Die Hüterin der Lieder - Roman

von: Ilka Tampke

Penhaligon, 2019

ISBN: 9783641170035 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Die Hüterin der Lieder - Roman


 

1


Erinnerung

Alles auf Erden ist durch ein Lied geschaffen.


Jeder Fluss, jeder Stein ist eine andere Note.


Die Mütter sind es, die singen, und wir verehren sie.


Der Gesang war vor der Zeit, vor den Jahreszeiten,


doch in jeder Generation gibt es eine Frau, die sich erinnert.


Ich bin diese Frau.


Ich bin die, welche die Schöpfung in sich trägt.


Die Tasthaare der Mutter zitterten. Sie drehte die Ohren nach hinten und wieder nach vorn, doch weder Neha noch ich, in der Deckung der Seggen kauernd, verursachten auch nur das leiseste Geräusch.

Es war eine Berghäsin, zäh und mager, aber sie würde unsere knurrenden Mägen füllen. Falls es uns gelang, sie zu fangen. Sie hoppelte etwas näher zu den drei Jungen, die in der Nähe ihres Baus grasten. Sie waren erst wenige Tage alt, hatten kaum Fleisch auf den Knochen. Aber zumindest würden sie zart schmecken.

Neha ließ unsere Beute nicht aus den Augen und winselte. Ich wusste, wie sie sich fühlte. Langsam hob ich meine Steinschleuder. Keiner hatte mich als Schützin ausgebildet, doch seit einem Jahr zwang mich der Hunger zum Üben, und so war ich zuversichtlich, das Tier erlegen zu können. Neha verstand mein wortloses Kommando. Ich spürte, wie sie ihr Hinterteil anspannte und sich aufs Zupacken vorbereitete.

Ich passte den pflaumengroßen Stein in den geflochtenen Darm ein, spannte ihn und ließ los. Der Stein traf die Häsin an der Schulter und machte sie benommen, sodass Neha sie packen und ihr mit einem raschen Schütteln den Hals brechen konnte. Die Jungen stoben auseinander. Ich jagte ihnen nicht nach. Das Fleisch der Mutter, angereichert mit Geißfußsprossen, würde für einige Tage reichen, vorausgesetzt, das gute Wetter hielt an und der Geißfuß bildete junge Triebe aus.

Die Beute schlug rhythmisch gegen meinen Oberschenkel, als wir zur Höhle zurückkehrten. Bei dem Gedanken daran, dass bald Hasenfleisch über dem Feuer brutzeln würde, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Als ich eine Abzweigung nicht gleich wiedererkannte, geriet ich ins Stocken. Seit der Herbst angebrochen war und die Bäume ihr Laub verloren, war sogar mir die Landschaft nicht mehr so vertraut. Manchmal hatte ich Mühe, mich in den schütter werdenden Tälern und Senken zurechtzufinden. Für Neha galt das nicht, und bald darauf erreichten wir die bemooste Felswand am Hang, unser Zuhause. Der Eingang war eine Spalte, gut versteckt zwischen dem Farn.

Drinnen ließ ich die Häsin zu Boden fallen und kauerte mich ans Feuer, um die Glut neu zu entfachen, die in der Morgenkühle fast verglommen war. Neha verfolgte jede meiner Bewegungen, begierig auf die Reste unserer Jagdbeute.

Die Flammen loderten auf und erhellten die zerklüfteten Kalksteinwände der Höhle, die uns zu jeder Jahreszeit Schutz geboten hatte. Abgesehen von den Kerben, mit denen ich über unserem Schlafplatz die verstrichenen Tage markiert hatte, war sie von Menschenhand unberührt.

Die Höhle bot auch gewisse Annehmlichkeiten. Die Decke war so hoch, dass der Rauch abziehen konnte, der Innenraum aber auch klein genug, dass ich die Spalten im Fels mit Moosballen abdichten konnte, damit keine Kälte eindrang. Wir schliefen auf trockenem Gras, und als Decke verwendeten wir das Fell einer Wildsau, die Wölfe gerissen und zur Hälfte aufgefressen hatten. So besaß ich nun eine kratzige Decke. Das daneben liegende Kurzschwert, die Schleuder und das Messer an meiner Hüfte waren meine einzigen Besitztümer.

Über meiner Schlafstätte waren fast fünfhundert Kerben eingeritzt. Fünfhundertmal hatte ich hier übernachtet, an diesem wilden Platz der Mütter. Fünfhundert Tage war es her, seit ich einem anderen Menschen ins Gesicht geblickt hatte. Vielleicht sollte ich besser sagen – einem wirklichen, lebendigen Menschen, denn ich sah ständig Gesichter in den Astknoten der Eichen und den Verwerfungen des Gesteins. Das waren die Geister meines Stamms, die mir gefolgt waren und von mir wissen wollten, weshalb ich sie im Stich gelassen hatte. Weshalb ich sie nicht beschützt hatte.

Ich packte die Häsin und richtete mich auf, schwindelig und schwach vor Hunger. Ich war mager, hatte aber vom täglichen Weg zum Fluss kräftige Muskeln und Sehnen. Wer sich mit Waldfrüchten auskannte und die essbaren von den giftigen zu unterscheiden wusste, für den gab es hier ausreichend Nahrung. Wir hatten uns von Kleinwild, Beeren und Wurzeln ernährt, die wir unter dem Schnee hervorscharrten. Tatsächlich hatte ich aber auch den Willen, wenig zu essen. Denn ich war bis zum Erbrechen angefüllt mit dem, was ich gesehen und getan hatte.

Früher hatte ich mich davor gefürchtet, allein zu schlafen. Jetzt konnte ich mich kaum noch an die Gestalt oder den Geruch eines anderen Menschen erinnern, geschweige denn mir vorstellen, neben ihm zu liegen. Jetzt wäre ich froh gewesen, nur diese Angst zu kennen.

Ich trat durch den Höhleneingang ins Freie. Ein Herbstschauer hatte Tropfen auf Zweigen und Blättern hinterlassen. Ein Windstoß fegte Laub von den Bäumen. Der Wald war im Wandel begriffen.

Ich atmete die feuchte Luft. Dies war nun mein Zuhause. Ich war dazu verurteilt worden, hier zu leben. Mir war nicht verziehen worden, aber ich war am Leben geblieben. Mein Atem war der heulende Wind, meine Haut war der Nebel, der an der Bergflanke haftete. Ich war der Wald.

Ich ging ein kleines Stück, dann zog ich das Messer aus dem Gürtel, hielt den Hasen hoch und schlitzte ihm vom Hals bis zum After den Bauch auf. Neha beobachtete mich mit schief gelegtem Kopf, und ich gab ihr mit einem Nicken die Erlaubnis zu fressen. Das Fleisch würde uns stärken, und Kraft brauchten wir beide.

Jetzt, da der Winter nahte, wurde es Zeit, vom Berg hinabzusteigen. Es wurde Zeit, mich wieder zu den Meinen zu gesellen. Ich war stark genug dafür. So hoffte ich. Ich hatte das Fleisch der Mütter verzehrt und das Wasser ihrer Flüsse getrunken. Ich kannte das Land so gut, wie eine Frau ihren eigenen Körper, ihre eigene Haut kennt.

So sollte es auch sein, denn ich war seine Beschützerin.

Wenn ich in die Welt der Stämme zurückkehrte, hatten auch die Hunde des Wandels bereits ihre Beute gemacht, das wusste ich. Es würde bedrohliche neue Gesetze geben, neues Wissen und die neue Sprache derer, die dieses Land für sich beanspruchten. Ich hatte mich ein Jahr lang an einen Ort zurückgezogen, der dem Zugriff der Soldaten entzogen war. Nun musste ich zurückkehren und nachsehen, was sie angerichtet hatten.

Auf den Fersen kauernd, schnitt ich dem Hasen die Kehle auf und zog ihm das Fell über die Ohren. Neha würde nicht nur die Innereien fressen, sondern auch den Pelz, die Läufe und den Kopf. Das Muskelfleisch gehörte mir. Ich schob einen Haarwust über die Schulter zurück. Meine Locken waren inzwischen dermaßen verfilzt und mit Grassamen verwoben, dass Kämmen nicht mehr half. Ich trug das Haar so, weil ich trauerte.

Aber bald war die Trauerzeit vorbei.

Ein Titel wartete auf mich. Ich musste einen Krieg gewinnen.

Vom Laufen schmerzten mir die Waden. Ich hatte vier Tage gebraucht, um das Gebirge hinter mir zu lassen, und weitere drei Tage, um den Mann, dem ich auf einem Feldweg begegnet war, davon zu überzeugen, dass ich keine Kundschafterin im Dienste Plautius’ war, des römischen Statthalters, der auch hinter dem Kriegsfürsten Caradog her war.

Der Mann, der als Arbeiter nach Eisenerz grub und ebenso zerlumpt war wie ich, erklärte mir in breiter, kaum verständlicher Mundart, ich befände mich in der Nähe der Stadt Llanmelin, der Kriegsfürst habe sich aber seit neun Teilen des Jahres nicht mehr dort blicken lassen.

Neun Teile. So lange dauerte es nach den Worten unserer Dichter, in die verborgene Welt Annwyn und wieder zurück zu reisen. Ich bedankte mich mit einem Lächeln. Im Westen Albions, den die Römer noch nicht erobert hatten, hatte sich die Lebensweise der Stämme nicht verändert. Ich war damit vertraut, und ich hatte sie verinnerlicht. Während ich mich Llanmelin näherte, machte ich mir klar, dass vieles nur in Rätseln zu mir sprechen würde.

Da ich mich im dichten Wald aufhielt, hörte ich die Stadt, noch bevor ich sie sah – muhendes Vieh, Gehämmer, das Kreischen spielender Kinder. Hinter der nächsten Biegung lag sie dann plötzlich vor mir, Llanmelin, das Stammeszentrum der mächtigen Silurer, einem der letzten freien Stämme. Falls Caradog hier Zuflucht gesucht hatte, war dies eine kluge Entscheidung, denn ich hatte die Bergstadt erst bemerkt, als ich schon fast vor ihren Toren stand. Zwei Holzstangen mit aufgespießten Köpfen flankierten den Zugangsweg. Die aschfahlen Gesichter waren glatt rasiert, denn dies waren Römer oder mit ihnen verbündete Kämpfer gewesen, und sie waren noch nicht lange tot. Neha schnupperte am getrockneten Blut, das von den Stangen getropft war. Ich rief sie zurück. Diese Männer waren es nicht einmal wert, unsere Tiere zu nähren.

Ich trat zwischen den Köpfen hindurch und stapfte den Weg zum Tor hinauf. An den Befestigungen wurde gearbeitet, die Männer hoben einen zweiten Graben aus, und ihre Hacken klangen hell, wenn sie auf den Kalkstein trafen. Llanmelin verstärkte seine Verteidigung.

»Stehen bleiben!« Ein Torwächter sprang von seiner Plattform herunter und verstellte mir den Weg. Er war größer und hellhäutiger als die gedrungenen dunklen Männer, die an der Befestigung arbeiteten, und musterte mich so durchdringend, dass ich seinen Blick kaum erwidern konnte. »Was willst du hier?«, fragte er. »Für Bettler haben wir kein Getreide...