Der Fremde im Haus - Kriminalroman

von: Ruth Rendell

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641190576 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,99 EUR

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Der Fremde im Haus - Kriminalroman


 

3


Es war nicht der 1. April oder gar der Tag der Arbeit, sondern der 2. Mai, als die nächste Miete eintraf.

Carl war nicht so nervös wie im Vormonat. Nicola hatte die Nacht bei ihm verbracht, doch er hatte ihr nichts von der verspäteten Mietzahlung im April erzählt. Schließlich hatte er das Geld erhalten, und alles hatte ein gutes Ende genommen. Am 2. Mai war sie zur Arbeit gegangen, bevor Dermot das Haus verließ. Also war sie nicht Zeugin geworden, wie Carl auf die Schritte seines Mieters horchte, und hatte sein Erstaunen nicht gesehen, als die Haustür zufiel, ohne dass Dermot an die Küchentür geklopft hatte. Vielleicht würde er ja später zahlen, und genau das geschah auch.

Sie begegneten sich in der Vorhalle. Carl wollte zum Einkaufen, und Dermot kam um halb sechs von der Tierklinik nach Hause.

»Ich habe etwas für Sie«, sagte Dermot und überreichte ihm einen Umschlag.

Carl fragte sich, ob Dermot allen Ernstes den ganzen Tag einen Umschlag mit zwölfhundert Pfund mit sich herumgetragen hatte. Aber eigentlich spielte es keine Rolle: Er hatte sein Geld. Er würde seine kläglichen und überdies dahinschmelzenden Ersparnisse nicht antasten müssen, um mit Nicola eine Woche Urlaub zu machen. Obwohl sie nur nach Cornwall und nicht ins Ausland fuhren, freute er sich schon auf den Aufenthalt in Fowey.

Vor ihrer Abreise hatte Stacey noch einmal ziemlich verzweifelt angerufen, diesmal sogar auf dem Mobiltelefon. Er hatte ihr gesagt, er werde wegfahren, doch sie müsse vorbeikommen, wenn er zurück sei. Sie könnten essen gehen, und er werde sich etwas zu ihrem Gewichtsproblem überlegen. Warum hatte er ihr das versprochen? Wahrscheinlich, weil ihm das DNP eingefallen war. Er schob den Gedanken beiseite. Er konnte niemandem beim Abnehmen helfen.

Er und Nicola fuhren mit dem Paar nach Fowey, das sie einander vorgestellt hatte und mit dem sie, zum Teil aus diesem Grund, noch eng befreundet waren. Sie hatten sich prima amüsiert, und als sie Paddington Station erreichten, bat Carl Nicola, mit ihm nach Falcon Mews zu kommen. »Ich meine, um mit mir zusammenzuleben«, sagte er. »Für immer.« Er fühlte sich wohl mit Nicola. Sie hatten dieselben Interessen – Bücher, Musik, die Natur. Es gefiel ihr, dass er Schriftsteller war. Er liebte sie.

»Ich muss zurück in meine Wohnung, um es meinen Mitbewohnerinnen zu erzählen. Aber dann mache ich es. Ich will es. Eigentlich wollte ich dich auch schon fragen, aber … tja, wahrscheinlich bin ich ein bisschen altmodisch. Ich dachte, es wäre nicht richtig, wenn ich es anspreche und nicht du. Weil ich eine Frau bin und so.«

Drei Tage später zog sie ein.

Am Tag vor Nicolas Umzug kam Stacey vorbei. Sie und Carl hatten sich in einem Restaurant um die Ecke zum Essen verabredet. Davor wollte Stacey ins Bad, um ihr Make-up aufzufrischen. Es mochte an ihrer Karriere als Schauspielerin und Model liegen, dass sie sich, besonders um die Augen herum, stark schminkte.

Ein paar Minuten später ging Carl nach oben, um sich eine Antihistamintablette gegen seinen Heuschnupfen zu holen. Er ließ die Badezimmertür einen Spalt weit offen. Stacey folgte ihm hinein. Sie gehörte zu den Menschen, die stets behaupteten, an derselben Krankheit zu leiden, wenn ihnen jemand von einem Zipperlein erzählte. »Komisch, dass du das sagst. Ich habe nämlich auch Heuschnupfen.« Er öffnete das Schränkchen und entdeckte die Antihistamine im obersten Fach. Stacey stand hinter ihm, schilderte ihre Symptome und spähte ihm über die Schulter.

»Wo hast du dieses Zeug her?«, fragte sie. »Nimmst du das alles?«

»Das ist von meinem Dad. Ich habe es geerbt. Du weißt schon, als ich das Haus, die Möbel und alles andere bekommen habe.«

Er fasste ins Regal und holte den Beutel mit den gelben Kapseln heraus. »Angeblich wird man davon schlank. Wahrscheinlich hat er es im Internet bestellt.«

»Hat dein Dad das geschluckt?«

»Unmöglich. Er war so mager wie ein Skelett.«

Sie nahm ihm den Beutel aus der Hand und musterte ihn. »DNP«, sagte sie. »Dinitrophenol. Einhundert Kapseln.« Dann studierte sie die Anleitung und entdeckte den Preis, der auf der Packung stand. Einhundert Pfund.

Carl griff nach dem Beutel und stellte ihn zurück ins Fach, allerdings nicht nach hinten.

»Ich könnte sie online ordern«, meinte sie. »Aber wenn du sie schon einmal hast … Würdest du mir fünfzig Stück verkaufen?«

Verkaufen? Er wusste, dass er sie ihr eigentlich hätte schenken sollen. Doch das Hotel in Fowey, in dem er mit Nicola gewohnt hatte, war nicht gerade eines der preiswerten Sorte gewesen. Außerdem waren die Restaurants, die sie in verschiedenen Ferienorten in Cornwall besucht hatten, genauso teuer gewesen wie in London – eher so wie die, um die sie in London einen Bogen machten. Deshalb hatte der Urlaub, obwohl er sich die Kosten mit Nicola geteilt hatte, ein größeres Loch in seinen Geldbeutel gerissen als erwartet. Fünfzig Pfund für diese Tabletten waren zwar nicht viel, allerdings eine Finanzspritze. Hinzu kam, dass Stacey es sich leisten konnte. Ganz sicher, wenn sie abnahm und ihre Rolle in der Sitcom behielt.

»Okay«, erwiderte er, zählte fünfzig Tabletten in einen Zahnbecher ab und gab ihr den Beutel mit den restlichen fünfzig.

Als er ins Erdgeschoss ging, hörte er, dass Dermot die Eingangstür schloss und das Haus verließ. Hatte er womöglich auf dem Weg nach unten sein Gespräch mit Stacey belauscht? Vielleicht. Aber was spielte das schon für eine Rolle?

Inzwischen hatte Stacey sich fertig geschminkt und kam zu ihm hinunter. Sie schlenderten die Straße hinauf zu Raoul’s in der Clifton Road. Draußen auf dem Gehweg überreichte sie ihm die fünfzig Pfund.

Er vergaß die Transaktion, nicht zuletzt deshalb, weil Nicola eingezogen war und er sich fragte, warum sie so lange damit gewartet hatten – vor zwei Jahren hatte Jonathan sie einander vorgestellt. Allerdings kam Carl mit seinem Roman nicht voran, und er hatte ein Stadium erreicht, in dem er mit zwei oder drei Absätzen am Tag kämpfte. Wenn Nicola sich danach erkundigte, antwortete er stets, alles sei in bester Ordnung. Er hatte keine Ahnung, woher diese Schreibblockade rührte.

Der Mai in London war ein angenehm warmer Monat. Da es sich als sinnlos und unproduktiv erwiesen hatte, auf seinen Computerbildschirm zu starren, hatte Carl sich angewöhnt, am späten Vormittag, wenn Nicola in der Arbeit war, loszugehen und sich eine Ausgabe des Evening Standard zu besorgen. Er zog den Evening Standard allen anderen Tageszeitungen vor, weil er kostenlos war.

Er starrte auf die Titelseite des heutigen Tages, wo ein Farbfoto von Stacey drei Spalten füllte. Sie war wunderschön, lächelte jedoch nicht, sondern hatte eine grüblerische Pose eingenommen. Auf der theatralischen Porträtaufnahme war ihr dichtes blondes Haar über die Schultern drapiert. Sie wurde als wegen ihrer Hauptrolle in Station Road bekannte Vierundzwanzigjährige beschrieben, die von einer Freundin, welche einen Schlüssel besaß, tot in ihrer Wohnung in Primrose Hill aufgefunden worden war. Laut Polizei ging man nicht von einer Straftat aus.

Das konnte doch nicht wahr sein – war allerdings nicht abzustreiten. Carl brach der Schweiß aus. Als er die Haustür aufschloss, läutete das Telefon. Es war seine Mutter Una.

»Ach, Schatz, hast du gehört, was der armen Stacey zugestoßen ist?«

»Es steht im Standard

»Sie war ja eine Schönheit, bevor sie so viel zugenommen hat. Früher habe ich einmal gedacht, dass du sie vielleicht heiratest.«

Seine Mutter gehörte einer Generation an, in der die Ehe für Frauen den höchsten Stellenwert einnahm. So oft hatte er ihr vergeblich zu erklären versucht, dass Mädchen heutzutage nur noch selten Lust hatten zu heiraten. Das Thema kam nur aufs Tapet, wenn sie schwanger wurden, und häufig nicht einmal dann.

»Tja, jetzt kann ich sie nicht mehr heiraten, oder? Sie ist tot.«

»Oh, Schatz

»Wir waren befreundet«, erwiderte er. »Mehr nicht.«

Die Antwort seiner Mutter drang kaum zu ihm durch, als er über Stacey nachdachte. Er konnte nicht fassen, dass sie tot war. Wahrscheinlich hatte sie gegessen, um sich zu trösten. Ihre Esssucht war das Gegenteil von Anorexie gewesen. Wenn es Essen gab, insbesondere Butter, Käse, Schinken, Obstkuchen oder irgendetwas mit fetter Sauce, hatte sie verkündet, dass sie so etwas nicht anrühren dürfe, sie dürfe nicht einmal davon träumen. Doch sie konnte nicht widerstehen. Und als er beobachtet hatte, wie sie in die Breite ging – deutlich sichtbar, ihr Leibesumfang hatte sich scheinbar bei jedem ihrer Treffen vergrößert –, hatte er aufgehört, sich mit ihr zu verabreden. Er hatte sie nur noch in ihrer Wohnung in Pinetree Court, Primrose Hill, besucht, wenn sie ihn anflehte, sie nicht zu verlassen. Bitte, bitte, komm. Bei diesen Gelegenheiten hatte er den Eindruck gehabt, dass sie sich nur in seiner Gegenwart vollstopfte, um ihn zu ärgern. Natürlich konnte das nicht ihr Motiv gewesen sein, obwohl es so gewirkt hatte, insbesondere, wenn ihr die Mayonnaise vom Kinn tropfte und Krümel von Karottenkuchen oder Makronen überall an ihrem eng anliegenden Angorapulli hingen. Ihre früher so schönen Brüste hatten sich in gewaltige Berge aus klebrigen Kuchenbröseln verwandelt.

Sie waren nie ein Paar, sondern immer nur beste Freunde gewesen. Und jetzt war sie tot.

»Ein Mann und eine Frau können nicht befreundet sein«, lauteten die Worte seiner Mutter....