Was war. Was ist. Was zählt. - Mein etwas verrücktes Leben

von: Lotti Latrous

Wörterseh Verlag, 2019

ISBN: 9783037637739 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Was war. Was ist. Was zählt. - Mein etwas verrücktes Leben


 

 

Es war einmal


Es war einmal – mit diesen nicht sehr originellen Worten wollte ich eigentlich immer mein Buch beginnen. Aber nun sitze ich da und tippe sie ein: Es war einmal … Weiter komme ich nicht, denn es stimmt einfach nicht. Was einmal war, ist noch immer. Nichts, aber auch gar nichts, hat sich am Schicksal der Menschen geändert, die in unermesslicher Armut und ebensolcher Ungerechtigkeit leben müssen. Ich bin nun seit fünfundzwanzig Jahren in Abidjan in der Elfenbeinküste und seit etwas über zwanzig Jahren in meinem Projekt. Die ersten achtzehn Jahre waren wir in Adjouffou, einem Armenviertel dieser Großstadt, tätig, und seit fast drei Jahren sind wir in Grand-Bassam ansässig. Und wenn ich so zurückblicke, dann sollte ich mein Buch eher mit den Worten beginnen: Es ist noch immer, wie es einmal war. In der Welt der Armen gibt es keinen positiven Fortschritt. Nicht weniger Hungernde, nicht weniger sterbende Kinder, nicht weniger Analphabetismus, nicht weniger elende Hütten. Im Gegenteil, es gibt von allem mehr. Mehr Hungernde, mehr sterbende Kinder, mehr Analphabetismus, mehr elende Hütten, in die wir hier im reichen Europa nicht mal unsere Hunde stecken würden.

Manchmal träume ich davon, dass die Menschheit eins wird. Dass es keine erste, keine zweite, keine dritte Welt mehr gibt, sondern EINE Welt. Eine Welt, auf dem das Gute, der Frieden, die Gerechtigkeit gleichermaßen verteilt sind und wenige von uns weniger haben und viele dafür mehr. Ja, ich weiß, ich bin keine sechzehn mehr, aber fantasieren kann man auch noch mit sechsundsechzig. Dann erst recht.

Ganz am Anfang sammelte ich Menschen. Ich suchte sie in den Slums und fand sie. Auf dem nackten Boden, in ihrem eigenen Durchfall liegend. Mit fiebrigen Augen, abgemagert bis auf die Knochen, hustend, übersät von Ekzemen. Kranke, die ich mit der Hilfe mutiger Menschen im Slum in meinen alten japanischen Geländewagen, den Pajero, legte und sie dann in unser Zentrum fuhr. Ich hatte damals, 1999, nur drei Mitarbeiterinnen und zwei Mitarbeiter, wir alle machten daher alles, waren Chauffeur, Pflegerin und Tröster in einem.

Und viel mehr als trösten konnten wir ja noch nicht, die Aidsepidemie hatte schon Hunderttausende das Leben gekostet, aber einen Wirkstoff, um das Virus in Schach zu halten, gab es nur in unseren Träumen. Von Aids sprach damals im Afrika südlich der Sahara sowieso niemand. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher krank wurde und die typischen Aidssymptome zeigte, sagte man einfach »la maladie«, »die Krankheit«. Diagnostiziert wurde das HI-Virus hier lange nicht, wozu auch? Man wollte gar keine Gewissheit haben. Die Erfahrung, dass »la maladie« unweigerlich zum Tod führte, genügte als Information. Genügte, dass Familienangehörige ihre Liebsten, die daran litten, mieden, mehr noch, sie manchmal sogar ausstießen.

Also kümmerten wir uns um sie, trugen die vom Tod gezeichneten jungen Menschen in unsere zu Krankenzimmern umgebauten Schiffscontainer und halfen, so gut wir konnten. Auch hier gab es Fliegen, Hitze und Gestank, aber auch etwas, das es in den Hütten nicht gab: ein weiches Bett mit einem sauberen Tuch und medizinische Versorgung. Und es war jemand da, Tag und Nacht. Der Essen und Trinken brachte, Mut zusprach und Trost spendete. Und der – ganz wichtig – keine Angst hatte. Keine Angst, die Abgemagerten in die Arme zu nehmen, ihre nässenden Wunden zu verbinden, sie zu waschen, zu wickeln, ihnen Essen einzulöffeln, wenn sogar dazu die Kraft fehlte. Und der – das Allerwichtigste – mit ihnen redete und dabei keine Angst hatte, ihnen die Wahrheit zu sagen. Diese Wahrheit lautete: Du wirst sterben, aber wir werden bis zu deinem letzten Atemzug bei dir sein, wir werden an deinem Bett sitzen, deine Füße massieren, deine Hände halten, für deine Kinder sorgen, dir deinen letzten Wunsch von den Augen ablesen. Wir werden dir versichern, dass es sie nicht gibt, die Hölle, und auch nicht das Fegefeuer, im Gegenteil: Du wirst am Ende direkt neben ihm sitzen, ganz egal, wie du ihn nennst, Gott oder Allah oder wie auch immer, denn du hast genug gelitten, jetzt kommt die Zeit der Gerechtigkeit.

Unzählige Menschen durften bei uns in Frieden einschlafen, gut begleitet von unserem geschulten Personal, das gelernt hat, dass man sich vor dem Tod nicht zu fürchten braucht. Was eine gute Sterbebegleitung bewirken kann, habe ich unzählige Male miterlebt. Das erste Mal, als ich selbst jemanden in den Tod begleitete, werde ich nie vergessen. Das war 1995, sie hieß Anne.

Unsere drei Kinder waren damals den ganzen Tag in der Schule und mein Mann Aziz beim Arbeiten. Ich saß zu Hause, hatte einen Chauffeur, einen Koch, ein schönes Haus, einen Pool, sogar ein Strandhaus draußen am Meer, das Aziz für die Wochenenden für uns organisiert hatte. Aber mein Leben – pardon, ich kann es nicht anders sagen – ödete mich an, denn ich hatte auch viel Langeweile und eine immense Sehnsucht danach, etwas Sinnvolles zu tun. Also bewarb ich mich als freiwillige Helferin bei den Ordensschwestern von Mutter Teresa in dem Abidjaner Quartier Koumassi und wurde dort zum ersten Mal mit Aids und Tod konfrontiert. Wenn ich an diese Arbeit zurückdenke, erinnere ich mich an viele Menschen und viele unfassbare Schicksale. Doch bevor ich – stellvertretend für sie alle – die Geschichte von Anne erzähle, zunächst die von Ismael, denn ihn hatte ich kurz vor Anne kennen gelernt.

Ismael


Ismael war aus dem Senegal in die Elfenbeinküste gekommen. Er war schwarz wie Ebenholz und so groß, dass er überhaupt nicht in das Bett passte, in das ihn die Ordensschwestern gelegt hatten. Als ich ihn sah, war ich erschüttert. Mein erster Gedanke: »Das ist kein Leben mehr.« Mein zweiter: »Ein Mensch sollte nicht so leiden müssen.« Meinen dritten Gedanken verschweige ich. Vorsichtig berührte ich seinen Arm, der so dünn war, dass ich unter meinen Fingern seine Knochen spürte. Ich beugte mich über ihn, erklärte, wer ich bin, und fragte dann, ob ich ihm irgendwie helfen könne. Er schlug die Augen auf und schaute mich mit tiefster Verzweiflung, Schmerz und Resignation an. Noch nie hatte ich einen derartigen Blick gesehen – dass ich ihn noch tausendmal zu sehen bekommen würde, wusste ich damals noch nicht.

Ismael legte unter größter Anstrengung seine Hand auf meine und sagte ganz leise: »Es ist ›la maladie‹. Und ich habe Tuberkulose.«

Da ich mein Ohr an seinen Mund gelegt hatte, um seine Worte zu verstehen, erschrak ich zutiefst. Ich hatte nicht die geringste Angst, mich mit Aids zu infizieren, aber vor der hochansteckenden Tuberkulose, der TB, hatte ich einen Heidenrespekt. Ich riss mich zusammen, dachte: »Jetzt hinausrennen hilft ihm nicht und mir wohl auch nicht mehr.« Dann tröstete ich ihn, dass er hier ja sicher Medikamente gegen seine TB bekäme.

»Nein, eben nicht mehr«, flüsterte er. »Ich bitte die Schwestern jeden Tag darum, sage ihnen, dass mich die TB umbringt. Erkläre ihnen, dass ich die Medikamente bereits seit fünf Monaten nehme und jetzt nicht damit aufhören darf. Mein Arzt hat mir gesagt, ich müsse sie sechs Monate nehmen. Es fehlt doch nur noch ein Monat!« Er schloss kurz die Augen, versuchte, sich zu beruhigen, dann sagte er leise: »Gegen ›la maladie‹ kann man nichts tun, aber die Tuberkulose kann man heilen. Wenn du mir helfen willst, dann mach, dass ich die Tabletten wieder bekomme.«

Ich versprach ihm, sein Anliegen weiterzuleiten, verabschiedete mich und ging zur diensthabenden Schwester. »Verzeihen Sie bitte, dass ich mich einmische«, sagte ich, »aber ich verstehe nicht, warum man Ismael seine Medikamente nicht mehr gibt.«

Sie sah mich traurig an: »Weil es keinen Sinn mehr hat, es ist zu spät, er wird sterben.«

Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben, sah sie an und wiederholte: »Weil es keinen Sinn mehr hat?«

Sie sah, wie schockiert ich war, und entschuldigte sich sofort für ihre Wortwahl. Dann erklärte sie mir, dem Neuling, dass alle, die kostenlos Medikamente gegen TB bekämen, diese auch höchstpersönlich in der Ausgabestelle abholen müssten. Nicht einmal ihnen als Schwestern würde man sie aushändigen. Ich sah sie an, verabschiedete mich und wusste, dass ich alles daransetzen würde, Ismaels wohl letzten Wunsch zu erfüllen: ihm zu zeigen, dass er es wert war. Denn wie soll ein Mensch in Frieden sterben, wenn sich ein Einsatz für ihn nicht mehr lohnt?

Ich stieg also in meinen Pajero und fuhr los. Es dauerte zwei Stunden, bis ich an der öffentlichen Ausgabestelle angekommen war, die nur knappe fünfzehn Kilometer entfernt lag; der Verkehr war schon damals ein Wahnsinn. Als ich an die Reihe kam und Ismaels rote Karte vorlegte, die ihn dazu berechtigte, das Medikament gratis zu beziehen, sagte man mir prompt, dass der Patient selber kommen müsse.

Fassungslos antwortete ich: »Der Patient liegt im Sterben, kann sich kaum noch bewegen. Er kann nicht mehr selber kommen.«

»Dann gibt es auch keine Medikamente. Bitte machen Sie dem Nächsten Platz.«

Ich blieb stehen. »Ihr habt ihm eingetrichtert, er dürfe die Therapie unter keinen Umständen unterbrechen, und jetzt lasst ihr ihn im Stich? Das verstehe ich nicht, bitte erklären Sie mir das!«

Man wollte mir gar nichts erklären. Die Anweisungen, so sagte man, seien klar, und man halte sich daran. Ich gab nicht auf, drängte weiter auf eine Erklärung und machte so viel Lärm und Tamtam, dass man drauf und dran war, mich rauszuschmeißen. Jetzt erst gab ich den Ausgabeschalter...