Psychotherapie mit komplex traumatisierten Jugendlichen (Leben Lernen, Bd. 306) - Ein Integrativer Ansatz für die Praxis

von: Heidi Zorzi

Klett-Cotta, 2019

ISBN: 9783608115413 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 34,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Psychotherapie mit komplex traumatisierten Jugendlichen (Leben Lernen, Bd. 306) - Ein Integrativer Ansatz für die Praxis


 

Prolog


Seit Jahren häufen sich die Fach- und Ratgeber-Publikationen im Bereich Trauma und Traumatherapie. Beratern, Therapeuten und Pädagogen steht heute eine große Palette von Aus- und Weiterbildungen zu diesem Thema zur Verfügung. Es gibt zahlreiche zertifizierte Curricula zur Qualifizierung als »Traumatherapeut/in«, »Traumapädagog/in« oder »Traumaberater/in«. Auch Betroffene und ihre Angehörigen können aus einem breiten Angebot an Ratgeberliteratur wählen.

So erfreulich diese Entwicklung ist, so suggeriert sie doch auch, dass die psychischen Folgen von Traumatisierungen sehr schnell, einfach und gut behandelbar oder gar heilbar seien, wenn nur die richtigen Methoden und Interventionen angewandt würden. Besonders im Bereich der kognitiv-behavioralen Therapieansätze liegen evidenzbasierte Untersuchungsergebnisse vor, die einen Therapieerfolg nach bestimmten Trauma-fokussierenden Interventionen bestätigen. In der Regel handelt es sich bei den Probanden um von Monotraumatisierung Betroffene bzw. um Opfer klar umgrenzter, erinnerungsfähiger und erzählbarer traumatischer Erlebnisse.

Früh und komplex traumatisierte Patienten aber – ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene – fallen meist durch die engen Auswahlkriterien der Untersuchungssettings, sei es, weil sie sich nicht freiwillig einem solchen unterziehen oder sich überhaupt in Behandlung begeben, die Vor- und Nach-Testungen verweigern oder eben weil sie sich gar nicht erinnern oder in Worte fassen können, was ihnen passiert ist, wobei sie z. T. massive Symptomatiken infolge früher Beziehungstraumatisierungen zeigen.

Solche Klienten sind – zumindest in der Anfangsphase der Therapie – nur schwer mit standardisierten traumatherapeutischen Interventionen zu erreichen. Was die Schwelle zur Aufnahme einer längerfristigen psychotherapeutischen Behandlung für diese Kinder und Jugendlichen überhaupt passierbar macht, sind in erster Linie der Aufbau und das Angebot einer tragfähigen therapeutischen Beziehung (Allianz), die ihre bisherigen Lebenswelten mitsamt den darin herrschenden Normen und Werten ernst nimmt, würdigt und ihr Verhalten als ihrer schwierigen Lebenssituation angemessen akzeptiert – obwohl in aller Regel sehr von den eigenen Lebensanschauungen und Grundwerten der in Helferberufen Tätigen divergiert.

Dieser Beziehungsaufbau muss von Beginn des ersten Kontakts an erfolgen, mehr als Angebot oder Einladung zur persönlichen Weiterentwicklung denn als Interventionsmaßnahme zur schnellen Beseitigung vorliegender Symptome. Voraussetzung dafür ist aufseiten der/s Therapeutin/en vor allem die bedingungslose Bereitschaft, die Innen- und Außenwelten des jeweiligen Klienten kennenzulernen, sie wie ein Gast oder Reisebegleiter interessiert, aufmerksam und wertschätzend mit ihm zu erforschen, um erst dann, auf der Basis dieser – in der therapeutischen Dyade nun geteilten und angemessen gespiegelten – Erfahrungen, zusammen solche Wege aus inneren und äußeren Verstrickungen zu suchen, die für die Betroffenen gangbar und hilfreich sind.

Meine Erfahrung in der therapeutischen Arbeit mit früh traumatisierten Kindern und Jugendlichen hat mir immer wieder gezeigt, dass diese Wege vielfältig und individuell sehr unterschiedlich sind und sein müssen. Je nach den speziellen Bindungs- und Lebenserfahrungen, den individuellen Ressourcen und den spezifischen Verletzungen ergeben sich z. T. völlig unterschiedliche Therapieverläufe, die sich in kein standardisiertes Manual übersetzen bzw. generalisieren lassen. Therapeut und Klient kreieren gewissermaßen in jedem Behandlungsverlauf eine individuell zugeschnittene Fassung der evidenzbasierten Psychotherapie, die der Therapeut in seiner Ausbildung gelernt hat.

In der Geschichte vom »verrückten Königssohn« wird ein solcher Beziehungsaufbau wunderbar beschrieben:

Der junge Prinz, einziger Sohn eines alternden Königs und seines Zeichens Thronfolger, hatte sich im Laufe der Jahre – zum Entsetzen seiner Familie – immer mehr zurückgezogen, saß schließlich nackt unter einem Tisch und pickte dort Körner . . . als wäre er ein Huhn. Der verzweifelte König holte alle Ärzte und Medizinmänner des Landes zusammen und beauftragte sie, alles in ihren Möglichkeiten Liegende zu tun, um seinen Sohn von seinem »Verrücktsein« zu heilen. Die Fachleute untersuchten den jungen Mann (so gut das unter dem Tisch ging), diagnostizierten, stritten sich über die richtige Behandlungsmethode und wandten ihre Interventionen an – aber der Königssohn blieb weiter unter seinem Tisch hocken und pickte seine Körner.

Als der König alle Hoffnung auf Heilung seines Sohnes schon aufzugeben schien, meldete sich ein unscheinbares, altes Männlein zu Wort: »Euer Gnaden, dürfte ich auch einmal mein Glück versuchen?« Es wartete die Antwort des Königs gar nicht ab, sondern zog sich nackt aus, kroch unter den Tisch zum Königssohn und begann dort, zusammen mit diesem Körner zu picken.

Der Königssohn stutzte, sah das Männlein an und fragte es: »Wer bist du und was machst du hier?« Das Männlein antwortete: »Ich bin neugierig und möchte gerne wissen, wie es ist, hier unter deinem Tisch diese Körner zu picken. Wenn dich das nicht stört, würde ich gerne ein bisschen hier mit dir sitzen und erfahren, wie es sich anfühlt, so zu leben.«

Der Königssohn nickte, und die beiden pickten und tauschten sich über Geschmack und Konsistenz der Körner aus. Nach einer Zeit sprach das Männlein: »Ich hab jetzt verstanden, warum du die Körner pickst, sie sind recht schmackhaft und reichlich vorhanden. Auf die Dauer der Zeit aber wird der Geschmack eintönig.« Und er erzählte dem Königssohn von der Süße der Früchte, der Würze der Kräuter und lud ihn ein, die verschiedenen Geschmäcker mit ihm zu teilen. Sie kosteten zusammen etliche Speisen, die die Diener unter den Tisch schoben, entdeckten ihre unterschiedlichen Vorlieben und besprachen interessante neue Rezepte.

Nach einer Zeit meinte das Männlein: »Ab und zu friere ich ein bisschen hier unter dem Tisch. Es wird dich wohl nicht stören, wenn mir die Diener eine warme Jacke hereinschieben?« Der Königssohn sah zu, wie sich das Männlein genüsslich die warme Jacke anzog, befühlte sie und nahm den Vorschlag des Alten an, eine weitere Jacke bringen zu lassen.

Satt und in warme Jacken gehüllt, plauderten die beiden weiter, und das Männlein erzählte davon, wie sich andere Stoffe auf der Haut anfühlten, und der Wind, die Sonne, das Wasser . . . Und es sagte: »Wir beide haben es hier unter dem Tisch jetzt wirklich kuschlig, warm und sicher . . . Auf die Dauer der Zeit aber wird’s hier auch reichlich eng.« Es erzählte dem Königssohn vom Sich-Strecken, vom Hüpfen, vom Laufen am Strand . . . bis dieser Lust zu verspüren begann, das alles selbst zu erleben, und sich schließlich – erst langsam und beschützt, an der Seite des Männleins – herauswagte unter seinem Tisch und die Welt neu erkundete1.

Mitunter ist selbst ein so höfliches und wertschätzendes »Eindringen« in den durch dicke Mauern geschützten persönlichen Raum des Jugendlichen zunächst nicht möglich, weil dieser sich, wenn auch einsam, nur in seinem Schutzpanzer sicher fühlt. Noch fehlt das Vertrauen in uns als »professionell Helfende«, noch konnte er nicht genügend heilsame Bindungserfahrungen machen, um ihn einen kleinen Spalt zu öffnen. Dann sollten wir uns erst einmal symbolisch neben die Mauer setzen, diese wahrnehmen, in Worte fassen und laut über ihre hilfreichen Funktionen nachdenken. Wir sollten unsere Wertschätzung darüber äußern, wie gut er auf seine Grenzen in ungewohnten Lebenslagen und ihm wildfremden Personen gegenüber achten kann: Es ist durchaus angemessen, erst einmal aus sicherer Entfernung zu prüfen, wer diese/r Therapeut/in eigentlich ist, was er oder sie vorhat und was davon tatsächlich hilfreich für den Jugendlichen selbst sein könnte.

Um heilsame Veränderungsprozesse im sozialen Verhalten, der emotionalen Befindlichkeit und den impliziten Persönlichkeitsmustern komplex traumatisierter Jugendlicher bewirken zu können, benötigen wir als ihre Begleiter ein umfassendes Verständnis der zugrunde liegenden Wirkmechanismen ihrer Symptomatiken einerseits und ein breites, möglichst ganzheitliches Spektrum an psychotherapeutischen Behandlungsansätzen andererseits – entsprechend der tief greifenden Störungen sowohl auf der...