Toko - Roman

von: Erwin Uhrmann

Limbus Verlag, 2019

ISBN: 9783990391402 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Toko - Roman


 

1

Erich konnte die Studierenden in der ersten Reihe gut erkennen, die in der zweiten Reihe nur mehr schlecht, und die in der dritten waren von all den vorderen verdeckt. Bis auf einen, der trug seine Kappe tief im Gesicht und sah zu Boden. Das Bild ruckelte und ein knarzendes Geräusch erfüllte den Raum. Axel fragte, ob es jetzt besser funktioniere. Erich nickte mit dem Kopf, was Axel nicht sehen konnte, und setzte sich vor die Kamera.

Alle waren sie jetzt da, von der Kamera in einem Rahmen eingefangen. Eine Perspektive, die üblicherweise nur Vögel einnehmen. Schön waren Menschen nicht von oben, wo ihre Nähte in der Mitte zusammenliefen. Einer hatte richtig schütteres Haar. Erich konnte die Ansätze einer zukünftigen Glatze identifizieren, tiefe Geheimratsecken und nackt werdende Stellen. Führte unweigerlich zu einer Glatze. Eine Angst, die ihn jahrelang geplagt hatte, wenn er Haare auf seinem Kopfpolster gefunden hatte. Danach hatte er im Spiegel analysieren müssen, ob sich seine Geheimratsecken vergrößert hatten. Damit einhergehend hatte er Stunden damit verbracht, im Internet zu suchen, wie Haarausfall begann und ob es schon ein probates Mittel dagegen gab. Aber je älter er wurde, desto gleichgültiger waren ihm die paar Haare auf dem Polster. Wahrscheinlich hatte er schon lange das Alter überschritten, in dem es gefährlich war, und das, was er am Kopf hatte, in die sichere Hälfte herübergerettet.

„Yep, ist gut“, sagte Erich, „für mich geht das jetzt gut. Und könnt ihr mich auch sehen?“

Axel ging um den Computer herum und stellte sich vor die Gruppe in der ersten Reihe. „Ja, that’s okay“, sagte er, „we can start.“

Die Stunde verging wie im Flug. Jeder in der Gruppe erzählte, wer er war, wo sein Schwerpunkt lag, und stellte ein paar Fragen. Die meisten waren ein wenig schüchtern und sprachen so leise, dass sie über den kleinen Lautsprecher am Laptop dünn und blechern klangen. Nicht alles, was auf diese Weise zu ihm durchdrang, konnte er verstehen. Insgeheim fragte er sich, ob es an seinen mangelnden Sprachkenntnissen lag oder nur an der Übertragung. In beiden Fällen war er zuversichtlich – vielleicht auch, weil er der Situation generell positiv gegenüberstand –, dass er im Laufe der Zeit ihr Vertrauen noch gewinnen würde. Schon in zwei Wochen würde die Lehrveranstaltung beginnen, und seine Vorfreude war so immens, dass er jeden Moment, der mit der Vorbereitung und der neuen Lebenssituation zu tun hatte, bewusst genoss.

Nicht, dass er intensiv an einer Karriere im Ausland gearbeitet oder es je forciert hatte, einen Forschungsauftrag andernorts zu erhalten. Sein innigster Wunsch war es trotzdem immer gewesen, in eine andere Stadt zu ziehen, Wien hinter sich zu lassen, Wien, eine Stadt, die er eigentlich nur in den Herbstmonaten leiden konnte.

Einmal, auf einer Urlaubsreise nach Vietnam, hatte er einen jungen Physiker kennengelernt, der seinen Job in Princeton an den Nagel gehängt hatte, um auf Reisen von der Hand in den Mund zu leben. Wochenlang war ihm der Mann nicht mehr aus dem Kopf gegangen, hatte in ihm Mechanismen in Gang gesetzt, die seinen Schlaf störten und seine Konzentration raubten, wenn er sie am nötigsten gebraucht hätte. Dachte er an die Vietnam-Reise, hatte er das Gesicht dieses Mannes vor Augen, mit seinen blitzblauen Augen und seinem zur Analyse jeglicher existenzieller Frage fähigen Verstand. Er selbst würde nie in ein Land wie Vietnam auswandern. Die Urlaubsreise dorthin war schon ein Experiment und Wagnis gewesen. Er meinte, ein Mensch für kühles Terrain zu sein, bereiste am liebsten den Norden von Sibirien bis Kanada. Dorthin, rechtfertigte er sich innerlich, konnte man eben nicht so leicht auswandern wie nach Südostasien, wo alles billiger und einfacher war für einen Auswanderer. Insgeheim aber wusste er, dass es vollkommen belanglos war, wohin man ging. Man musste es nur tun, das hatte der Princeton-Abbrecher auch gesagt. Alles, was man will, muss man tun, hatte er gemeint, man kann es sich nie ersparen oder erarbeiten.

Dass er Axel noch so knapp vor dessen Pensionierung auf einer Konferenz kennengelernt hatte, führte zu genau so einem Fall. Es kam ihm wie ein Geschenk vor, etwas, von dem er gar nicht mehr erwartet hätte, dass es je eintreten könnte. Dabei waren es nur ein paar Worte, die sie gewechselt hatten, einige schnell so über ein paar Köpfe hingeworfene Stichwörter, Vortrags- und Buchtitel: More and the Tudors, 3001: The Final Odyssey, Technological Utopias. Alles Dinge, die sie später gar nicht mehr thematisierten. Vermutlich funktionierte es einfach auf menschlicher Ebene, perfekte Chemie.

Sie gingen in der Hektik des Welcome Drinks, während eine schottische Professorin in ihren Eröffnungsworten über den Brexit und die Folgen für den wissenschaftlichen Austausch und das Erasmus-Programm sprach, und fanden sich in einem Pub mit Blick auf einen Fudge-Laden auf der anderen Straßenseite wieder. Erich trank Earl Grey, atmete die heiße Bergamottefeuchte ein, während Axel vom Küstenschwund Britanniens erzählte. Der heiße Fudge, der drüben in großen Blechschüsseln angerührt wurde, duftete herüber ins Pub und mischte sich mit dem abgestandenen Bierdunst zu einem seltsam angenehmen Geruch. Ein typisch englischer Schnürlregen tippte an die Panoramafenster. Während Axel angeregt etwas schilderte, das er schon beim Verlassen der Eröffnung als sein derzeitiges Kernthema angekündigt hatte, sah Erich den Passanten dabei zu, wie sie ihre Kragen aufrichteten, Schirme aufspannten, Bücher und lose in den Händen Gehaltenes in ihre Taschen steckten und alles, was wasserfest, leicht und groß war, über ihre Köpfe hielten – der Schnürlregen war binnen Sekunden zu einem Guss geworden. Axel, abgelenkt von Erichs Aufmerksamkeit, unterbrach sich selbst, machte eine Handbewegung zum Fenster hinaus und meinte: „You see, that’s England.“

Es war nicht nur dieses Intermezzo, sondern die Assoziation, ausgelöst durch den Wolkenbruch, der niederging und die unmittelbare Gewalt einer brechenden Welle hatte, die ihn zurück ins Gespräch holte, mehr noch, in den Fokus von Axels Aufmerksamkeit, der in der Chronologie der Ereignisse um das Phänomen Küstenschwund bei einer Studie des ungekrönten Königs Edward angelangt war. Erichs augenblickliche Hellhörigkeit war auch der Tatsache geschuldet, dass ihn die tragischen und skurrilen Figuren der Geschichte faszinierten, die, wie er feststellte, in ihrem Nachleben oft stärker wirkten als die Schlächter und Exekutoren. Noch etwas kam hinzu, das er nie öffentlich zugegeben hätte: Das britische Königshaus gehörte zu seinen heimlichen Leidenschaften, vielleicht weil er mit seiner Großmutter die Klatschseiten und die Revuen durchgeblättert hatte und sie ihm von der englischen Königin vorgelesen hatte, wenn er auf ein Bild von ihr gestoßen war. Er bildete sich im Laufe der Jahre ein, die Großmutter habe sogar eine äußerliche Ähnlichkeit mit Elizabeth II., was natürlich nicht der Fall war. Von Edwards Abdankung zugunsten von Elizabeths Vater – der Liebe zu einer geschiedenen Schauspielerin ohne Adelstitel wegen –, darüber hatte er zuletzt im Wohnzimmer der Großmutter vor vielen Jahren gesprochen. Er erinnerte sich an die Überschrift eines Artikels: Der Cocktail-König.

Er sprach es aus: „The Cocktail King.“

Axel lachte lauthals auf. „No, no, not Edward VIII., it’s number seven I was talking about. But I guess number seven had many cocktails as well. They called him Bertie.“ Er seufzte, machte eine Pause und erzählte weiter: „Oh boy, Bertie in his young years was a gambler, a drinker, a dandy. There was this tragic story. He was studying in Cambridge, no, he was partying in Cambrigde. One day, his father, the prince consort, came to visit him and talk to him about his debauched lifestyle. Two weeks later the prince consort passed away. Although he was ill, Queen Victoria, mourning immensely, always blamed Bertie for his death. Thank god he stopped partying and succeeded her as the next King.“

Erich hatte noch nie vorher von König Edward VII. gehört. Axel nahm einen Schluck Bier und erzählte die eigentlich für seine Ausführungen relevante Episode, als der König bereits im Amt war. Im neunzehnten Jahrhundert ließ das Meer in der Grafschaft East Riding im Norden von England einen ganzen Küstenabschnitt mit dreißig Ortschaften verschwinden. Edward VII. ließ das Phänomen von einem ganzen Stab von Wissenschaftlern untersuchen. Seither hatte die Erosion stark zugenommen – der Eingriff in die Küstenlandschaften, der Anstieg des Meeresspiegels. In Happisburgh an der Ostküste hatte das Meer vor wenigen Jahren mehr als zwei Dutzend Häuser verschlungen. Axel nannte es klingend die Küstenschwund-Apokalypse, quittierte damit seinen Erzählfluss und schwang dabei sein Glas so heftig, dass das Bier auf Erichs Hemdsärmel schwappte. Axel entschuldigte sich, während sich Erich mit einer Serviette abtrocknete, und lachte laut auf: „You see, the waves eat us english men away, for gods sake, until the empire has gone down.“

Erich lachte und meinte etwas holprig: „The empire wants to go down alone, without the rest of Europe, as it seems.“

„We were always so convinced that we don’t need Europe“, meinte Axel und ließ seine Stimmung einknicken. Nachdenklich hob er sein Glas an den Mund, trank es aus und schlug vor, noch eine Runde zu bleiben. Erich bestellte dieses Mal Bier, ohne den Tee ausgetrunken zu haben.

...