Kulturphilosophie zur Einführung

von: Ralf Konersmann

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960601074 , 176 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 12,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Kulturphilosophie zur Einführung


 

1. Humanisierung der Welt


Was Kultur ist, ist oft gesagt und geschrieben worden. Die Definitionen sind ohne Zahl. Hinzu kommen die Erwiderungen – sei es in Form prompter Einsprüche, sei es in Form einer allmählichen Ablösung durch Varianten und terminologische Ersatzlösungen. Seit er in der Welt ist, also spätestens seit den Tagen des Marcus Tullius Cicero, ist der Kulturbegriff umstritten. Vor einem halben Jahrhundert war schließlich der Punkt erreicht, an dem die Übersicht über die bis dahin aufgelaufenen Definitionen in Philosophie und Wissenschaft ein ganzes Buch ergab.1 In der Zwischenzeit sind weitere Bestimmungen hinzugekommen – so viele, daß sich damit ein zweiter, ähnlich angelegter Band mühelos zusammenstellen ließe.

Kulturbegrifflichkeiten


Nun muß man vor der Überfülle der Konzepte und Konzeptionen nicht kapitulieren. Das gilt im allgemeinen – denn welchem Begriff wäre es jemals vergönnt gewesen, die Umstände der Kontingenz abzustreifen und endgültige Gestalt zu erlangen? Das gilt aber ebenfalls, und zwar in besonderer Weise, für den Begriff der Kultur. Gerade die Dauerhaftigkeit des Bemühens um eine gültige Begriffsbestimmung ist ein Indiz dafür, daß die Schwierigkeiten weniger auf die Methoden des Zugriffs und deren Ungenügen zurückzuführen sind als auf den Sachverhalt selbst, auf seine Komplexität, auf seine Vielgestaltigkeit und spezielle Gegebenheitsweise. Was immer Kultur sein und im einzelnen ausmachen mag – sie entzieht sich der Bestimmtheit einer erschöpfenden Definition. Kein Phänomen, keine Institution gibt von sich aus zu erkennen, was Kultur im emphatischen Sinn des Wortes eigentlich ist.

Die Ausgangssituation ist somit weniger beklagenswert als aufschlußreich. Der Reichtum der bedeutungsgeschichtlichen Bestände verweist auf den Sachverhalt, daß ein zeitloses, dem Wandel der Bedeutung entzogenes System der Begriffe allenfalls als regulative Idee existiert und daß auch Begriffe ihre zeiträumlichen Kontexte haben, in denen sie zur Entfaltung kommen. Eine solche Ausgangssituation verlangt nach wohlerwogenem Sprachgebrauch. Dabei zeigt sich, daß der Kulturbegriff sowenig als ein allgemeiner Begriff zu gelten hat wie, Kant zufolge, die Zeit.2 Gerade weil das Kulturkonzept die verfügbaren Anschaulichkeiten nicht erschöpft und diese ihrer Idee nach immer schon mehr fordern, als er zu geben vermag, sprengt die Totalität dessen, was wir Kultur nennen, die Grenzen der begrifflichen Form.

Kultur ist weder Grundbegriff noch Prinzip; der Kulturbegriff gehört vielmehr in die offene Klasse der philosophischen – und philosophisch besonders interessanten – Problemdenkmäler. Von diesen aber ist zu sagen, daß bei ihnen nur das wenigste, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn des Wortes, feststeht. Stets muß die Kultur von neuem und aus sich selbst heraus aktualisiert werden, denn sie hat, wie Walter Benjamin die charakteristische Gegebenheitsweise des Kulturellen pointiert, keine Geschichte.3 So etwas wie »die Kultur« gibt es gar nicht. Es gibt nur diese Fülle von Ereignissen und Manifestationen, diese Masse von Hinterlassenschaften und Verweisen, diese vielfältigen, in Worten, Gesten, Werken, Regeln, Techniken niedergelegten Formen menschlicher Intelligenz und Weltbearbeitung – das also, was als kulturelie Tatsache manifest wird. Aus dieser Vielfalt menschlicher Praxis und Produktion geht die Kultur als der provisorische und in unablässiger Bewegung begriffene Mentalitäts- und Handlungszusammenhang, als der offene Kommunikationsraum hervor, der sie ist.

Kultur also ist Praxis und wird, gleichsam von Augenblick zu Augenblick, gemacht. Dies ist der Grund, weshalb zahlreiche Wissenschaften und Institutionen – Religion, Kunst, Philosophie, dazu die neu formierten Kulturwissenschaften4 und die Medien, überdies Bildungseinrichtungen, Bibliotheken, Museen, Archive – professionell damit befaßt sind, das prekäre Gefüge der Kultur zu analysieren und deren Zeugnisse nach erprobtem Muster zusammenzutragen, aufzubereiten und verfügbar zu halten. Gemeinsam bilden diese Institutionen eine eigene Ebene der Kultur, die Ebene der Reflexion, von der aus die Kultur auf sich selbst blickt und sich reproduziert.

Entscheidend und spezifisch kulturell ist die dabei eingenommene Perspektive, ist die Betrachtung von Tatsachen (faits) als Kulturtatsachen (faits culturels), wobei als Faustformel gilt: Kulturtatsachen haben Bedeutung, Tatsachen, für sich genommen, haben keine. Wiederum mit Kant gilt es zu unterscheiden zwischen dem offenkundigen Bestand des Faktischen, das heißt »der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes« im Hinblick darauf, was er »an sich« ist, und der relationalen, der praktischen Bestimmung des Gegenstandes, »was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll«5. Die Heuristik dieser Unterscheidung gibt der Perspektive, die auf diesen Seiten zu entfalten ist, Prägnanz: Kulturphilosophie ist, im Sinne der Unterscheidung Kants, eine praktische Disziplin. Sie nimmt die Gegenstände wahr, als ob sie eine Aussage zu machen hätten, als ob sie ein Dokument wären oder eine Feststellung träfen. Das ist nur folgerichtig, funktioniert doch das gesamte Feld der Kultur nach diesem Modell: nach dem Modell der Übertragung, und das heißt: der Metapher. Metaphern stellen Verbindungen her zwischen hüben und drüben, zwischen unterschiedlichen und in ihrer Unterschiedlichkeit belassenen Kontexten. Das Nebeneinander und Zugleich von Trennung und Verbindung, von Kontextbestätigung und Kontextstörung sichert die Funktionalität der Metapher. Diese ergibt sich aus ihrem Appellcharakter. Metaphern – damit sind sie exemplarisch für alle Kulturtatsachen – sind sinnvoll und praktikabel nur da, wo sich jemand etwas dabei denkt.6

So auch die Kultur. Die Welt der Gegenstände, die wir meinen, wenn wir von Kultur sprechen: die Fragen der Ethnologie, die Gegenstände des Feuilletons oder die bevorzugten Themen der Kulturpolitik, bilden die Schauseite jenes Übergreifenden, in dem wir das Ganze, als solches jedoch niemals Faßbare der Kultur erkennen müssen. Alle Kreativität, alle Anstrengungen und Mühen der Kultur sind vergebens, wenn sie nicht als Elemente des menschlichen Handelns und Weltbegreifens verstanden, und das heißt: wenn sie nicht rezeptiv bestätigt, wenn sie nicht aufgenommen und fortgeführt werden. Kultur ist wie eine bestimmte Klangwelt, die virtuell bereitliegt; doch um sie selbst zu werden, um also Kultur nicht nur vorzuhalten, sondern auch zu sein, muß eine Melodie erklingen, welche die Möglichkeiten jener Klangwelt verwirklicht, und es müssen Hörer zugegen sein, denen diese Klänge etwas sagen – Hörer, die in den Variationen, die sie als solche wahrgenommen haben, das Thema erkennen, und die in der Lage sind, die Reihe der akustischen Augenblicke als melodische, zum Beispiel liedhafte Einheit aufzufassen und zu aktualisieren.

Entsprechendes gilt für alle Formen und Fälle der Kultur. Wie die Metapher findet sich das Kulturelle dort, wo etwas über sich hinausweist, um vorzustellen, was es selbst nicht ist. In dieser Differenz wurzeln die Potentiale der relativen Bedeutsamkeit – die Potentiale dessen also, was uns etwas angeht. Bedeutsamkeit ist nichts anderes als die materiale Bedingung lebendiger Erfahrung. Ihre Bedeutsamkeit macht aus einer Tatsache eine Kulturtatsache, ein fait culturel, und erregt das Bedürfnis nach Interpretation. Ohne Interpretation, und das heißt: ohne Wahrnehmung, Aktualisierung, Deutung und Kritik, ohne die Institutionen der Bildung, keine Kultur.

Was Vladimir Jankélévitch von der Ironie sagt, gilt für die Kultur insgesamt: Sie will nicht geglaubt, sie will verstanden sein.7So liegt schon in der Art ihrer Präsentation ein Umweg, den jede Hervorbringung, aber auch jede Wahrnehmung von Kultur nachvollziehen und in ihrer ganzen Länge abschreiten muß, um das Kulturelle in des Wortes mehrfacher Bedeutung zu realisieren. Nichts anderes als dieser Parcours bestimmt die Wege der Interpretation. Allerdings gilt es hier, die Begriffe besonders sorgfältig zu wägen. Die außerhalb der Hermeneutik verbreitete Vorstellung, beim Interpretieren handele es sich um ein Aufspüren von etwas an verborgener Stelle Hinterlegtem, das fix und fertig sei und nur noch seiner Freilegung harre, muß aufgegeben werden. Interpretationen sind keine Enthüllungen im Wortsinne. Ihre Befunde lüften keine Weltgeheimnisse, und sie führen auch nicht zu verschütteten Ursprüngen. Dürfte mit derlei Offenbarungen gerechnet werden, die uns mit einem Mal das wahre Gesicht der Welt enthüllen, wäre die Praxis der Interpretation begrenzt und wir wären – wie übrigens die Denker der Frühen Neuzeit auch wirklich erwartet haben8 – bald damit zu Ende.

Aber diese Erwartung ist, wie wir inzwischen haben einsehen müssen, illusorisch. Interpretationen dienen...