Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung

von: Juliane Rebentisch

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960601036 , 247 Seiten

Format: ePUB

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Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung


 

I. Entgrenzung und Erfahrung


Während sich für die in den letzten fünfzig Jahren zu verzeichnenden Entwicklungen hin zu intermedialen und offenen Werken der Begriff der Entgrenzung durchgesetzt hat, ist in der ästhetischen Theorie nach 1970, besonders in der deutschsprachigen philosophischen Ästhetik, parallel dazu noch ein anderer Begriff wichtig geworden: der der Erfahrung. Hierzulande standen denn auch beide Begriffe – Entgrenzung und Erfahrung – in den letzten Jahren im Zentrum kunsttheoretischer Debatten um das Verständnis der Gegenwartskunst.1 Zwar mag die Zentralstellung dieser beiden spezifischen Begriffe besonders die deutschsprachige Diskussion charakterisieren; doch werden unter ihrer Überschrift Motive und Probleme verhandelt, die von so grundsätzlicher Natur sind, dass sich auch die internationale Diskussion auf sie beziehen lässt.

Nun konzentriert sich der eine der beiden Begriffe, der der Entgrenzung, eher produktionsästhetisch auf die neuartigen Formen, die die Kunst seit den 1960er Jahren annimmt, während der andere, der der Erfahrung, eher rezeptionsästhetisch die Wirkungen fokussiert, die von der Kunst ausgehen. Weil die beiden Begriffe nicht auf dieselben Problemfelder antworten, werden sie in den beiden folgenden Abschnitten auch zunächst getrennt voneinander diskutiert. Gleichwohl aber wird sich zeigen, dass beide Diskussionen auch aufeinander verweisen. So ist der Begriff der Erfahrung nicht zuletzt in Reaktion auf die durch die Entgrenzungstendenzen in der Kunst ausgelöste Krise des Werkbegriffs zum Schlüsselbegriff ästhetischer Theoriebildung geworden. Diese kunstpraktischen Entwicklungen sind, wie wir sehen werden, zwar nicht der einzige, aber immerhin doch ein prominenter Grund für die Theorie, die Spezifik des Ästhetischen überhaupt nicht mehr in bestimmten Objekteigenschaften, also nicht mehr im objektivierbaren Werk aufzusuchen. Stattdessen wird begrifflich von Werk auf Erfahrung umgestellt, das heißt, die Spezifik des Ästhetischen wird nun in einem besonderen Verhältnis zwischen interpretierendem Subjekt und wesentlich bedeutungsoffenem Objekt ausgemacht. Dadurch wird die Idee eines objektiv gegebenen Werks in einer Weise unterlaufen, dass die explizit offenen Werkformen nun geradezu als Paradigma des Ästhetischen erscheinen. Die enge Verzahnung der Diskussionen zeigt sich aber nicht nur daran, dass sich die Umstellung ästhetischer Theoriebildung auf den Begriff der Erfahrung durchaus als Antwort auf die Entgrenzungstendenzen in der Kunst verstehen lässt. Vielmehr wird der Zusammenhang von Entgrenzung und Erfahrung auch im Blick auf die Kunstpraxis selbst evident. Im näheren Blick auf die offenen Werkformen zeigt sich nämlich, dass diese gar nicht unabhängig von der Instanz ihrer Erfahrung – von den Subjekten, die sich interpetierend auf sie beziehen – gedacht werden können. Zu ihrer vollen Entfaltung bedürfen die offenen Werke ganz ausdrücklich des interpretierenden Engagements, wenn nicht gar ganz handgreiflicher Interventionen vonseiten derer, die sich auf sie einlassen. Wir haben es hier mit Werken zu tun, die, anders als die selbstgenügsam in sich geschlossenen Werke, bereits ihrer Form nach mit ihren, wenn nicht sogar auf ihre Interpreten rechnen. In der offenen Form neuerer Kunst manifestiert sich die aktive Rolle, die den Interpreten bei der Konstitution des Werks als Werk zukommt: Es wird erst durch sein Interpretiertwerden ins Werk gesetzt.

Anhand von zwei besonders einflussreichen Texten – Umberto Ecos »Die Poetik des offenen Kunstwerks«2 (Abschnitt 1) und Rüdiger Bubners für die erfahrungstheoretische Wende in der philosophischen Ästhetik bahnbrechendem Aufsatz »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«3 (Abschnitt 2) – soll dieser Zusammenhang nun weiter erhellt werden. Zwar konzentrierte sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der erfahrungstheoretischen Diskussion, die in der Philosophie im Anschluss an Bubner geführt worden ist, auf die Frage, wie die Struktur der ästhetischen Erfahrung näher zu fassen sei, so dass die kunsttheoretische Frage nach dem Gegenstand dieser Erfahrung zwischenzeitlich so weit in den Hintergrund rückte, dass sich der Eindruck der Kunstfremdheit der entsprechenden Diskussion ebenso nahelegen konnte wie die falsche Alternative zwischen »Rezeptions-« und »Produktionsästhetik«. Doch weisen gerade die beiden Klassiker der philosophischen Diskussion in ihrer Komplementarität – Umberto Ecos Opera Aperta wurde 1962 erstpubliziert, Bubners »Über einige Bedingungen« 1973 – auf einen engen Verweisungszusammenhang zwischen kunst- und erfahrungstheoretischen Überlegungen hin, der für die Theorie der Gegenwartskunst auch dort noch instruktiv ist, wo man sich nicht explizit auf diese Texte bezieht.

1.Das offene Kunstwerk


Was ist ein offenes Kunstwerk? Der Ausdruck, so gibt Umberto Eco selbst zu bedenken, ist unscharf (Eco, 30). In gewisser Hinsicht nämlich könne jedes Kunstwerk offen genannt werden. Denn auch das organische, das formal in sich geschlossene Kunstwerk kann aus unendlich vielen Perspektiven gesehen und aufgefasst werden, ohne doch dadurch aufzuhören, es selbst zu sein. Und gemeinhin halten wir eben dies für eine besondere Qualität von Kunstwerken. Jedoch sind die künstlerischen Produktionen, die Eco Anfang der 1960er Jahre beschreiben will, offen in einem sehr viel konkreteren Sinn. Sie erscheinen wie »›nicht fertige‹ Werke, die der Künstler dem Interpreten mehr oder weniger wie die Teile eines Zusammensetzspiels in die Hand gibt, scheinbar uninteressiert, was dabei herauskommen wird« (30f.). Ein Kunstwerk ist in der diagnostischen Lesart also dann offen zu nennen, wenn es sich erst durch die Intervention eines Interpreten konkret realisiert. So bleibt es etwa, das ist eines von Ecos Beispielen (vgl. 27), dem jeweiligen Interpreten von Karlheinz stockhausens Klavierstück XI überlassen, in welcher Reihenfolge er die musikalischen Phrasen montiert, die auf einem einzigen großen Blatt derart angeordnet sind, dass sich kein Hinweis auf ihre korrekte Abfolge entnehmen lässt. Denkt man jedoch an grafische Notationen, wie sie von Leuten wie Earle Browne (Four Systems), Roman Haubenstock-Ramati (Graphic Music) oder Cornelius Cardew (Treatise) entwickelt worden sind, erscheint Stockhausens Klavierstück XI noch vergleichsweise wenig offen. Während dieses dem Interpreten lediglich die Entscheidung über die Reihenfolge der ansonsten traditionell notierten und also weitgehend festgelegten Phrasen überlässt, bleibt in jenen sogar noch die Gestalt der Phrasen selbst zu interpretieren. Durch solche – grafischen – Formen der Notation wird die »Zone der Unbestimmtheit«4, die immer zwischen dem musikalischen Werk als (Vor-)Schrift und seiner Interpretation in der Aufführung besteht, radikal ausgedehnt, und zwar bis hin zu dem Punkt, an dem die Notation gerade nicht mehr leisten kann und soll, was nach Nelson Goodman doch ihre primäre Funktion ist: ein Werk von Aufführung zu Aufführung identifizierbar zu halten.5 Stattdessen gewinnt das Werk Gestalt erst durch die Interpretation, und das heißt: Es realisiert sich immer wieder neu, und zwar stets singulär, in der Relation zwischen offener (grafischer) Notation und konkreter Interpretation. So existieren von Cardews Treatise beispielsweise sehr verschiedene Aufnahmen, von denen keine auch nur ansatzweise etwas mit den anderen zu tun zu haben scheint.

So sehr also beide Redeweisen zu unterscheiden sind – die systematisch-metaphorische Rede von der Offenheit des Kunstwerks im Sinne seiner generellen Bedeutungsoffenheit und die diagnostisch-buchstäbliche Rede von der Offenheit des neueren Kunstwerks im Sinne seiner konkreten Unvollendetheit –, so sehr ist auf der anderen Seite jedoch ernst zu nehmen, dass beide Redeweisen durchaus auch in einem Zusammenhang miteinander stehen. Schließlich, so Eco, wird die Instanz des Interpreten als signifikanter Faktor im Leben eines Kunstwerks in beiden Verständnissen anerkannt. Auch die Rede von der Bedeutungsoffenheit des Kunstwerks impliziert nämlich bereits eine entwickelte Sensibilität für den Umstand, dass ein Kunstwerk nicht nur eines Schöpfers bedarf, der es hervorbringt, sondern auch fortgesetzter Akte kongenialer Interpretation, die es immer wieder neu erschließen und so in der Geschichte seiner Rezeption lebendig halten.

Die neueren offenen Kunstwerke machen daher nach Eco in gewisser Hinsicht bloß explizit, was bereits auch für die geschlossenen galt. Jedes Kunstwerk, ob formal geschlossen oder nicht, fordert »eine freie und schöpferische Antwort« (31) von seinem Publikum. Denn nur die Interpretationsleistungen seiner Betrachter, Hörer oder Leser können es schließlich beleben und in seinen ästhetischen Qualitäten freisetzen. Mit den explizit offenen Kunstwerken tritt das Bewusstsein von der konstitutiven Funktion der interpretierenden Subjektivität für das Sein der Werke allerdings nachdrücklich in diese selbst ein. Es wird zum...