Milchmann - Roman

von: Anna Burns

Tropen, 2020

ISBN: 9783608115741 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Milchmann - Roman


 

Eins


Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb. Er wurde von einem staatlichen Mordkommando erschossen, und der Tod dieses Mannes war mir herzlich egal. Anderen hingegen war er nicht egal, und manche von denen kannten mich »vom Sehen«, wie man so sagt, und es gab Gerede über mich, weil jemand, höchstwahrscheinlich Schwager Eins, das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, ich hätte eine Affäre mit diesem Milchmann, und dabei sei ich erst achtzehn und er einundvierzig. Wie alt er war, wusste ich nicht nur, weil über seinen Tod in der Presse berichtet worden war, sondern weil es schon Monate zuvor Gerede von diesen Leuten gegeben hatte, einundvierzig und achtzehn sei doch widerlich, dreiundzwanzig Jahre Altersunterschied seien widerlich, er sei verheiratet, und er solle sich bloß nicht von mir um den Finger wickeln lassen, denn es gebe jede Menge stiller, unauffälliger Leute, die Augen und Ohren offen hielten. Und anscheinend war sie auch noch meine Schuld gewesen, diese Affäre mit dem Milchmann. Dabei hatte ich gar keine Affäre mit dem Milchmann. Ich mochte ihn nicht mal, seine Annäherungsversuche machten mir Angst und verwirrten mich. Schwager Eins mochte ich genauso wenig. Der dachte sich zwanghaft Lügen über das Liebesleben anderer Leute aus. Über mein Liebesleben. Als ich noch jünger war, nämlich zwölf, als meine älteste Schwester ihren langjährigen Freund verließ, weil der sie betrogen hatte, da stand plötzlich dieser Mann als ihr Trostpflaster auf der Matte, schwängerte sie, und die beiden heirateten auf der Stelle. Vom ersten Moment an machte er in meiner Gegenwart anzügliche Bemerkungen – über mein Schmuckkästchen, mein Kätzchen, meine Schatulle, meinen Honigtopf, meine Brosche, meinen Blütenkelch, meine Blöße –, er benutzte Wörter, sexuelle Wörter, die ich nicht verstand. Und er wusste genau, dass ich sie nicht verstand, aber schon irgendwie ahnte, dass es um Sex ging. Das kostete er voll aus. Er war fünfunddreißig. Zwölf und fünfunddreißig. Das waren auch dreiundzwanzig Jahre Altersunterschied.

Schwager machte also seine Bemerkungen und empfand das als sein gutes Recht, und ich schwieg, weil ich nicht wusste, wie ich mit diesem Menschen umgehen sollte. Er machte solche Bemerkungen nie, wenn meine Schwester dabei war. Aber sobald sie den Raum verließ, legte er los. Das Gute war: Ich fühlte mich nicht körperlich bedroht. Damals, dort, an diesem Ort, maß jeder alle anderen vor allem an der Gewaltbereitschaft, und ich erkannte sofort, dass er keine hatte, dass er so nicht tickte. Trotzdem ließ mich seine raubtierhafte Art jedes Mal vor Angst erstarren. Schwager Eins war also ein Stück Dreck und meine Schwester übel dran, weil sie schwanger von ihm war, weil sie ihren früheren Mann noch immer liebte und nicht fassen konnte, was er ihr angetan hatte, nicht glauben konnte, dass er sie nicht vermisste, denn das tat er nicht. Er vergnügte sich mit einer anderen. Diesen Mann hier sah sie gar nicht richtig, diesen älteren Mann, den sie geheiratet hatte, als sie viel zu jung und zu unglücklich und zu verliebt gewesen war – nur eben nicht in ihn –, als dass sie sich wirklich auf ihn hätte einlassen können. Ich hörte auf, sie zu besuchen, obwohl sie so traurig war, weil ich seine Anzüglichkeiten und Grimassen nicht mehr ertrug. Sechs Jahre später, als er versuchte, sich an mich und meine übrigen älteren Schwestern ranzumachen, und wir drei ihn – auf direkte, indirekte, höfliche, Jetzt-verpiss-dich-Art – abwiesen, trat aus dem Nichts genauso unerwünscht, allerdings viel bedrohlicher, viel gefährlicher, der Milchmann auf den Plan.

Ich wusste nicht, wessen Milchmann er war. Unserer jedenfalls nicht. Ich glaube, er war niemandes Milchmann. Er nahm keine Bestellungen auf. Hatte nie Milch dabei, lieferte keine Milch aus. Er fuhr nicht mal einen Milchwagen. Stattdessen fuhr er Autos, verschiedene Autos, oft rasante Autos, obwohl er selbst gar kein rasanter Typ war. Und trotzdem bemerkte ich ihn und seine Autos erst, als er auf einmal vor meiner Nase darin herumsaß. Dann gab es noch den Lieferwagen – klein, weiß, unscheinbar, nicht zu greifen. Auch am Steuer dieses Lieferwagens wurde er hin und wieder gesehen.

Eines Tages war er da, kam plötzlich mit einem seiner Autos angefahren, als ich im Gehen Ivanhoe las. Ich las oft im Gehen. Das war für mich nichts Ungewöhnliches, und doch sollte es ein weiteres Indiz zu meinen Lasten werden. Lesen im Gehen war eindeutig verdächtig.

»Du bist doch eine von den Dingsda-Schwestern, oder? Der-und-der war dein Vater. Deine Brüder Dings, Dings, Dings und Dings waren doch im Hurling-Team. Spring rein. Ich nehm dich mit.«

Das sagte er ganz beiläufig und öffnete schon die Beifahrertür. Ich schreckte von meinem Buch hoch. Ich hatte das Auto gar nicht kommen hören. Hatte auch den Mann am Steuer vorher noch nie gesehen. Er beugte sich vor, schaute zu mir heraus, lächelte und gab sich ganz freundlich und zuvorkommend. Aber mittlerweile, im Alter von achtzehn Jahren, war ich bei lächelnd, freundlich und zuvorkommend schon halb auf den Bäumen. Nicht wegen der Mitfahrgelegenheit. Die Leute hier, die ein Auto hatten, hielten oft und boten an, einen mitzunehmen. Damals gab es noch keinen solchen Überfluss an Autos, und der öffentliche Verkehr war wegen Bombendrohungen und Fahrzeugentführungen häufig vorübergehend ausgesetzt. Und den Begriff »Autostrich« hatten vielleicht manche schon mal gehört, aber so was gab es hier nicht. Ich zumindest hatte ganz sicher noch nie davon gehört. So oder so wollte ich nicht mitgenommen werden. Ganz grundsätzlich. Ich ging gern spazieren – ich spazierte und las, spazierte und dachte nach. Und auch im konkreten Fall wollte ich nicht zu diesem Mann ins Auto steigen. Ich wusste nur nicht, wie ich ihm das klarmachen sollte, denn er war ja nicht unhöflich, und er kannte meine Familie, er hatte schließlich die wichtigsten Daten genannt: die Namen der männlichen Familienmitglieder, und ich konnte schlecht unhöflich sein, wenn er nicht unhöflich war. Deshalb geriet ich ins Stocken, erstarrte förmlich, was ziemlich unhöflich war. »Ich gehe zu Fuß«, sagte ich, »ich lese«, und dabei hielt ich das Buch hoch, als könnte Ivanhoe das Gehen erklären, die Notwendigkeit des Gehens. »Du kannst doch auch im Auto lesen«, sagte er, und was ich darauf entgegnete, weiß ich nicht mehr. Schließlich lachte er und sagte: »Dann eben nicht. Macht nichts. Viel Spaß noch mit deinem Buch da«, und damit zog er die Tür zu und fuhr weiter.

Beim ersten Mal passierte nichts weiter – und trotzdem machte schon da ein Gerücht die Runde. Älteste Schwester kam zu uns, weil ihr Mann, mein einundvierzigjähriger Schwager, sie geschickt hatte. Sie sollte mich in Kenntnis setzen und ermahnen. Ich sei gesehen worden, wie ich mit dem Mann sprach.

»Ach, halt’s Maul!«, rief ich. »Was soll das denn heißen: gesehen worden? Wer will mich denn bitte gesehen haben? Dein Mann?«

»Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte sie. Aber ich hörte nicht zu, wegen ihm und seiner Doppelmoral, und weil sie die einfach so hinnahm. Mir war vorher nicht klar gewesen, dass ich ihr die Schuld gab, ihr schon lange die Schuld gab für seine ständigen Anzüglichkeiten mir gegenüber. Dass ich ihr die Schuld dafür gab, ihn geheiratet zu haben, obwohl sie genau wusste, dass sie ihn nicht liebte und auch nicht achten konnte, denn sie musste doch gewusst haben, anders konnte es gar nicht sein, was für Spielchen er spielte.

Sie versuchte weiterhin hartnäckig, mich zur Vernunft zu bringen. Ich täte mir selbst keinen Gefallen; von allen Männern, mit denen ich mich hätte einlassen können … Aber mir reichte es. Ich war sauer und fluchte noch ein bisschen mehr, weil sie das nicht ausstehen und man sie nur so vertreiben konnte. Aus dem Fenster schrie ich ihr hinterher, der miese Feigling solle selbst vorbeikommen, wenn er mir was zu sagen habe. Das war ein Fehler: Gefühlsregungen gezeigt zu haben, dabei gesehen und gehört worden zu sein, wie ich aus dem Fenster schrie, über die Straße, wie ich mich gehen ließ. Normalerweise konnte ich mich zusammenreißen. Aber ich war wütend. Ich hatte so viel Wut in mir – auf sie, weil sie die brave Hausfrau gab, weil sie seinen Anweisungen immer wieder aufs Wort folgte, und auf ihn, weil er mir seine eigene Verachtungswürdigkeit andichten wollte. Mein Trotz war geweckt, mein »Geht dich einen Dreck an«. Dummerweise bedeuteten diese Gefühle jedes Mal, dass ich total durchdrehte, nicht aus Erfahrung lernte und mir ins eigene Fleisch schnitt. Die Gerüchte über den Milchmann und mich tat ich...