Fortwährende Eingriffe - Aufsätze, Vorträge und Reden zu HIV und AIDS aus vier Jahrzehnten

von: Martin Dannecker

Männerschwarm Verlag GmbH, 2019

ISBN: 9783863002787 , 232 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Fortwährende Eingriffe - Aufsätze, Vorträge und Reden zu HIV und AIDS aus vier Jahrzehnten


 

Rosa wird evangelisch Offener Brief an Rosa von Praunheim
– 1985 –


Der offene Brief «Rosa wird evangelisch» ist meine Antwort auf einen Text von Rosa von Praunheim, der unter dem Titel «Gibt es Sex nach dem Tode?» im Spiegel 48 / 1984 publiziert wurde. Vermutlich wurde Rosa von Praunheim vom Spiegel-Redakteur Hans Halter zu diesem Text aufgefordert. Halter, Autor zahlreicher nicht nur von Aids-Aktivisten kritisierter Artikel, war Ende 1984 auf der Suche nach einer in der schwulen Community bekannten Person, die bereit war, die Schwulen öffentlich zum Verzicht auf ihr angeblich todbringendes sexuelles Leben aufzufordern. Mit diesem Ansinnen, das auf das Eingeständnis eines falsch gelebten Lebens hinauslaufen sollte, ist Halter damals auch an mich herangetreten. Ich habe das jedoch abgelehnt.

In einer Vorbemerkung zu seinem Text erwähnt Rosa von Praunheim zwar die Bedenken seiner «schwulen Brüder gegen die bisherigen Artikel des Spiegel über AIDS», ohne freilich zu begründen, warum er sich über diese Bedenken hinweggesetzt hat.

Etwa ein Jahr später haben Rosa von Praunheim und ich uns zu einem von der Journalistin Ingrid Klein moderierten Streitgespräch über die «richtige» Reaktion auf Aids getroffen. Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich dieses in «Operation AIDS» (Sigusch / Gremliza 1986) dokumentierte Gespräch in diesen Sammelband aufnehmen soll oder nicht. Schließlich habe ich mich dann doch dagegen entschieden, und zwar, weil dieses Gespräch endlos lang ist, vor inneren Widersprüchen auf beiden Seiten nur so wimmelt und eine Annäherung der von mir und Rosa vertretenen Positionen erkennbar von Anfang an ausgeschlossen war. Während ich versuche, meine Ängste durch den Verweis auf Rationalität in Schach zu halten, spricht Rosa ganz aus der Angst heraus. Darüber hinaus ist dieses Gespräch ein Dokument des Irrsinns. Aber nicht des Irrsinns zweier Personen, sondern des Irrsinns, den Aids zeitweise in die schwule Welt und in die gesamte Kultur gebracht hat.

Liebe Rosa,

du hast also nicht widerstanden, sondern dem Spiegel geliefert, wonach er verlangte. Dort suchte man nach der heftigen Kritik an den homosexuellenfeindlichen Übertreibungen des letzten AIDS-Artikels einen Verbündeten. Dieser sollte homosexuell sein, einen nicht ganz unbekannten Namen haben, vor allem aber bereit, das vom Spiegel angestimmte Menetekeln fortzusetzen. Dein Beitrag zeigt, dass der Spiegel aus seiner Sicht eine glänzende Wahl getroffen hat. Du brandmarkst die scheinbar so lockeren Sitten der Homosexuellen und bezichtigst die Homosexuellen der Indolenz im Umgang mit AIDS. Du gibst vor, als Bruder zu Brüdern zu sprechen, und wiederholst doch nur, was vor dir auch Nicht-Brüder ausgedrückt haben: Für Homosexuelle sind die Zeiten des aufrechten Ganges und erhobenen Hauptes vorbei. Die neue Parole lautet: Klein machen und anpassen. Glaubst du wirklich, dass all das, was in den vergangenen Jahren sich in vielen Köpfen bewegt hat, wegen AIDS unwahr geworden ist? Dabei zeigt die Debatte um AIDS doch gerade, dass nichts von dem, was auch du einmal wolltest, damals, als wir an dem Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» gearbeitet haben, wirklich eingelöst ist. Auch darüber hättest du schreiben können. Stattdessen legst du ein öffentliches Bekenntnis ab und beteuerst, dass ja alles nicht so gemeint gewesen sei.

Ich habe mich beim Lesen deiner Thesen plötzlich an eine lange zurückliegende Zeit erinnert. Vor ungefähr zwanzig Jahren ging ich in Stuttgart über den Schlossplatz. Dort stand ein Mann auf einer umgedrehten Obstkiste und missionierte für eine der in Württemberg so zahlreichen evangelikalen Gruppen. Er wetterte über die moralische Verkommenheit der Welt und ließ die Passanten wissen, dass es auch um ihn einmal schlimm bestellt war. Ein paar Sätze dieses Eiferers sind mir wieder eingefallen. Er rief: «Auch ich habe gesoffen. Auch ich habe gehurt. Aber nun ist Jesus in mein Herz eingekehrt und ich bin von meinen Lastern befreit.»

Mich hat diese öffentliche Selbstbezichtigung peinlich berührt. Deine Thesen können diese verschüttete Szene nur deshalb evoziert haben, weil sie ihr in Struktur und Gestus gleichen. Du legst stellvertretend für die Homosexuellen ein Schuldbekenntnis ab und identifizierst dich mit deiner Selbstbezichtigung mit den offenen und versteckten Angriffen auf sie in den vergangenen Wochen. Wie jede Identifikation wirkt auch die Identifikation mit dem Aggressor entlastend. Zu bekommen ist diese Entlastung jedoch nur um den Preis der Unterwerfung.

Auch nach mehrmaligem Lesen deiner Thesen ist mir nicht klargeworden, von wem du eigentlich sprichst. In deinem Artikel sind Innen- und Außenwelt völlig ungetrennt, und du springst beständig zwischen einem völlig unbestimmten «Wir» und einem ebenso unbestimmten «Ich» hin und her. Wer ist das Kollektiv, von dem du behauptest, es würde «die Krankheit» beschönigen und sich an jeden rettenden Strohhalm klammern «zum Schutze unserer Promiskuität»? An wen denkst du, wenn du schreibst, «wir haben wenig richtig und viel falsch verstanden»? Kategorisch rufst du aus: «Wir müssen unser Verhalten ändern.» Weißt du eigentlich, wie sich die Homosexuellen verhalten? Vielleicht verhalten sich viele von ihnen schon längst so, wie du meinst, dass sie sich verhalten müssten!

Ich fürchte, du verstehst von dem Krankheitsbild AIDS und dem Virus, das mit ihm in Zusammenhang gebracht wird, zu wenig. Daran könnte es auch liegen, dass du AIDS zu einer gigantischen Metapher stilisierst, obgleich du den fulminanten Essay von Susan Sontag erwähnst, in dem sie gegen den metaphorischen Umgang mit Krankheiten polemisiert. Hättest du ihn gelesen, dann hättest du auf der ersten Seite einen Satz gefunden, der als Motto für den Umgang mit AIDS genommen werden sollte. Susan Sontag sagt dort, dass der metaphorische Umgang mit einer Krankheit krank macht und «daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein –, darin besteht, sich so weit wie möglich vom metaphorischen Denken zu lösen, ihm größtmögliche Widerstandskraft entgegenzusetzen» (Sontag 1978: 6). Bei dir aber wird AIDS zu einem mysteriösen Übel, von dem eine auserwählte Gruppe befallen ist: «Warum trifft es uns Schwule, so fragen wir uns, jahrhundertelang verfolgt, gedemütigt und bestraft.» Wer so fragt, wird keine Antwort erhalten. Er drückt jedoch tief verwurzelte Schuldgefühle aus und benützt AIDS als ein Vehikel, die Homosexualität einmal mehr in eine metaphysische Schuld zu überführen.

Unmetaphorisch betrachtet lässt sich über AIDS bislang so viel sagen: Das für AIDS verantwortlich gemachte Virus hat durch ein Ereignis, das Zufall zu nennen nur deshalb angeht, weil wir noch nicht wissen, wie es sich wirklich verhielt, Eingang in die Gruppe der homosexuellen Männer gefunden. Es hätte genauso gut irgendwo anders sich einnisten können. Die Ausbreitung des Virus unter homosexuellen Männern hängt, da es nun einmal sexuell übertragbar ist, mit den in gewissen Regionen der Subkultur üblichen Verkehrsformen zusammen. Der stabile hohe Anteil an homosexuellen Männern unter den Erkrankten ist darauf zurückzuführen, dass sie in der Regel nur mit ihresgleichen sexuelle Kontakte haben.

Erwähnt man die Verkehrsformen eines Teils der homosexuellen Subkultur, muss man von den Orten sprechen, in denen promiskes Verhalten gepflegt und befördert wird. Auch du versäumst es nicht, auf die Promiskuität hinzuweisen. Das haben vor dir auch schon die Epidemiologen und Virologen getan, die die Promiskuität einen Risikofaktor nennen. Bei dir wird die Promiskuität jedoch umstandslos zu einem moralisch minderwertigen Verhalten. Dadurch, dass du aus den statistisch-epidemiologischen Kategorien «Risikofaktor» und «Risikogruppe» moralische Kategorien machst, stigmatisierst du das gesamte Kollektiv der Homosexuellen. Du zögerst nicht zu schreiben «jede Ansteckung, die wir verursachen, kann fahrlässige Tötung sein». Nein, Rosa: Wir haben nicht alle AIDS. Die Homosexuellen haben ein höheres Risiko, an AIDS zu erkranken. Das macht einen entscheidenden Unterschied. Die Philister werden sich aber für deine Transformation epidemiologischer Kategorien in moralische bedanken.

Selbstverständlich ist für jemanden, der mit vielen verschiedenen Partnern sexuelle Kontakte hat, das Risiko, sich eine sexuell übertragbare Krankheit zu holen, größer als für jemand, der nur mit wenigen Partnern Sex hat. Auch ist für den ersteren die Wahrscheinlichkeit größer, ohne sein Wissen Träger des Krankheitserregers zu sein. Ist das aber schon, wie du zu glauben scheinst, eine moralische Ungeheuerlichkeit? So kann man nur argumentieren, wenn man der Ansicht ist, die Sexualität sei an sich eine moralisch zweifelhafte Angelegenheit.

Ich bin kein besonderer Freund von Analogien, weil sie zumeist nicht sehr weit tragen. Gleichwohl will ich hier auf die Teilnahme am Straßenverkehr verweisen, weil ich glaube, dass das Beispiel nicht zu konstruiert wirkt. Wenn ich ein Auto benutze, gehe ich ein Risiko ein, mich und andere zu gefährden. Das duldet angesichts der hohen Zahl der im Straßenverkehr Verletzten und Getöteten keinen Zweifel. Das Risiko der Fremd- und Selbstgefährdung wird umso größer, je häufiger ich am Straßenverkehr teilnehmen bzw. je mehr Kilometer ich innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit fahre. Stehe ich aber deshalb, weil ich mein Auto häufiger benutze und somit sowohl aktiv als auch passiv das Risiko eines schlimmstenfalls tödlichen Unfalls erhöhe, moralisch niedriger als andere? Wohl kaum, es sei denn, man hält Autofahren...