonstriert, hat Migranten in einem Fußballclub betreut. Es fiel ihm schwer, in einem Haus zu wohnen, wo er den AfD-Wähler im Wohnzimmer unter sich wusste. Er müsse, versuchte ich beruhigend einzuwenden, mit einem Mieter doch auch nicht befreundet sein. Er könne doch Distanz halten. Und außerdem: Wie tief reiche die Wut von Herrn S. denn überhaupt? Sei er eher ein Protestwähler, oder sei er wirklich fremdenfeindlich? Wie komme er beispielsweise mit der türkischen Familie aus, die doch auf demselben Stockwerk wohne? Ich spürte durchs Telefon, wie Thomas aufatmete. Plötzlich tauchte ein Hoffnungsschimmer auf. Denn als er sich im Gespräch mit Herrn S. ganz allgemein erkundigt hatte, wie er mit den übrigen Mietern auskomme, da hatte Herr S. erklärt, neben ihm, da wohnten ja Türken, »aber die sind ganz in Ordnung«. Leise, höflich und unauffällig.

Die vierköpfige türkische Familie lebt noch nicht lange im Haus. Herr K. besitzt ein Friseurgeschäft in der Hauptstraße des Stadtteils. Irgendwann hatte es sich auch hier ergeben, dass Thomas bei Baklava und Tee einen Teil der Familiengeschichte erfuhr. Die Eltern von Herrn K. waren als Gastarbeiter gekommen, er selbst ist schon in Deutschland geboren. Die Mutter war noch Analphabetin gewesen, doch Vater und Mutter hatten ihn immer zum Lernen ermuntert. So hat er eine Ausbildung gemacht, den Meistertitel als Friseur erworben und nach einiger Zeit einen eigenen Salon aufgemacht. Es geht ihm gut. Dank der vielen Flüchtlinge hat sich die Zahl seiner Kunden fast verdoppelt. Deswegen beschäftigt er inzwischen auch einen Araber. Und der Araber, sagte Herr K. dann mit einem etwas verlegenen Lächeln, hätte ihm noch einen kleinen Zugewinn gebracht. Unter Arabern sei nämlich das Hawala-System verbreitet, eine sehr alte Methode zur Geldüberweisung jenseits der Banken. Besonders Menschen, die sich in Deutschland im Asylverfahren befänden, würden ihren Verwandten in Syrien und dem Irak auf diese Weise Geld...