Eulen - Roman

von: Carl Hiaasen

Beltz, 2019

ISBN: 9783407758026 , 353 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Eulen - Roman


 

1


Roy hätte den fremden Jungen gar nicht bemerkt, wenn Dana Matherson nicht gewesen wäre. Normalerweise schaute Roy während der Busfahrt nämlich nie aus dem Fenster. Lieber las er Comics oder Detektivgeschichten auf dem Weg zur Trace Middle School.

Doch an diesem Tag, einem Montag (Roy würde das nie vergessen), packte Dana Matherson ihn von hinten am Kopf und presste ihm die Daumen in die Schläfen, als würde er einen Fußball quetschen. Die älteren Schüler sollten eigentlich im rückwärtigen Teil des Busses bleiben, aber Dana hatte sich angeschlichen und Roy aus dem Hinterhalt überfallen. Als Roy versuchte freizukommen, drückte Dana ihn mit dem Gesicht gegen das Fenster.

In diesem Moment, als er so durch das verschmierte Glas blickte, entdeckte Roy auf dem Gehweg den fremden Jungen. Er rannte, und es sah so aus, als wollte er den Schulbus noch erwischen, der an einer Ecke angehalten hatte, um weitere Schüler einsteigen zu lassen.

Der Junge war strohblond und drahtig, seine Haut nussbraun von der Sonne. Sein Gesichtsausdruck war ernst und entschlossen. Er trug ein verwaschenes Basketball-Sweatshirt mit dem Aufdruck Miami Heat und schmutzige, khakifarbene Shorts. Das Merkwürdige aber war: Er hatte keine Schuhe an. Seine Fußsohlen sahen so schwarz aus wie Grillkohle.

An der Trace Middle School war man nicht besonders streng, was Kleidung anging, aber irgendwelche Schuhe sollten die Schüler wohl doch anhaben, glaubte Roy. Man hätte vermuten können, dass der Junge seine Turnschuhe im Rucksack hatte, aber dafür hätte er erst einmal einen Rucksack haben müssen. Keine Schuhe, kein Rucksack, keine Bücher, und das an einem Schultag – wirklich merkwürdig!

Roy war überzeugt, dass der Barfüßige Probleme kriegen würde mit Dana und den anderen großen Jungs, sobald er in den Bus stieg, aber dazu kam es nicht...

Der Junge rannte nämlich immer weiter – vorbei an der Ecke, vorbei an den Schülern, die an der Haltestelle anstanden, vorbei am Bus. Roy wollte schon rufen: »He, schaut euch mal den Typ da an!«, aber sein Mund wollte nicht so recht. Dana Matherson hatte Roy noch immer von hinten im Griff und presste ihn mit dem Gesicht gegen die Scheibe.

Als der Bus wieder anfuhr, hoffte Roy, weiter unten an der Straße noch einmal einen Blick auf den Jungen werfen zu können, doch der war inzwischen vom Gehweg abgebogen und lief jetzt über ein Privatgrundstück. Wahnsinnig schnell rannte er, viel schneller, als Roy rennen konnte, vielleicht sogar schneller als Richard, Roys bester Freund zu Hause in Montana. Richard konnte so schnell laufen, dass er schon mit dem Team der High School trainieren durfte, als er erst in der Siebten war.

Dana Matherson grub seine Fingernägel in Roys Kopfhaut und hoffte, Roy würde aufschreien. Aber der spürte kaum etwas, so gebannt sah er zu, wie dieser Junge durch einen gepflegten Garten nach dem anderen rannte und mit zunehmender Entfernung zwischen ihm und dem Schulbus immer kleiner wurde.

Roy sah, wie ein großer Hund mit spitzen Ohren, vermutlich ein deutscher Schäferhund, vor einer Haustür aufsprang und sich auf den Jungen stürzen wollte. Es war unglaublich, aber der Junge änderte die Richtung nicht. Er machte einen Satz über den Hund, schoss durch eine Hecke und war verschwunden.

Roy schnappte nach Luft.

»Na, Cowgirl, was ist? Schon genug?«

Das war Dana, der Roy voll ins Ohr zischte. Als Neuer im Schulbus erwartete Roy nicht, dass die anderen ihm helfen würden. Und dass Dana ihn »Cowgirl« genannt hatte, war harmlos, darüber musste man sich nicht aufregen. Dana war ein Blödmann, das war allgemein bekannt, und außerdem wog er mindestens fünfzig Pfund mehr als Roy. Sich auf einen Kampf einzulassen, wäre totale Energieverschwendung.

»Reicht’s? Wir können dich nicht hören, Tex.« Danas Atem stank nach abgestandenem Zigarettenrauch. Qualmen und jüngere Schüler zusammenschlagen waren seine größten Hobbys.

»Ja, okay«, sagte Roy ungeduldig. »Es reicht.«

Sobald er frei war, schob Roy das Fenster runter und streckte den Kopf hinaus. Der fremde Junge war nicht mehr zu sehen.

Wer war das? Wovor rannte er weg?

Roy fragte sich, ob außer ihm jemand im Bus den Jungen auch bemerkt hatte. Einen Moment lang fragte er sich, ob er selbst ihn überhaupt gesehen hatte.

Am selben Morgen wurde der Polizeibeamte David Delinko zu dem Grundstück geschickt, auf dem eine neue Filiale der Restaurantkette Mama Paulas Pfannkuchenhaus gebaut werden sollte. Es handelte sich um ein leeres Grundstück am Ostrand der Stadt, an der Ecke East Oriole Avenue und Woodbury Street.

Officer Delinko wurde von einem Mann in einem dunkelblauen Pick-up erwartet. Dieser Mann, der so kahl war wie ein Ball, stellte sich selbst als Curly vor. Ein Glatzkopf, der auf den Spitznamen »Lockenkopf« hörte, fand Officer Delinko, müsse einen ausgeprägten Sinn für Humor haben, aber darin täuschte er sich. Curly war grantig und verzog kein einziges Mal das Gesicht zu einem Lächeln.

»Sie sollten mal sehen, was die angerichtet haben«, sagte er zu dem Polizeibeamten.

»Wer?«

»Kommen Sie mal mit«, sagte der Mann, der sich Curly nannte.

Officer Delinko lief hinter ihm her. »Unser Einsatzleiter hat mir gesagt, hier hätte jemand auf dem Grundstück gewütet und Sie wollten Anzeige erstatten wegen Vandalismus.«

»So ist es«, brummte Curly über die Schulter.

Dem Polizisten war nicht ganz klar, was es auf diesem Grundstück zu beschädigen gab – im Grunde handelte es sich nur um ein großes Stück Land, auf dem Unkraut wucherte. Curly blieb stehen und zeigte auf einen kurzen Holzstab auf der Erde. Eine grellrosa Plastikbanderole war an einem Ende festgebunden. Das andere Ende war angespitzt und lehmverkrustet.

»Sie haben sie rausgezogen«, sagte Curly.

»Ist das ein Vermessungspfosten?«, fragte Officer Delinko.

»So ist es. Sie haben sie rausgerissen, jeden einzelnen.«

»Kinder vermutlich.«

»Dann haben sie die Stöcke in die Gegend geschmissen«, erzählte Curly weiter, während er mit seinem fleischigen Arm herumwedelte, »und die Löcher wieder mit Erde gefüllt.«

»Das ist allerdings etwas seltsam«, bemerkte der Polizist. »Wann ist das passiert?«

»Heute Nacht oder ganz früh am Morgen«, antwortete Curly. »Sie denken jetzt vielleicht, das ist keine große Sache, aber es dauert ganz schön lange, bis so ein Gelände wieder markiert ist. Und vorher können wir nicht roden, nicht planieren, gar nichts. Die Raupen und Bulldozer sind schon gemietet, und jetzt stehen sie hier rum für nichts. Ich weiß, es sieht nicht gerade wie das größte Verbrechen des Jahrhunderts aus, aber trotzdem –«

»Ich verstehe«, sagte Officer Delinko. »Wie hoch schätzen Sie den Sachschaden?«

»Sachschaden?«

»Ja. Für meinen Bericht.« Der Polizist hob den Vermessungsstab auf und untersuchte ihn. »Der ist ja nicht wirklich kaputt, oder?«

»Na ja – das nicht.«

»Sind von den anderen welche kaputtgemacht worden?«, fragte Officer Delinko. »Was kosten diese Dinger denn pro Stück? Einen Dollar? Zwei?«

Der Mann namens Curly verlor langsam die Geduld. »Kaputtgemacht haben sie keinen«, sagte er unfreundlich.

»Nicht einen einzigen?« Der Polizist runzelte die Stirn. Er überlegte, was er wohl in seinen Bericht schreiben könnte. Vandalismus ganz ohne Sachschaden gab es einfach nicht, und wenn auf dem ganzen Grundstück nichts beschädigt oder unbrauchbar gemacht worden war...

»Aber das versuch ich doch die ganze Zeit Ihnen zu erklären«, sagte Curly gereizt. »Es geht nicht darum, dass jemand mit den Vermessungsstäben rumgemacht hat, es geht darum, dass unser ganzer Zeitplan im Eimer ist. Und das kostet echt Geld.«

Officer Delinko nahm die Mütze ab und kratzte sich am Kopf. »Lassen Sie mich mal nachdenken«, sagte er.

Auf dem Weg zurück zum Streifenwagen stolperte der Polizist und fiel hin. Curly packte ihn am Arm und half ihm auf die Füße. Beiden Männern war dies etwas peinlich.

»Dämliche Eulen«, sagte Curly.

Der Polizist wischte sich Erde und Kletten von der Uniform. »Haben Sie Eulen gesagt?«

Curly zeigte auf ein Loch im Boden. Es hatte etwa den Durchmesser von Mama Paulas berühmten Buttermilchpfannkuchen. Am Eingang war ein Häufchen aus losem weißem Sand zu sehen.

»Darüber sind Sie gestolpert«, informierte Curly Officer Delinko.

»Da unten leben Eulen?« Der Polizist bückte sich und untersuchte das Loch. »Wie groß sind die denn?«

»Etwa so groß wie...