Georg Wilhelm Friedrich Hegel

von: Herbert Schnädelbach

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960601050 , 190 Seiten

Format: ePUB

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel


 

2. Zum Begriff der Spekulation


Was ist an Hegels Grundfigur »spekulativ«? Spekulation findet heute nur noch am Grundstücksmarkt oder an der Börse statt, und doch meinte dieses Wort einmal die höchste dem Menschen mögliche Erkenntnisweise. Der buchstäbliche Wortsinn von »Spekulation« (lat. speculor – erspähen, auskundschaften) wird in der Philosophensprache der platonisch-augustinischen Tradition auf das »Auge des Geistes« bezogen, mit dem wir angeblich befähigt sind, jenseits der Welt der sinnlichen Erfahrung das wahre Seiende, die Ideen oder Gott zu erfassen. Zu Hegels Zeit wird das Wort »Spekulation« fast durchgängig kritisch verwendet, woran Kants vernichtende Kritik der spekulativen Metaphysik einen wichtigen Anteil hat; daß sich Hegel gemeinsam mit Schelling zu einem positiven Begriff der Spekulation bekennt, unterstreicht sein Programm, nach Kant die Metaphysik zu rehabilitieren und sie den Menschen zurückzugeben.11 Daß der gesunde Menschenverstand die Spekulation ablehnt, ja sogar fürchtet und haßt, hat für Hegel nichts Erstaunliches, und er gibt in der DS sogar eine Erklärung: »Die Spekulation versteht […] den gesunden Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Tun der Spekulation. Die Spekulation anerkennt als Realität der Erkenntnis nur das Sein der Erkenntnis in der Totalität; alles Bestimmte hat für sie nur Realität und Wahrheit in der erkannten Beziehung aufs Absolute. Sie erkennt deswegen auch das Absolute in demjenigen, was den Aussprüchen des gesunden Menschenverstandes zum Grunde liegt; aber weil für sie die Erkenntnis nur, insofern sie im Absoluten ist, Realität hat, ist vor ihr das Erkannte und Gewußte, wie es für die Reflexion ausgesprochen ist und dadurch eine bestimmte Form hat, zugleich vernichtet.« (2, 31) Dieses »Vernichten« erfährt der gesunde Menschenverstand als die Aufhebung all dessen, was er in seinen Reflexionen – d.h. in seinen Bestimmungen mittels abstrakter Begriffe – fixiert hat, weil es durch den spekulativen Bezug aufs Absolute seine fixe Bestimmtheit verliert: »Die relativen Identitäten des gesunden Menschenverstands, die ganz, wie sie erscheinen, in ihrer beschränkten Form auf Absolutheit Anspruch machen, werden Zufälligkeiten für die philosophische Reflexion. Der gesunde Menschenverstand kann es nicht fassen, wie das für ihn unmittelbar Gewisse für die Philosophie zugleich ein Nichts ist […].« (2, 31 f.) Hegel hat dafür später die schöne Metapher der »Verflüssigung« verwendet; in der Tat sind Widerstand und panische Angst zu erwarten, wenn alles in Fluß gerät. »Spekulation« muß der »Reflexionsphilosophie«, wie Schelling und Hegel die Position ihrer Gegnerschaft bezeichnen (vgl. 2, 287 ff.), notwendig als Vernichtung der Vernunft selbst erscheinen, und gleichwohl nennt Hegel »diese Nacht der bloßen Reflexion und des räsonierenden Verstandes« den »Mittag des Lebens« (2, 35).

Daß die Spekulation die bloße Reflexion vernichtet, ist hier nicht nur psychologisch zu verstehen; der Anschein der blanken Irrationalität hat logische Gründe. Hegel versucht schon in der DS zu zeigen, daß das Ganze, die Totalität, das Absolute, wenn es wirklich konkret, d.h. in seiner ganzen Wahrheit gedacht werden soll – und nichts anderes ist mit »Spekulation« gemeint – gar nicht anders als in sich widersprüchlich gedacht werden kann: als Antinomie. Er demonstriert dies wie folgt: »Soll das Prinzip der Philosophie in formalen Sätzen für die Reflexion ausgesprochen werden, so ist zunächst als Gegenstand dieser Aufgabe nichts vorhanden als das Wissen, im allgemeinen die Synthese des Subjektiven und Objektiven, oder das absolute Denken. Die Reflexion aber vermag nicht die absolute Synthese in einem Satz auszudrücken, wenn nämlich dieser Satz als ein eigentlicher Satz für den Verstand gelten soll; sie muß, was in der absoluten Identität eins ist, trennen und die Synthese und die Antithese getrennt, in zwei Sätzen, in einem die Identität, im andern die Entzweiung ausdrücken.« (2, 37) Der reflektierende oder »räsonierende« Verstand muß nach Hegel in der formalen Beschreibung des Wissens als »Synthese des Subjektiven und Objektiven« zugleich die Identität (A = A) und die Nichtidentität (A = B) von beidem behaupten; damit aber hat er sich in eine Antinomie verstrickt. Als Ausweg kann er dann nur noch entweder die Nichtidentität und damit das Phänomen des Wissens leugnen oder darauf verzichten, das wahre Ganze des Wissens zu denken. So behauptet Hegel: »Wenn man bloß auf das Formelle der Spekulation reflektiert und die Synthese des Wissens in analytischer Form festhält, so ist die Antinomie […] der höchste formelle Ausdruck des Wissens und der Wahrheit.« (2, 39)

Später heißt es: »Einem solchen analytischen Wesen liegt das Bewußtsein nicht zum Grunde, daß die rein formale Erscheinung des Absoluten der Widerspruch ist.« (2, 41) Die Spekulation ist somit bestimmt als ein Denken des Absoluten, das der damit notwendig verbundenen Erfahrung der Antinomie standhält und sich vor ihr nicht in die vermeintlichen Sicherheiten des reflektierenden Verstandes flüchtet. Das Vermögen der Spekulation in diesem Sinne nennen Schelling und Hegel gemeinsam »Vernunft« im Unterschied zum bloßen Verstand, und weil der den Widerspruch als irrational aus sich ausschließen muß, kann ihm die spekulative Vernunft gar nicht anders denn als reine Irrationalität erscheinen. Für die Spekulation in diesem Sinne haben Schelling und Hegel später den alten Begriff der Dialektik neu geprägt, und dies mit sehr verschiedener Akzentuierung.12 Wichtig ist hier nur: Wenn man immer wieder von der Irrationalität der Hegelschen Dialektik gesprochen hat – sei es kritisch oder sogar anerkennend13 –, so wäre dies für Hegel selbst nichts Neues gewesen, weil er diese Deutung selbst schon kannte und sogar eine Erklärung dafür besaß.

Hegels und Schellings Wege sollten sich freilich an der Stelle philosophisch und auch persönlich trennen, wo es darum ging, die in der Perspektive des »abstrakten« Verstandes irrationale Spekulation nun selber rational zu bestimmen. In der DS vertrat Hegel noch die Lehre Schellings von der intellektuellen Anschauung; dabei argumentierte er wie folgt: In der Perspektive des Verstandes muß das Absolute, d.h. die absolute Identität des Subjektiven und Objektiven, in Gestalt von Antinomien erscheinen; die Vernunft hingegen als das Vermögen der Spekulation erfaßt in dieser »Nacht des Verstandes« zugleich die Identität des in der Antinomie Entgegengesetzten, und zwar als nichtempirische, intellektuelle oder transzendentale Anschauung: »Dadurch, daß die Anschauung transzendental wird, tritt die Identität des Subjektiven und Objektiven, welche in der empirischen Anschauung getrennt sind, ins Bewußtsein […]. Das Produzieren des Bewußtseins dieser Identität ist die Spekulation, und weil Idealität und Realität in ihr eins sind, ist sie Anschauung.« (2,42 f.)

Wenige Jahre später, in der Phänomenologie des Geistes (PhG) von 1807, geißelt Hegel die intellektuelle Anschauung als philosophischen Obskurantismus und kränkt damit seinen langjährigen Freund und Weggenossen zutiefst. Hat Hegel in der DS selbst geschrieben: »In der transzendentalen Anschauung ist alle Entgegensetzung aufgehoben, aller Unterschied der Konstruktion des Universums durch und für die Intelligenz und seiner als ein Objektives angeschauten, unabhängig erscheinenden Organisation vernichtet« (2, 43), so nennt er in der nachgeschriebenen Vorrede zur PhG das Resultat dieser »Vernichtung«, das er in der DS selbst als »Nacht der bloßen Reflexion und des räsonierenden Verstandes« (2, 35) bezeichnet hat, nunmehr ganz verächtlich die »Nacht, in der alle Kühe schwarz sind« (3, 22). Wichtig ist, daß sich Hegel mit seiner neuen Fassung des Spekulationsbegriffs ganz von der platonischen Prägung durch die Metaphorik des Gesichtssinnes abwendet und die Idee des spekulativen Denkens von allen Assoziationen des »geistigen Auges«, des Schauens und Erblickens reinigt. Man kann sagen, daß Hegel hier von Schelling zu Kant zurückkehrt, der energisch bestritten hatte, unser Denken könnte in irgendeinem Sinne anschauend sein14; auch der damit verbundenen Polemik gegen den neumodischen, vornehm tuenden Platonismus derer, die sich die Genialität geistiger Intuition ohne begriffliche Arbeit zugute halten, hat sich Hegel später wieder ausdrücklich angeschlossen.15 Hegel bemühte sich seitdem, die philosophische Spekulation als ein durch und durch rationales Geschäft darzustellen und die spekulative Grundfigur als eine des Denkens und nicht einer irgendwie gearteten Anschauung zu erweisen; die WL ist nichts anderes als Hegels Durchführung dieses Vorhabens.

Das erste Dokument dieser »Logifizierung« der Spekulation ist der Text...