Filmtheorie zur Einführung

von: Thomas Elsaesser, Malte Hagener

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960601005 , 270 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Filmtheorie zur Einführung


 

1. Fenster und Rahmen


Ein Mann sitzt unbeweglich in einem Sessel und schaut zum Zeitvertreib durch einen rechteckigen Rahmen auf menschliche Dramen. Seine visuelle Wahrnehmung wechselt zwischen einem weiten, panoramaartigen Überblick und einer Detailsicht. Seine Position ist erhöht und privilegiert. Die Geschehnisse scheinen sich unabhängig von seiner Beobachtung zu entfalten, aber er fühlt sich dennoch nie derart ausgeschlossen, dass ein Gefühl der Frustration entstünde. Damit ist nicht nur eine mögliche Beschreibung der Zuschauerposition im Kino gegeben, sondern auch die Grundsituation von Alfred Hitchcocks Rear Window (US 1954, Das Fenster zum Hof) skizziert.6 Dieser Film ist ein Testfall der Filmtheorie, weil er die grundlegende Betrachtersituation des klassischen Kinos figurativ nachstellt: Der Fotograf L.B. Jefferies (James Stewart) sitzt nach einem Unfall mit einem Gipsbein in seiner Wohnung im Rollstuhl; ein Fernglas sowie das Teleobjektiv seiner Fotokamera ermöglichen ihm, zwischen einer Totalen des Hinterhofs, zu dem sich seine Wohnung öffnet, und Naheinstellungen der einzelnen Apartments mit ihren Bewohnern zu wechseln. Rear Window inszeniert zwei grundlegende Eigenschaften des Kinos, die die Filmtheorie unter den Metaphern des Fensters und des Rahmens erörtert hat: Zum einen nimmt Jefferies als Zuschauer und (im eingeschränkten Maße) als Zuhörer eine scheinbar privilegierte Perspektive ein, zum anderen hat er eine Distanz zum Geschehen. Was die in der Einleitung formulierte Frage angeht – ist der Film, bezogen auf den Zuschauer, »außen« oder »innen«? – gibt Rear Window eine klare Antwort: Solange Jefferies seine distanzierte Betrachterperspektive beibehält, kann das Geschehen ihm nichts anhaben. Erst als er – oder vielmehr seine Freundin Lisa Carol Fremont (Grace Kelly) – die Schwelle zur beobachteten Welt überschreitet, wird die Welt »da draußen« auch für ihn »hier drinnen« gefährlich. Doch ist es nicht allein die Betonung der reinen Sichtbarkeit und Distanz, durch die Rear Window seinen theoretischen Resonanzraum gewinnt: »Der Titel Fenster zum Hof beschwört, neben der Buchstäblichkeit seiner Denotation, die unterschiedlichen ›Fenster‹ des Kinos: die Linse von Kamera und Projektor, das Fenster des Vorführraums, das Auge als Fenster und Film als Fenster zur Welt.«7 Damit ist eine Reihe von Motiven der ersten »Seinsweise« des Kinos genannt, die wir im Folgenden entfalten und vertiefen wollen.

Wie sich in diesem Kapitel zeigen wird, weisen die Konzepte des Fensters und des Rahmens eine Schnittmenge, aber auch bedeutsame Unterschiede auf. Betrachten wir zunächst die Gemeinsamkeiten: Erstens bietet das Kino sowohl als Fenster wie als Rahmen einen besonderen, auf das Auge zentrierten Zugang zu einem (fiktionalen) Geschehen an – ein (in der Regel) rechteckiger Durchblick, der der visuellen Neugierde des Zuschauers entgegenzukommen scheint. Zweitens verwandelt sich die (reale) zweidimensionale Bildfläche im Akt des Betrachtens in einen (imaginären) dreidimensionalen Raum, der sich jenseits der Leinwand als Bildausschnitt eröffnet. Und drittens gestattet die Distanz, die tatsächliche und metaphorische Entferntheit von den Vorgängen im Film, dem Zuschauer im Kino ein sicheres Betrachten, ein Gefühl, das durch die schützende Dunkelheit des Kinosaals noch befördert wird. Der Zuschauer ist vom Filmgeschehen vollkommen abgeschnitten und muss nicht befürchten, in die Handlung einbezogen zu werden (wie etwa im modernen Theater). Auch sieht er sich nicht aus moralischen Gründen genötigt einzugreifen (wie im realen Leben). Kurz gesagt: In der Konzeption vom Kino als Fenster/Rahmen ist das Kino okularspekular (also durch den optischen Zugang bestimmt), transitiv (etwas wird betrachtet) und entkörperlicht (der Zuschauer besitzt eine sichere Distanz und kommt mit dem Geschehen nicht in Berührung, sein Körper hat neben seinem Augensinn keinen Anteil am Akt der Filmbetrachtung).

Zwar kommen beide Konzepte im Kompositum »Fensterrahmen« zusammen, zugleich deuten die Metaphern jedoch auf unterschiedliche Qualitäten: Man schaut durch ein Fenster, aber man schaut auf einen Rahmen. Die Vorstellung des Fensters impliziert, dass man das gerahmte Viereck, durch das man hindurchsieht, aus dem Blick verliert, während der Rahmen sowohl auf den Inhalt der (undurchsichtigen) Bildfläche, dessen konstrukthaften Charakter, wie auf sich selbst verweist. Das Fenster steht im Zeichen der Transparenz, während man für den Rahmen den Begriff der Komposition stark machen könnte. Wo das Fenster die Aufmerksamkeit auf ein dahinter oder jenseits Liegendes lenkt, ja im Idealfall die trennende Glasscheibe in der Vorstellung ganz verschwinden lässt, lenkt der Rahmen – man denke an klassische Bilderrahmen, ihre Ornamentik und Opulenz, ihre Auffälligkeit und ihren ostentativen Zeigegestus – die Aufmerksamkeit auf den Artefaktstatus und den Bildträger als solchen. Im einen Extremfall bringt das Fenster sich als Medium völlig zum Verschwinden und macht sich unsichtbar, im anderen dagegen lässt der Rahmen nur noch das Medium in seiner Verfasstheit sehen.

Situiert man Rahmen und Fenster historisch – beide Metaphern haben in der Filmtheorie eine lange Geschichte –, so werden die Unterschiede noch augenfälliger. Traditionell korrespondiert der Rahmen mit solchen Filmtheorien, die als konstruktivistisch bezeichnet werden, während das Fenster-Modell meist in realistischen Theorien Verwendung gefunden hat. Lange Zeit wurde die Unterscheidung von konstruktivistisch (oder formalistisch, formgebend) und realistisch (oder mimetisch, phänomenologisch) als grundlegende Differenz innerhalb der Filmtheorie angesehen – Siegfried Kracauer war hier sicher stilbildend, weil er in seiner Theorie des Films diese Entgegensetzung stark in den Vordergrund gerückt hatte.8 Auf der einen Seite stehen in einer solchen Klassifikation Béla Balázs, Rudolf Arnheim und die russischen Montagetheoretiker, auf der anderen André Bazin und Siegfried Kracauer. Die erste Gruppe stellt die Konstruktion einer eigenen Filmwelt durch Abweichung von und Veränderung der realen Welt in den Mittelpunkt, etwa durch Montage und Bildgestaltung, oder, wie vor allem Arnheim, durch die Abwesenheit von Farbe und Sprache im Stummfilm. Die zweite Gruppe erkennt als eigentliches Wesen des Films dessen Möglichkeit zur Aufzeichnung und Wiedergabe der Realität und fürs bloße menschliche Auge nicht wahrnehmbarer Phänomene und Momente.

Gemeinsam ist beiden Richtungen indes, dass sie darauf abzielen, den Film kulturell aufzuwerten, ihn in das Konzert der etablierten Künste einzuführen. Dabei leistet die Idee des Fensters oder Rahmens hilfreiche Dienste, denn historisch antwortet sie auf einen Minderwertigkeitskomplex des Films gegenüber seinen älteren und distinguierteren Geschwistern Theater und Malerei, die auf der Vorstellung eines Betrachters beruhen, der eine Distanz zum Geschehen besitzt. Um so rezipieren zu können, wie es seit der Renaissance einem bürgerlichen Bildungsideal entspricht: individualisiert und kontemplierend ins Werk vertieft, und eben nicht kollektiv und zerstreut wie in der Frühzeit des Kinos, bedarf es der Distanz und damit der Rahmung. Davon wird noch die Rede sein, hier nur so viel: Die Wahrnehmung ist sowohl für die Konstruktivisten wie für die Realisten auf das Sehen ausgerichtet, die ablaufenden Prozesse werden als streng logisch konzeptualisiert, und die rationale Verarbeitung von Informationen wird als Ziel angestrebt. Insofern ist die implizite Vorstellung des Verhältnisses vom Zuschauer zum Film bei Balázs und Bazin, bei Arnheim und Kracauer ähnlich.9

Eine weitere Gemeinsamkeit von Fenster- und Rahmenmetapher hat Charles F. Altman auf den Punkt gebracht: »Auch wenn die Metaphern von Fenster und Rahmen diametral entgegengesetzt erscheinen, so teilen sie doch die Annahme, dass die Leinwand grundlegend unabhängig von den Prozessen der Produktion und Rezeption ist.«10 Beide Modelle, Rahmen wie Fenster, setzen das Bild als gegeben voraus und konzentrieren den Betrachter auf das Werk und seine Strukturen, die in ihrer Ganzheit und (vermeintlichen) Kohärenz ins Blickfeld genommen werden sollen. Darüber vernachlässigen sie solche eher heterogenen und womöglich auch in sich widersprüchlichen Operationen wie Produktion und Rezeption. Der derart konstruierte Betrachter ist also nicht nur weitgehend körperlos, sondern darüber hinaus auch ein idealtypisches Konstrukt der Theorie. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird noch deutlicher werden, inwiefern Fenster und Rahmen verwandte Vorstellungen der Seinsweise des (Zuschauers im) Kino(s) sind.

Mit der Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Filmformen lässt sich der Blick auf das Kino als Fenster/Rahmen noch weiter schärfen. Mit geschlossener Form meinen wir, im Anschluss an Leo Braudy11, solche Filme, die keine anderen Elemente enthalten als jene, die absolut notwendig sind: Georges Méliès’ Filme aus der Frühzeit des Kinos, die konsequent filmische Techniken und Tricks...