Ophelia Scale - Der Himmel wird beben - Der zweite Teil der hochrasanten Fantasy-Dystopie

von: Lena Kiefer

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2019

ISBN: 9783641230968 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,99 EUR

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Ophelia Scale - Der Himmel wird beben - Der zweite Teil der hochrasanten Fantasy-Dystopie


 

1


Eins.

Zwei.

Drei.

Vier.

Fünf.

Sechs.

Ich zählte bis zehn, dann bis zwanzig, bis hundert und weiter. Als ich bei tausend ankam, hörte ich auf und begann von vorne. Ich musste das tun, ich musste zählen. Wenn ich nicht gezählt hätte, wäre ich an den Gedanken in meinem Kopf erstickt.

Der Spalt zwischen der Liege und Wand war schmal, aber ich passte gerade so hinein. Ich spürte den Beton, der unnachgiebig gegen meine Schultern drückte. Den harten Untergrund, der meine Wirbelsäule quälte. Trotzdem stand ich nicht auf. Die kalten Mauern hielten die Gefühle fern. Deswegen blieb ich dort sitzen, den ganzen Tag, jeden Tag. Meistens verbrachte ich auch die Nächte auf dem Boden. Seine Härte verhinderte die trügerische Sekunde nach dem Aufwachen, in der man glaubte, es wäre alles in Ordnung.

Achtzehn.

Neunzehn.

Zwanzig.

Ich verlagerte mein Gewicht. Das Metallgestänge der Liege drückte gegen meinen Arm. Sie war das einzige Möbelstück im Raum. Der war groß, aber ansonsten völlig kahl – drei Wände aus Beton, eine aus durchsichtigem Kunststoff, grauer Boden, graue Wände, graue Decke. Dazu gab es fünfzehn Kameras, die alles aufzeichneten, was ich tat. So ist das in einer Hochsicherheitszelle für Landesverräter und Schwerverbrecher. Für jemanden wie mich.

Ich hatte abgedrückt.

An diesen Moment erinnerte ich mich übergenau. Ich sah ihn wieder und wieder in jeder Sekunde, die ich nicht zählte. Aber dann – nichts. Kein Schuss, keine Kugel. Die Waffe hatte nicht funktioniert. Ich wusste nicht, warum. Ich musste es auch nicht wissen. In dem Augenblick, als sie mich betäubt hatten, war mir klar geworden, dass es völlig egal war, warum.

Erst hatte ich mit Eifer den Plan verfolgt, den König zu töten. Danach den, meinem Leben ein Ende zu bereiten. Beides existierte nicht mehr. Wo früher meine Überzeugungen gewesen waren, gab es nur noch einen leeren Raum – leer wie die Zelle, in der ich darauf wartete, dass man mir das Leben nahm. Die Zelle, in der mich niemand besuchte, niemand außer der Stille, die mit jedem Tag lauter wurde, mich etwas mehr erdrückte. Die Mauer zwischen mir und meinen Gefühlen schwankte. Ich krallte meine Finger so fest in die Ärmel meiner Gefängniskluft, dass sie sich in meine Haut bohrten. Der Schmerz half.

Drei Wochen war ich nun hier drin. Zweimal am Tag bekam ich eine Mahlzeit und wusste nur durch das Dimmen des Lichtes, wann die Nacht begann. Einmal täglich wurde eine Dosis HeadLock durch die automatische Zugangsklappe geschoben. In unregelmäßigen Abständen öffnete sich ein Durchgang und ich konnte duschen, mit kaltem Wasser und schlechter Seife. Meine Haare waren stumpf, meine Haut spannte, als wäre sie aus Pergament. Seit den Verhören in den ersten Tagen hatte ich kein menschliches Wesen mehr gesehen, außer in meinen Träumen. Darin tauchte immer Leopold auf, überlebensgroß und beängstigend real. Es ist das Ende für uns alle. Auch für dich.

Manchmal fragte ich mich, warum das so lange dauerte. Warum sie mich nicht endlich zu meiner Hinrichtung abholten. Aber vielleicht war das ein Teil der Strafe. Ein Leben in dieser Zelle ohne Ablenkung oder menschlichen Kontakt, bevor sie es endgültig beendeten. Ich hätte nie gedacht, dass es so entsetzlich sein könnte, allein zu sein.

Vierunddreißig.

Fünfunddreißig.

Sechsunddreißig.

Siebenunddreißig.

Ich zuckte zusammen, als sich die Klappe in der Wand öffnete. In der bleiernen Stille war das Geräusch so laut wie ein Pistolenknall. Mein Puls schnellte hoch, die imaginäre Mauer, hinter der ich mich verkrochen hatte, bekam einen Riss. Ich schob meine Finger in die Haare und zerrte daran, hieß den scharfen Schmerz in meiner Kopfhaut willkommen. Mein Herzschlag beruhigte sich.

Ein Tablett glitt durch die Klappe am Boden. Ich kam auf die Beine, um es zu holen. Das Metall war warm unter meinen ­Fingern, genau wie die Schüssel darauf. Die Suppe war grün und roch nach einer eigenartigen Mischung aus Gemüse und Gewürzen. Die Schwaden des Geruchs waberten durch einen Riss meiner Abwehr, kamen bei mir an. Plötzlich war ich wieder in Brighton, saß zu Hause am Esstisch und wechselte mit meinem Bruder einen Blick – ein stummer Kommentar zu ­Lexies Kochkünsten.

Ein scharfer Schmerz fuhr mir in den Magen. Die Erinnerung an meine Familie rüttelte an meiner Mauer. Der Löffel in meiner Hand zitterte. Nein, nein, bitte nicht, flehte ich stumm. Aber es war zu spät.

Scham. Sehnsucht. Bedauern. Einsamkeit. All das brach über mich herein, zerlegte die Mauer in Trümmer. Ein trockenes Schluchzen bahnte sich gewaltsam einen Weg meine Kehle hinauf. Ich verlor den Kampf, in dem ich nie eine Chance gehabt hatte.

Fest schlang ich meine Arme um die Beine, presste Mund und Nase fest gegen meine Knie. Mein Wimmern hallte trotzdem von den Wänden wider, Tränen durchnässten meine Hose, liefen in meine verfilzten Haare und versickerten dort. Mein Kummer und meine Wut schüttelten mich, bis nichts mehr an seinem Platz war. Mit einem heiseren Aufschrei packte ich die Schüssel und schleuderte sie von mir. Sie knallte mit voller Wucht an die Plexiglaswand gegenüber und schepperte dann zu Boden. Grünliche Suppe lief die Scheibe hinunter und sammelte sich am Boden in kleinen Pfützen, die sich dort verloren. Genau wie ich.

Erst viel später regte ich mich wieder. Meine Muskeln waren verkrampft und beklagten sich über die Bewegung. Ich schleppte mich trotzdem bis zu den Überresten meines Essens, das längst zu stumpfen Flecken getrocknet war. Ich sammelte die leere Schüssel ein, stellte sie auf das Tablett und trug beides zur Ausgabeklappe. Das kalte Metall in meinen Händen brachte mich in die Realität zurück.

Zweiundvierzig.

Dreiundvierzig.

Ich kehrte zurück in meine Nische, erschöpft und leer. Dort schloss ich die Augen und lehnte meinen Kopf gegen die Wand. Er tat weh, aber ich spürte es kaum, denn er schmerzte ständig. Das HeadLock, das sie mir gaben, war zu hoch dosiert, was die gleichen Symptome hervorrief wie eine zu niedrige Dosis. Es war eine Vorsichtsmaßnahme. Sie wollten nicht riskieren, dass ich zu viel dachte.

Mein Blick huschte zu den Kameras. Schaute er zu? War er stolz, dass er es geschafft hatte, mich zu manipulieren? Oder berührte es ihn nicht, weil er es vorher schon hundertmal getan hatte? Ich erinnerte mich an den Ausdruck in seinem Gesicht nach dem Attentat. Es war verzerrt gewesen, verzerrt vor Schock und Entsetzen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich nach seiner brillanten Vorstellung aus der Reihe tanzen würde.

Vierundsechzig.

Fünfundsechzig.

Sechsundsechzig.

Der Gedanke an ihn brachte mich erneut an den Rand des Abgrunds. Ich presste meine Schultern stärker gegen die Wand, bis sie taub wurden. Längst hatte ich es aufgegeben, unser letztes Treffen immer wieder durchzuspielen, jede Regung, jedes Wort. Es war sinnlos. Er war in diesem Spiel besser als ich. Er hatte mich besiegt. Zerstört. Vernichtet. Alles, was er mir hinterlassen hatte, war Wut. Wut auf mich selbst, weil ich ihm geglaubt hatte.

Eine vertraute Dunkelheit griff nach mir, und es gab einen Moment, in dem ich nachgeben wollte. Mich hineinziehen lassen in die Schwärze, damit es vorbei war. Aber dann vergrub ich erneut meine Finger in den Ärmeln meiner grauen Kluft, rieb den harten Stoff zwischen den Fingern. Es half, ich entkam. Aber es war nichts, worauf ich stolz sein konnte. Ich war nur zu feige, endgültig den Verstand zu verlieren.

Einundsiebzig.

Zweiundsiebzig.

Nein, Moment.

»Ophelia?«

Ich schreckte so plötzlich hoch, dass ich mit dem Kopf heftig gegen die Wand knallte. Der Schmerz jagte durch meine Schläfen und vermischte sich mit dem ständigen dumpfen Pochen dort. Adrenalin trieb mich auf die Füße, bis ich begriff: Es gab hier keinen Kampf. Keine Flucht. Mein Kopf wusste das. Mein Körper würde es nie lernen.

Auf der anderen Seite der Scheibe stand Caspar Dufort.

»Ist es so weit?« Ich sah ihn an und er nickte.

»Leg die an.« Er schob ein Gebilde aus Metall durch die Öffnung für die Mahlzeiten. Mein ehemaliger Ausbilder war mit seinem ebenmäßigen Gesicht, den dunkelblonden Haaren und blauen Augen immer noch attraktiver, als ein einzelner Mensch sein durfte. Aber seine Miene war jetzt unbewegt und starr, seine Haltung aufrecht und steif. Es hätte nicht deutlicher sein können, dass er mich zutiefst verachtete.

Ich nahm die Fesseln entgegen und schob meine Hände hindurch, dann die Füße. Das Metall zog sich schmerzhaft fest, eine starre Verbindung dazwischen gab mir gerade genug Freiraum, um zu laufen. Dufort ließ die Scheibe zur Seite fahren und deutete in den Gang.

»Gehen wir.«

»Okay.« Meine Stimme war heiser, mein Puls hämmerte gegen die Innenseiten meines Halses. In der ersten Zeit hatte ich Angst vor diesem Tag gehabt, dann hatte ich ihn herbeigesehnt. Jetzt war es eine Mischung aus beidem.

Dufort wich meinem Blick aus, während er die Fesseln kontrollierte.

»Komm mit.« Er ging voran. Wir verließen den Sicherheitstrakt und trafen in einem Vorraum auf vier Gardisten. Sie begleiteten uns schweigend, aber nach der Stille in der Zelle war jedes Atmen, jeder Schritt,...