Heilmittel, Partydroge, Teufelszeug - Die unglaublichen Karrieren der zehn wichtigsten Wirkstoffe der Welt

von: Thomas Hager

ecoWing, 2020

ISBN: 9783711052674 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 20,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Heilmittel, Partydroge, Teufelszeug - Die unglaublichen Karrieren der zehn wichtigsten Wirkstoffe der Welt


 

EINLEITUNG


Zwischen 1835 und 1935 war Deutschland fast hundert Jahre lang nicht nur in der Chemie und Physik, sondern auch in weiten Teilen der Medizin, Mathematik und Biologie führend. Die moderne wissenschaftliche Bildung, die vornehmlich auf originäre Forschung und den Austausch zwischen Studierenden und Professoren in kleinen Seminaren setzt, nahm genauso in Deutschland ihren Anfang wie ein neues Modell der engen Zusammenarbeit zwischen akademischen Wissenschaftlern, privaten Industriellen und Regierungsstellen. Deutschland beherrschte in jener Zeit die Welt der Wissenschaft und damit auch die Entwicklung von Arzneimitteln.

Zwei meiner Bücher sind deutschen Forschern gewidmet. The Alchemy of Air erzählt, wie Fritz Haber und Carl Bosch entdeckten, dass Luft zu Brot werden kann (genauer gesagt entdeckten sie ein großindustrielles Verfahren zur Fixierung des Stickstoffes in der Atmosphäre). Das Ergebnis ihrer Arbeit ernährt heutzutage die Hälfte der Menschheit auf dem Planeten, ermöglichte allerdings auch die Herstellung von Waffen, die viele Millionen getötet haben. Ein anderes Buch von mir, The Demon Under the Microscope, beschreibt, wie Gerhard Domagk in den 1920er- und 1930er-Jahren Sulfonamide entdeckte, die ersten in großem Maßstab vertriebenen Antibiotika (ein Kapitel des vorliegenden Buches enthält eine Kurzfassung der Sulfa-Geschichte). Meine Nachforschungen für diese Bücher haben mich nach Deutschland geführt, wo ich mit deutschen Wissenschaftlern, Archivaren, Historikern und Unternehmensleitern sprach.

Daher freue ich mich sehr, dass Ten Drugs nun auch in deutscher Fassung mit dem Titel Heilmittel, Partydroge, Teufelszeug erscheint. Ich hoffe, Sie haben Freude daran.

50 000 PILLEN


Vor einigen Jahren hatte ich auf einer Geschäftsreise einen freien Tag in London. Wie so viele Touristen besuchte ich das Britische Museum. Und dort stieß ich auf etwas Außergewöhnliches, das mich zu diesem Buch veranlasste.

In einer großen, lichtdurchfluteten Galerie im Erdgeschoss befand sich ein riesiger Tisch, vierzehn Meter lang, der mit Tausenden von Pillen übersät war. Das Werk stammte von einem Künstler und Arzt und zeigte die Gesamtmenge von 14 000 Dosen verschreibungspflichtiger Medikamente, die ein durchschnittlicher Brite im Laufe seines Lebens einnimmt. Die Pillen, die in Stoffbahnen eingewebt und mit Erläuterungen versehen waren, bedeckten den gesamten Ausstellungstisch, ein Teppich aus Arzneimitteln. Ich traute kaum meinen Augen. Nahmen die Menschen wirklich so viele Pillen?

Die Antwort lautet: In Großbritannien vielleicht, doch in meiner Heimat, den USA, sind es noch viel mehr – und in Deutschland ebenfalls. Amerikaner schlucken als eifrigste Arzneimittelkonsumenten der Welt im Schnitt drei- bis viermal mehr Pillen als die Briten – Schätzungen zufolge etwa 50 000 Tabletten im Leben – und zahlen dafür über die Hälfte der Gelder, die die Pharmaindustrie alljährlich einnimmt.

Betrachtet man die Menge der pro Jahr verkauften Arzneimittel, so belegt Großbritannien weltweit nur Rang neun, hinter (in absteigender Reihenfolge) den USA, Japan, Deutschland, Frankreich, China, Italien, Spanien und Brasilien. Deutsche wenden für Medikamente im Schnitt zwei Drittel der Summe auf, die Amerikaner zahlen, aber immer noch erheblich mehr als die Briten.

In anderen Ländern ist die Situation sehr unterschiedlich, sowohl hinsichtlich Arzneimittelverbrauch als auch hinsichtlich der Kosten. Die fünfzehn Prozent der Weltbevölkerung in wohlhabenden Ländern, in erster Linie in Nordamerika und Westeuropa, konsumieren etwa neunzig Prozent der weltweiten Medikamente. In der Schweiz sind die Pro-Kopf-Kosten fast genauso hoch wie in den USA, während sie in Portugal nur ein Drittel ausmachen. Menschen in ärmeren Ländern schlucken dagegen weniger Arzneimittel und geben dafür weniger Geld aus (in reicheren Ländern nimmt man mehr moderne, patentierte und besonders teure Medikamente, in ärmeren dafür vermehrt ältere, preiswertere Generika). Der Arzneimittelkonsum ist somit ein Zeichen für Wohlstand, sodass der Medikamentenverbrauch gemeinhin zunimmt, wenn sich die Wirtschaftsleistung eines Landes verbessert. In Indien und China ist beispielsweise gerade zu beobachten, dass sich der Arzneimittelverbrauch an westeuropäische Verhältnisse annähert, da das Durchschnittseinkommen steigt. Das heißt, die Menschen dort nehmen mehr (und teurere) Medikamente.

Natürlich kommt es nicht nur darauf an, wo man ist, sondern auch wer man ist. Es versteht sich von selbst, dass ältere und weniger gesunde Menschen mehr Arzneimittel einnehmen. Da sich die Generation der Babyboomer allmählich dem Rentenalter nähert und die Weltbevölkerung insgesamt immer älter wird, werden künftig immer mehr Menschen immer mehr Medikamente nehmen.

Das erklärt, wieso die Pharmaunternehmen sehr zuversichtlich in die Zukunft blicken. Man geht davon aus, dass der weltweite Umsatz der Pharmabranche schon bald mehr als eine Billion US-Dollar pro Jahr übersteigen wird – mehr als das jährliche Bruttosozialprodukt der allermeisten Länder der Welt. Deutschland, das mehr Arzneimittel herstellt als jedes andere Land in Europa, wird auf dieser Welle mitschwimmen.

Vor diesem Hintergrund sollten wir unsere Spezies vielleicht in Homo pharmacum umbenennen, also die Spezies, die Medikamente herstellt und einnimmt. Wir sind das Volk der Pille.

Dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie es dazu gekommen ist, und dabei ein besonderes Augenmerk auf medizinische (also legale, nicht zum Vergnügen genommene, zumeist verschreibungspflichtige) Drogen richten. In einer Reihe von kurzen, anschaulichen Abhandlungen wird quasi die Biografie von zehn Medikamenten umrissen, die die Geschichte der Medizin verändert haben, jeweils durch gemeinsame Themen verbunden sind und zeitlich aneinander anknüpfen.

Eines dieser gemeinsamen Themen ist die Entwicklung der Arzneimittel. Das Wort Droge, im Sinne von Arznei oder Medikament, selbst stammt aus alten französischen und niederländischen Bezeichnungen für die Fässer, die einst zur trockenen Aufbewahrung von Kräutern dienten. Vor einhundertfünfzig Jahren arbeiteten Apotheker im Prinzip so wie heutzutage Pflanzenheilkundler, die ihre Medikamente in erster Linie aus getrockneten Pflanzen gewinnen und zusammenstellen. Ärzten standen damit im 19. Jahrhundert ein paar Dutzend einigermaßen wirksame Naturheilmittel zur Verfügung, mit denen sie ihren Patienten helfen konnten (neben den vielen Hundert nutzlosen, oft alkohollastigen Elixieren, Umschlägen und Pillen, die von Apothekern vor Ort hergestellt und angepriesen wurden). Heute gibt es mehr als 10 000 immer speziellere, immer wirkungsvollere Hightechmedikamente zur Behandlung und oft sogar Heilung von Krankheiten, die Medizinern jahrtausendelang Rätsel aufgegeben hatten.

Innerster Antrieb dieser Entwicklung ist die Suche des Menschen nach Wundermitteln, nach Medikamenten, die Krankheiten in unserem Körper zuverlässig aufspüren und vernichten können, ohne dabei unserer Gesundheit zu schaden. Von jeher strebt man nach allmächtigen, aber risikofreien Arzneimitteln, ein Ziel, das höchstwahrscheinlich nicht zu erreichen ist. Eine perfekte Wunderwaffe wurde bislang nicht gefunden. Aber wir kommen der Sache immer näher.

Ein weiterer roter Faden, der sich durch alle Kapitel zieht, ist die Entwicklung der Branche, die Medikamente herstellt – das globale Ungeheuer, das Kritiker als »Big Pharma« bezeichnen –, und der Art und Weise, wie wir diese Branche steuern. In den 1880er-Jahren waren beispielsweise fast alle Medikamente ohne Rezept frei erhältlich, sogar Mixturen mit Opium, Kokain und Cannabis. Heutzutage ist für beinahe jedes starke Medikament eine Verordnung erforderlich, und Betäubungsmittel wie Heroin kann man nicht einmal mit Rezept kaufen (die einzige Ausnahme ist Großbritannien). Bis in die 1930er- Jahre konnten Arzneimittelhersteller so gut wie alles auf den Markt bringen, solange niemand daran starb. Ob das Mittel tatsächlich wirkte oder nicht, spielte für den Verkäufer keine Rolle. Heute dagegen dürfen verschreibungspflichtige Medikamente erst verkauft werden, wenn sie sich als unbedenklich und wirksam erwiesen haben. Diese Arzneimittelgesetze haben sich – in manchmal überraschender Weise – zusammen mit den Arzneimitteln selbst entwickelt.

Auch unsere Einstellung hat sich verändert. In den 1880er- Jahren bestimmte man in der Regel selbst, was man einnahm. Manche hörten auf den Ratschlag von Ärzten, andere nicht, aber was man schluckte, war die eigene Entscheidung – sei es ein selbst gebrautes Horrormittel wie radioaktives Wasser gegen Krebs oder ein opiumversetzter Sirup für unruhige Babys, den ein kaum geschulter Apotheker in seinem Hinterzimmer zusammengemischt hatte. Jeder konnte frei entscheiden, und der Staat hielt sich weitestgehend heraus.

Heutzutage ist es genau andersherum. Der Weg zu unseren hochwirksamen Arzneimitteln führt in den allermeisten Ländern über...