Schotten dicht - Roman

von: David Ross

Heyne, 2019

ISBN: 9783641242091 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 12,99 EUR

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Schotten dicht - Roman


 

Kapitel 2

Juni 1986. Benidorm, Spanien

»Ich hab echt langsam genug von diesem Scheiß hier, Bobby.«

»Wie bitte? Was ist denn mit all diesen anregenden Konversationen, dieser humorvollen Schlagfertigkeit der Gäste? Wie kann man davon je genug haben?«

»Lass stecken. Bitterbösen Sarkasmus krieg ich auch in Ayrshire rund um die Uhr.«

»Tja, dann ist unsere Zeit hier vielleicht langsam abgelaufen.« Bobby Cassidy hatte seinen letzten Kommentar leise ausgesprochen, war sich aber sicher, dass Lizzie King, mit der er seit vier Jahren zusammen war, ihn gehört hatte. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken. Bobby hatte dieser Tage häufig das Gefühl, dass sie sich schon wie eins dieser ewig verheirateten Ehepaare aufführten. Von ihr ignoriert zu werden war vor diesem Hintergrund nichts Besonderes mehr.

Bobby und Lizzie hatten viel gemeinsam durchgemacht, seit sie sich 1982 in Kilmarnock kennengelernt hatten. Damals war Lizzie eine zentrale Person für den Beginn von Bobbys DJ-Karriere gewesen: Sie hatte ihn für die Party zu ihrem achtzehnten Geburtstag angeheuert – Bobbys erstes Booking überhaupt, der erste Schritt, um zusammen mit seinem damals besten Freund Joey Miller den großen Traum von einem mobilen DJ-Business zu verwirklichen. Dann, während der surrealen Ereignisse des Sommers 1982, war sie ihm eine Stütze gewesen, eine Schulter, an der er sich ausheulen konnte, und dafür würde er ihr bis in alle Ewigkeit dankbar sein. Mit der Zeit stellte sich eine übermäßige Vertrautheit zwischen Bobby und Lizzie ein – eine Folge der klaustrophobischen Arbeits- und Lebensbedingungen der gemeinsam in Benidorm verbrachten Sommermonate –, und dieses Übermaß an Vertrautheit begann nun von beiden seinen Tribut zu fordern.

Vier Jahre zuvor waren sie nach Spanien gegangen, um der Situation zu Hause zu entfliehen, wenngleich auch aus unterschiedlichen Gründen. Bobby versuchte dem immensen Druck zu entkommen, der ihm nach dem frühen Tod seines Vaters und den belastenden Umständen der Rückkehr seines Bruders aus dem Falklandkrieg zu schaffen machte. Lizzie floh vor den Verhältnissen in der viel zu engen Sozialwohnung ihrer Eltern und dem tristen Schicksal schottischer Fabrikarbeiter, das auch für sie vorherbestimmt zu sein schien. Sie wollte ein Leben ohne die immergleichen Streitereien darüber, ob diesen Monat zuerst die Miete und dann der Buchmacher bezahlt oder ob ihr arbeitsloser Vater endlich mal etwas Produktiveres mit seiner Zeit anstellen würde, als Lizzies Stiefmutter zu schwängern. Gäbe es bei University Challenge die Spezialkategorie Fortpflanzung, Frank King hätte in der beliebten Quizshow problemlos alle Fragen und Rätsel gemeistert. Sicherlich, Lizzies Familie bestand aus guten, wohlmeinenden Menschen, aber suboptimale Lebensentscheidungen und die Konsequenzen der brutalen Einschnitte der Thatcher-Politik hatten ihr Dasein in eine freudlose Plackerei verwandelt, einen ständigen Kampf um das Allernotwendigste. Obwohl sie damals erst achtzehn gewesen war, hatten die Umstände Lizzie bereits zermürbt. Sie hegte keine unrealistischen Träume, strebte nicht nach einer Karriere als Stewardess, wollte sich aber sehr wohl das Leben in einem etwas farbenfroheren Teil der Welt ansehen – selbst wenn dieser viele Ähnlichkeiten mit ihr vertrauten Orten in England aufwies. »Im Grunde ist es wie Blackpool, bloß mit mehr Sonne und ’ner größeren Auswahl an Geschlechtskrankheiten«, hatte ihr ein Freund mit Arbeitserfahrung in der spanischen Tourismusbranche das Urlaubsdomizil Benidorm beschrieben. Damals hatte ihr das ausgereicht. Benidorm verhieß mehr Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung als all diese unwürdigen Arbeitslosenprogramme der Tory-Regierung zusammengenommen.

Im August 1982 waren Lizzie und Bobby spontan für ein paar Wochen in den Süden geflogen, um im darauffolgenden Jahr die komplette Saison in Benidorm zu verbringen. Die Tage waren lang, die Arbeit erschöpfend, aber größtenteils unterhaltsam: Lizzie arbeitete als Animateurin bei Twenty’s, Bobby als Barkeeper-Gehilfe. Trotzdem feierten die beiden – wie alle anderen auch, die mit ihnen in Benidorm arbeiteten –, als würde es kein Morgen geben. Bobbys enger Freund Hamish May kam öfter zu Besuch: eine Woche hier, ein verlängertes Wochenende da. Joey Miller jedoch, seit Schulzeiten Bobbys bester Freund überhaupt, lehnte die Einladungen in den Süden stets ab, sodass Bobby irgendwann auch nicht mehr fragte. Lizzie mochte Joey, aber sie sah auch, dass er für Bobby zu einer ständigen Erinnerung an all die Dinge geworden war, vor denen dieser zu fliehen versuchte: zum einen Bobbys depressiver und traumatisierter Bruder Gary, der am Wahnsinn des gerade überlebten Krieges verzweifelte, zum anderen seine jüngere Schwester Hettie, ein moralisches Gewissen auf zwei Beinen, das Bobby jetzt, da er sein Leben ohne derartige Einschränkungen genießen wollte, gar nicht gebrauchen konnte.

Bobby Cassidy und Lizzie King spazierten ohne festes Ziel am Strand entlang. Bobby linste verstohlen auf seine Uhr. Er wollte unbedingt wieder zur Bar zurück, in der das Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft übertragen wurde. Er hatte zweitausend Peseten auf einen Sieg der Argentinier gegen die englische Auswahl gesetzt. Hamish – oder Hammy, wie er selbst genannt werden wollte – wartete dort sicher schon auf ihn mit der ersten Runde eiskalter San Miguels. Für Bobby fühlte es sich an, als wären er und Lizzie beim letzten Walzer angelangt, aber noch zögerte er, der Partnerschaft den Gnadenschuss zu verpassen. Wenn überhaupt, dann würde es Lizzie sein, die der Beziehung das Kissen aufs Gesicht drücken musste, um sie beide von diesem Elend zu befreien.

Obwohl die Sonne schon längst verschwunden war, lagen immer noch zahlreiche Urlauber am leicht abfallenden Sandstrand. Es war eine bunte Mischung aus Leuten, die entweder wie Madonna – sowohl wie der junge Popstar aus New York als auch wie die christliche Ikone – oder wie Andrew Ridgeley von Wham! auszusehen versuchten. Netzhemden dominierten. Ältere Männer trugen sie, weil sie das schon immer getan hatten. Jüngere Männer, weil sie gerade de rigueur waren. Während ein paar Unangepasste weiße Espadrilles zur Schau stellten, wiesen andere mit teils krebsroten, teils sich pellenden Hautarealen die klassischen Symptome derer auf, die den orangefarbenen Himmelskörper zu lange herausgefordert hatten – als könnten sie gar nicht glauben, dass dieser in der Lage war, ihre blassblaue britische Haut vollends zu versengen. Dann gab es noch die, die so aussahen, als wären sie gerade aufgeschlagen und hätten aus Ermangelung einer überdachten Unterkunft nun vor, Abend und Nacht im Sand zu verbringen. In vielen Fällen war die Übernachtung unter den spanischen Sternen eher eine pragmatische als eine romantische Angelegenheit.

Wie schon so oft in den letzten drei Jahren spazierten Bobby und Lizzie zwischen den potenziellen Strandschläfern entlang, beobachteten und schwiegen.

Irgendwann beendete Lizzie die Stille. »Können wir jetzt bitte mit dem komischen Gehabe aufhören? Wir müssen reden«, sagte sie. »Ich hab dich seit zwei Wochen kaum zu Gesicht bekommen. Und es gibt da ein paar Sachen, über die wir nachdenken müssen.«

»Und dafür musstest du dir ausgerechnet den heutigen Abend aussuchen?« Bobby kam es so vor, als stünde der für die Aufrechterhaltung des Beziehungsgleichgewichts erforderliche Aufwand in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu der Freude, die er aus der Partnerschaft zog. Sie waren beide erst zweiundzwanzig Jahre alt, aber ihre Gespräche erinnerten ihn stark an die hässlicheren Momente zu Hause im McPhail Drive, wenn sein Dad Harry und seine Mum Ethel wegen seinem Bruder Gary gestritten hatten. Wie konnte das sein?

»Ich arbeite eben, Lizzie. Genau wie du! Dass es so laufen würde, wusstest du aber schon, bevor wir herkamen. Ist eben auch nicht alles eitel Sonnenschein hier unten«, sagte er mürrisch.

Dabei war es das sehr wohl einmal gewesen. In ihrem ersten Jahr als arbeitstätiges Pärchen im Urlaubsdomizil waren die beiden glücklich und unzertrennlich. In ihrem Leben passierte etwas. Zugegeben, das Gehalt entpuppte sich als genauso bescheiden wie die Behausung, die sie mit sechs anderen Animateuren teilen mussten, aber das schien zweitrangig. Lizzie war häusliche Enge gewohnt. Immerhin bot das Leben in ihrem neuen Mauseloch nicht nur Sonne satt, sondern auch die Möglichkeit, mit Bobby zusammen zu sein. Zum Saisonende 1982 wurde es dann noch ein bisschen enger, als Hammy May zu Besuch kam. Hammy war ein schlauer junger Mann. Ohne große Mühe hatte er all seine Highers mit Bestnoten bestanden, worauf ihm sein stolzer Vater eine ganze Reihe von Karriereoptionen im Diplomatischen Korps, in dem dieser selbst tätig war, in Aussicht stellte. Einzige Voraussetzung: Hammy würde sich auch an der Uni wacker schlagen. Vor ihm lag ein vergleichsweise privilegiertes Leben. Alles, was Hammy tun musste, war, sich anzustrengen und dem Brotkrumenpfad vor seiner Nase zu folgen.

Hammy mochte zwar den Pioniergeist von Stanley May geerbt haben, hatte aber eine grundsätzlich andere Vorstellung davon, wie er diesen einsetzen würde. Obwohl er von einer Vielzahl renommierter Universitäten Zulassungsbescheide erhielt, schlug er sämtliche Angebote aus und entschied sich stattdessen dafür, fünf Monate im Jahr für ein skrupelloses Urlaubsunternehmen als Handlanger in spanischen Beachclubs zu jobben.

Am Ende jeder Sommersaison kehrten sie in ein freudloses und langweiliges Kilmarnock zurück, das im Vergleich zum pulsierenden Leben an der Costa Brava so wirkte, als hätte man den...