Das Sterben der anderen - Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können

von: Tanja Busse

Blessing, 2019

ISBN: 9783641202415 , 416 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 7,99 EUR

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Das Sterben der anderen - Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können


 

Kapitel  1

Das Refugium der Heuschrecken

Warum die Landwirtschaft die Biodiversität jahrhundertelang gefördert hat und die Agrarindustrie sie jetzt gefährdet

»Achtung, Blindgänger!« steht auf dem Schild am Waldrand. Will man zum letzten Rückzugsort des Kleinen Heidegrashüpfers auf der Huppenheide gelangen, muss man die Warnung ignorieren.

»Blindgänger?«, frage ich. »Macht nichts«, sagt Thomas Fartmann. Er ist Heuschreckenforscher, promoviert und habilitiert, und leitet die Abteilung für Biodiversität und Landschaftsökologie an der Universität Osnabrück. »Hier wurde nie scharf geschossen.« Ich zögere kurz und folge ihm. Weg vom Wanderweg. Über einen kleinen Wall auf Mountainbikespuren hinein in die Huppenheide. Einst Allmende. Heute Truppenübungsplatz.

Thomas Fartmann ist hier aufgewachsen, auf einem Bauernhof am Rande der Huppenheide, nicht weit von Münster entfernt, die so heißt, weil hier früher der Wiedehopf sang, der Heuschreckenfresser.

Hupp hupp, so ruft der Wiedehopf. Huppe ist das Münsterländer Wort für Wiedehopf. Willkommen also in der Huppenheide, in der seit fast sechzig Jahren kein Wiedehopf mehr gesungen hat. Es ist wie mit dem Turteln und der Turteltaube: In unserer Sprache, in unseren Ausdrücken und Flurbezeichnungen überleben die Tiere länger als in der Natur. Als Wörter bewahren wir die Vielfalt besser als draußen im echten Leben. Der Name Wiedehopf ist mir vertraut, aber vielleicht auch nur, weil er seinen Auftritt in der Vogelhochzeit hat, dem uralten Kinderlied. »Der Wiedehopf, der Wiedehopf, er bringt der Braut ’nen Blumentopf!« Aber wie sieht er aus?

Ich muss erst im Internet nach Fotos suchen, um ein Bild zu haben: Der Wiedehopf trägt eine Art Irokesenschnitt aus langen orange-bräunlichen Federn, weiß und schwarz abgesetzt. Seine Flügel schwarz und weiß gestreift wie ein Zebra. Was für ein hübsches Tier!

An diesem Stückchen Land – der Heide, die nur noch so heißt, aber keine mehr ist – will mir Thomas Fartmann zeigen, warum die Wiedehopfe verschwunden sind und die Heuschrecken mit ihnen. Und all die anderen Tiere, die unsere Landschaft geprägt haben, unsere Lieder und unsere Sprache.

Bis vor zweihundert Jahren war die Huppenheide Gemeinschaftsland. Jeder, der Tiere hatte, durfte sie dort weiden lassen. Thomas Fartmann hat alte Karten mitgebracht, die zeigen, wie groß diese gemeinschaftlich genutzten Allmendeflächen früher waren – viel größer als die einzelnen Höfe im privaten Besitz. Eine der Karten zeigt das »Kirchspiel Telgte« – den Ort, an dem Günter Grass die Barockdichter über Muttersprache und Vaterland diskutieren lässt, während um sie herum der Dreißigjährige Krieg wütet. Fartmanns Karte zeigt Telgte knapp zweihundert Jahre nach dieser Zeit. Es sind darauf Stadtgärten eingezeichnet, größer als die Stadt selbst, und ein paar schmale Streifen: die Felder im Besitz der einzelnen Höfe. In einem weiten Bogen beinahe einmal um die Stadt herum liegen die großen Heideflächen.

Viele Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende lang hatten die Hirten ihre kleinen Herden dorthin zum Weiden geführt. Auf diese Weise entstanden die offenen Heideflächen und die lichten Wälder. Denn auch dort – zwischen den Bäumen – ließen die Hirten ihr Vieh weiden und Bucheckern und Eicheln fressen. Man nennt sie Hude- oder Hutewälder oder auch Hutungen. Die alte Heimat der Heuschrecken und Wiedehopfe war also keine ursprüngliche Natur, sondern eine Kulturlandschaft, ein Ökosystem, das erst durch die Nutzung der Bauern und Hirten, durch ihre Agrar-Kultur, entstanden ist. »Hätten wir hier Naturlandschaft, wäre Mitteleuropa extrem langweilig«, flachst Fartmann. »Dann wäre hier nur Buchenwald. Wir könnten nichts sehen, es wäre dunkel, überall stünden Bäume.« Zu kalt und zu dunkel für Heuschrecken und Schmetterlinge.

Seit dem Ende der letzten Eiszeit, seit etwa 11 700 Jahren, haben die Menschen die Landschaft Mitteleuropas geformt – und damit nicht nur Platz für ihre Bedürfnisse geschaffen, sondern auch Lebensraum für viele verschiedene Tier- und Pflanzenarten. »Ohne die Kulturtätigkeit des Menschen wären ganz viele Arten gar nicht da«, sagt der Ökologe. Die historischen Kulturlandschaften hatten eine höhere Biodiversität als die dichten Buchenwälder, die Mitteleuropa dominierten, bevor die Menschen begannen, Bäume zu roden und Felder anzulegen. Zwar haben auch die riesigen Weidetiere, die vor der letzten Eiszeit in Mitteleuropa lebten und inzwischen ausgestorben sind, offene Flächen in den Urwäldern geschaffen. Erst im Neolithikum, also in der Jungsteinzeit, zogen Ackerbauern und Viehzüchterinnen aus Vorderasien nach Mitteleuropa. Damals waren wir Menschen also eine invasive Spezies, die in fremde Ökosysteme eindrang. Diese frühen Migranten aus dem Osten schufen neue Biotope, indem sie Äcker und Gärten anlegten, ihr Vieh in den Wäldern weiden ließen und Pferche bauten. Und dabei verbreiteten sie neue Arten. Weizen, Gerste, Erbsen und Linsen und – versteckt im ungereinigten Saatgut – viele andere wilde Gräser und Kräuter. Auf diese Weise schufen die Bäuerinnen und Bauern die große Biodiversität Mitteleuropas, die uns heute so natürlich vorkommt. Mit ihrem Saatgut gelangten die winzigen anthrazitfarbenen Samenkörner des Klatschmohns zu uns. Über Jahrhunderte prägten seine feuerrot leuchtenden Blüten die Getreidefelder unserer Vorfahren – bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wer heute rote Farbtupfer im Kornfeld eines Ökobauern entdeckt, fühlt sich an eine verloren gegangene Heimat erinnert, an unsere alte Kulturlandschaft, vielleicht sieht er Goethe oder Eichendorff in der Postkutsche vorbeirumpeln.

Dabei sind es Einwanderer aus dem Osten, die unser Bild von der urdeutschen Landschaft prägen – Klatschmohn, Echte Kamille, Ackerfrauenmantel, Storchschnabel, Taubnessel, Senf und sogar die Kleine Brennnessel. Später haben die Römer neue Pflanzen in den Norden gebracht, teils als Gemüse wie Kresse oder Portulak, teils unbeabsichtigt über ungereinigtes Saatgut, die hübsche Acker-Lichtnelke zum Beispiel.9

»Der Mensch hat über Jahrtausende Artenvielfalt gefördert«, so fasst Thomas Fartmann diese Entwicklung zusammen. »Dass er das nicht mehr macht, ist ein junges Phänomen des Anthropozäns. Seit etwa siebzig Jahren überlagert der Mensch mit seiner Aktivität alle geologischen Prozesse.« Er sagt das sehr nüchtern, als schaue er von außen auf diese Entwicklung und auf die seltsame Spezies Mensch und ihren Einfluss auf die Ökosysteme: erst als Schöpfer von Vielfalt und Schönheit und dann als ihr Vernichter.

Fartmann zählt auf, welche Vögel damals in den Heiden des Münsterlands zusammen mit den Wiedehopfen lebten: Blauracken, Schwarzstirnwürger, Ziegenmelker, Alpenstrandläufer oder Goldregenpfeifer. »Die kennt heute keiner mehr«, konstatiert Fartmann trocken, und ich muss ihm zustimmen und erst im Netz nach Bildern suchen. Die Blauracke ist wunderschön, sie sieht aus, als käme sie direkt aus dem tropischen Regenwald. Ihr Gefieder ist so bunt und schillernd, dass es für einen Auftritt im Zeichentrickfilm Rio reichen würde. »Sie ist in Deutschland ausgestorben«, sagt Fartmann. »Und von den Goldregenpfeifern gibt es weniger als zehn Brutpaare.« Kein Wunder, denn beide brauchen genau wie der Wiedehopf offene Landschaften zum Wohnen und große Insekten zum Fressen.

Unter den Ökologen gilt das Ende der Gemeinschaftsflächen um 1830 als Beginn des ersten großen Vogelsterbens. Damals beschlossen viele Regierungen des Deutschen Bundes, ihre Ländereien neu aufzuteilen und das Gemeinschaftsland, die Marken, zu privatisieren. Viele Heiden wurden damals mit Fichten und Waldkiefern aufgeforstet. So wuchsen dunkle dichte Wälder, in denen weder Heuschrecken noch Wiedehopfe leben können. »Diese Markenteilung war der Startschuss für die Trennung von Wald und Weide«, sagt Fartmann. »Und damit ging ein ganz wichtiger Lebensraum für viele Vögel verloren. Um 1800 waren zwei Drittel von Niedersachsen Moor und Heide, heute sind es weniger als ein Prozent.«

Bestimmt habe ich das Wort Markenteilung im Geschichtsunterricht gehört, aber ich erfasse erst hier, in der Huppenheide, was es bedeutet hat. Die scharfe Linie, die überall in Deutschland Wälder von Feldern trennt, schien mir immer etwas Natürliches zu sein, der Anfang des Waldes eben. Dabei ist diese erste Baumreihe ein Lineal, das die Großgrundbesitzer während der Markenteilung in die Natur gelegt haben, um die Heidelandschaften mit ihren Büschen, Bäumen und Gräsern zu zerschneiden und anschließend aufzuräumen. Hier stehen die Bäume ordentlich in Reih und Glied wie einst preußische Soldaten. Und dort weidet das Vieh hinter schnurgeraden Zäunen. Diese neuen Grenzen haben die Landschaft sortiert und geordnet, in Weiden, Äcker und Forste, also Holzacker. Verloren gegangen ist dabei die bunte Vielfalt der Heiden, das ungeordnete Nebeneinander von kleinen und großen Büschen, von Lichtungen und Dickicht, von zarten Gräsern und Orchideen und großen alten Eichen, die Heimat unserer Biodiversität. Seit mir Thomas Fartmann erklärt hat, was die Markenteilung, das Ende der Gemeinschaftsflächen, für die Vielfalt bedeutet hat, blicke ich anders auf die Waldränder. Seitdem sehe ich, was fehlt.

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