Sofort, unverzüglich - Die Chronik des Mauerfalls

von: Hans-Hermann Hertle

Ch. Links Verlag, 2019

ISBN: 9783862844630 , 360 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 12,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Sofort, unverzüglich - Die Chronik des Mauerfalls


 

Das Jahr 1989


Erich Honecker: »Die Mauer wird … in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen«


»Die Mauer wird … so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben.« Sie werde »in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben«, zeigte sich SED-Generalsekretär Erich Honecker am 18. Januar 1989 in Ost-Berlin überaus optimistisch.1 Selbst der frühere Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, der als einer der wenigen den Untergang des sowjetischen Imperiums vorhersagte, war sich 1989 noch sicher, dass sich im Sowjetblock allein die DDR und Bulgarien nicht in einer Krisensituation befänden.2 Die DDR, so seine Prognose, werde für geraume Zeit ein »kommunistisches Preußen« bleiben, besonders wenn »Westdeutschland weiterhin die ostdeutsche Wirtschaft so großzügig« unterstütze.3 Weder Erich Honecker noch Zbigniew Brzezinski vermochten sich offenbar vorzustellen, wie radikal sich in kürzester Zeit die außenpolitischen Existenzbedingungen und als deren Folge die innenpolitischen Rahmenbedingungen in der DDR verändern würden – genauso wenig wie KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow, US-Präsident George Bush und Bundeskanzler Helmut Kohl, geschweige denn die britische Premierministerin Margaret Thatcher oder der französische Staatspräsident François Mitterrand. Nahezu allen in- und ausländischen Beobachtern in Politik und auch in der Wissenschaft galt die DDR noch wenige Monate vor ihrem Untergang als eine Insel der Stabilität.4

Dreißig Jahre nach dem Ende der DDR und der Vereinigung beider deutscher Staaten gehören die Jahre 1989/90 zu den besterforschten Abschnitten der deutschen Zeitgeschichte.5 Dies ist vor allem der Öffnung der ostdeutschen Archive zu verdanken: Die Akten der SED und des DDR-Ministerrates einschließlich der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, der ostdeutschen Geheimpolizei, sind seit Beginn der 1990er Jahre ebenso frei zugänglich wie eine Vielzahl von Materialien der ostdeutschen Bürgerrechts- und Oppositionsbewegung.6 Auf westdeutscher Seite unterliegen die Regierungsakten zwar einer 30-jährigen Sperrfrist, doch wurden sehr früh Dokumente von zentraler Bedeutung in einer Sonderedition »Deutsche Einheit« veröffentlicht.7 Zudem erschien im Jahr 1998 eine vierbändige »Geschichte der deutschen Einheit«, deren Autoren ein privilegierter Aktenzugang gewährt worden war.8 Russische, amerikanische, britische und französische Akten trugen zur Erhellung der Ereignisse ebenso bei wie auf amerikanischer Seite die frühe Studie von Condoleezza Rice und Philipp Zelikow, die gleichermaßen auf Regierungsakten wie auf unmittelbarer Zeitzeugenschaft beruht.9

Ergänzt werden die offiziellen Aktenüberlieferungen durch die Erinnerungs- und Memoirenliteratur vieler beteiligter Spitzenpolitiker und Diplomaten sowie eine Fülle von Interviews mit ihnen – von Journalisten, Dokumentarfilmern und Historikern.10 Und schließlich stellt die zeitgenössische Medienberichterstattung von Presse, Funk und Fernsehen für die Zeitgeschichtsschreibung eine bedeutende Quelle dar.11

Erosionserscheinungen


Die Öffnung und Auswertung vor allem der ostdeutschen Archive führte sehr schnell zu dem allgemeinen Befund, dass sich die inneren strukturellen Krisenerscheinungen, die die Existenzgrundlagen der DDR bereits in den 1980er Jahren zunehmend untergraben hatten und die Handlungsmöglichkeiten der SED-Führung in der Finalitätskrise des Herbstes 1989 wesentlich beeinflussten, nur graduell von denen in ihren »Bruderländern«, den Staaten des sowjetischen Machtblocks, unterschieden. Die wirtschaftliche Lage in all diesen Ländern war desaströs. Ihr technologischer Rückstand war erheblich, die Arbeitsproduktivität nicht einmal halb so hoch wie im Westen, viele Produktionsanlagen waren verschlissen, die Arbeits-, Gesundheits- und Umweltbedingungen in vielen Bereichen katastrophal, die Infrastruktur war verrottet, der bauliche Verfall der Städte fortgeschritten. Die Verschuldung im Westen hatte – besonders in Polen, Ungarn und der DDR – eine dramatische Höhe erreicht. Die Ausgaben für den militärisch-(geheim) polizeilichen Apparat verschlangen einen enormen Teil des Staatshaushaltes aller kommunistischen Staaten – allein in der Sowjetunion sollen es 40 Prozent gewesen sein.12

Die Erosion der Ideologie war unübersehbar: Das Versprechen einer kommunistischen Gesellschaft, die, wie es noch der XXII. KPdSU-Parteitag im Oktober 1961 unter Parteichef Nikita Chruschtschow angekündigt hatte, bis zum Jahr 1981 einen Überfluss an materiellen und kulturellen Gütern und den höchsten Lebensstandard auf der Welt erreichen sollte13, war stillschweigend zurückgezogen worden. Im April 1971 hatte der XXIV. KPdSU-Parteitag unter Chruschtschow-Nachfolger Leonid Breschnew – und in seiner Folge die Parteitage aller »Bruderparteien« – als neue »Hauptaufgabe« die »Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes« beschlossen.14 In der DDR entstand für dieses Wohlfahrtspostulat die Formel von der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«. Die menschheitsbeglückende Utopie der kommunistischen Gesellschaft schrumpfte damit auf einen profanen Konsumsozialismus als Tagesaufgabe zusammen. Sozialismus als Zielvorstellung und die Erfüllung des Wohlfahrtsversprechens waren damit quasi eins geworden – mit der zwingenden Folge, dass das Nichteinhalten des Konsumversprechens den kommunistischen Führungen als Scheitern des Sozialismus insgesamt vorgehalten werden konnte.

Die angeblich »führende Kraft« der kommunistischen Parteien war erschöpft, der Glaube an die historisch-gesetzmäßige Sieghaftigkeit des Sozialismus über den Kapitalismus erschüttert, die Parteiführungen von jahrelangem Krisenmanagement zermürbt, viele Parteikader verschlissen, die Parteibasis, einschließlich der »bewaffneten Organe«, in weiten Teilen demoralisiert und desorientiert.

Doch bei allen gemeinsamen strukturellen Krisenerscheinungen unterscheidet sich der Fall der DDR von ihren »Bruderländern« auch erheblich. Der kommunistische deutsche Teilstaat war zum einen ein Zwangs- und Kunstprodukt der weltpolitischen Interessen und imperialen Machtansprüche der Sowjetunion. Als »Satrapie des sowjetischen Hegemonialreiches«15 hing die Existenz des ostdeutschen Staates von der Staatsgründung 1949 bis zum Jahr 1990 unmittelbar von der militärischen, ökonomischen und politischen Unterstützung der Sowjetunion ab und war damit zugleich in besonderer Weise unmittelbar deren Interessen unterworfen. Zum anderen stand die DDR in unmittelbarer Konkurrenz zur Bundesrepublik, dem anderen deutschen Teilstaat. Alle Versuche, eine »sozialistische deutsche Nation« oder auch nur eine »nationale DDR-Identität« zu begründen, waren kläglich gescheitert. Über 40 Jahre war die SED-Führung mit am westdeutschen Modell von Demokratie und Wohlstand ausgerichteten Erwartungen großer Teile der Bevölkerung und ihren gesamtdeutschen Orientierungen konfrontiert.

Zwar hatten sich die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten im Zuge der Entspannungspolitik und nach dem Abschluss des deutsch-deutschen Grundlagenvertrages 1972 im Zuge einer »Politik der kleinen Schritte« nahezu »normalisiert«. Für die Gewährung sogenannter humanitärer Erleichterungen (Verbesserung der Reisemöglichkeiten, Öffnung neuer Grenzübergänge, Verkauf von politischen Häftlingen16, Erleichterungen im Post-, Paket- und Telefonverkehr u. a.) erhielt die DDR von der Bundesregierung finanzielle Alimentationen, um die sie ihre »Bruderstaaten« beneideten: Von 600 Mio. DM jährlich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stiegen sie auf rd. 1,5 Mrd. DM in den 1980er Jahren an.17

Und je notleidender die DDR wurde – 1981/82 stand sie erstmals unmittelbar vor dem ökonomischen Bankrott18 –, desto abhängiger wurde sie von der wirtschaftlichen Hilfe der Bundesrepublik – und desto größer wurden die politischen Zugeständnisse (Abbau der Minen und Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze 1983/84, Gewährung von mehr Ausreisen aus der DDR ab 1984, Genehmigung von mehr West-Reisen für DDR-Bürger ab 1986).

Alle Bundesregierungen weigerten sich jedoch bis zum Schluss, eine eigene DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Die »Bewohner der DDR«, wie sie in der offiziellen Sprachregelung des Westens genannt wurden, waren dem Grundgesetz der Bundesrepublik entsprechend zugleich – potenzielle – Bundesbürger mit allen Rechten auf staatliche Fürsorge; es musste ihnen nur gelingen, westdeutschen Boden zu...