Medizinphilosophie zur Einführung

von: Cornelius Borck

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960601104 , 228 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 12,99 EUR

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Medizinphilosophie zur Einführung


 

1. Einleitung


Gesundheit und Kranksein bilden einen asymmetrischen Gegensatz. Die Adjektive gesund und krank lassen sich im Deutschen sowohl als Gegenstand als auch als Zustand zum Substantiv machen: Gesundheit/Gesundsein, Krankheit/Kranksein. Das Wortpaar Krankheit/Kranksein bildet in etwa ab, was im Englischen als disease und illness unterschieden wird, die objektivierte, meist medizinisch definierte Krankheit im Unterschied zur individuellen, kulturell überformten Erfahrungswirklichkeit des Krankseins. Aus ihrem Kranksein heraus suchen Patientinnen und Patienten ärztliche Hilfe, die das individuelle Kranksein zum Leiden an einer objektivierbaren Krankheit macht. Aber während die Krankheit als etwas Vergegenständlichtes dem Leiden im Kranksein gegenübergestellt werden kann, gilt das für das Wortpaar Gesundheit/Gesundsein nicht: Gesundsein manifestiert sich weniger als ein Zustand denn als Aktivität oder Handlungsfähigkeit. Gesundheit ist wesentlich kein Gegenstand, sondern ein Abstraktum. Gesundheit ist aber auch kein Zustand wie das Kranksein. Gesundheit ist vielmehr die Möglichkeit zu lebendiger Aktivität, deren Urheber nicht der handelnde Mensch ist; vielmehr resultiert Handlungsfähigkeit aus gesunder Lebendigkeit. Krankheiten bilden den Gegenstand der Medizin, diese erforscht und behandelt sie. Gesundheit und Kranksein hingegen beziehen sich auf den anthropologischen Horizont, in dem Medizin agiert. Medizinphilosophie diskutiert, wie Medizin als Wissenschaft der Erforschung und Behandlung von Krankheiten in Beziehung steht zur anthropologischen Spannung von Gesundheit und Kranksein.

Gesundheit und Kranksein sind zentrale Dimensionen menschlichen Lebens, entsprechend vielfältig sind die kulturellen Vorstellungen zu Krankheiten und ihren Ursachen, zu Medizin und Gesundheit. Gleichwohl konnte sich innerhalb der Philosophie der Bereich von Krankheit und Gesundheit nicht als eigenständiges philosophisches Arbeitsgebiet etablieren, und auch seitens der Wissenschaftsphilosophie wird die Medizin als disziplinäres Feld nur stiefmütterlich behandelt. Zwar gibt es eine Reihe älterer Überblicksdarstellungen, und gerade in jüngster Zeit sind einige Handbücher und Einführungen erschienen, aber Medizinphilosophie existiert bislang nicht als erkennbar eingegrenzter Forschungsbereich, obwohl im deutschen Medizinstudium seit gut zehn Jahren ein »Querschnittsbereich Geschichte, Theorie, Ethik« verankert ist. Die heutige Medizin steht als forschende Wissenschaft wie als klinische Praxis philosophischen Reflexionen eher reserviert gegenüber, sobald diese den Bereich medizinethischer Handreichungen übersteigen. Diese Ausgangslage macht eine Einführung einerseits reizvoll, weil ein weitgehend freies Feld bearbeitet werden kann, andererseits problematisch, weil der Gegenstand nicht selbstverständlich ist, also die Aufgabenstellung erst konturiert werden muss.

Die anthropologisch zentrale Stellung der Frage nach Gesundheit und Kranksein darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Medizin erst in jüngster Zeit ihre alles überragende Vormachtstellung im Umgang mit Gesundheit errungen hat. Auch in westlichen Gesellschaften hatten bis weit ins 19. Jahrhundert nur kleine Teile der Bevölkerung Zugang zu wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten, und erst im 20. Jahrhundert avancierte die Medizin zur zentralen Instanz nicht nur für Gesundheitsstörungen, sondern für alle Fragen, die das menschliche Leben als biologisches Phänomen betreffen. Im Zuge dieses Aufstiegs wurde Medizin zur Technik, einzelne Körper zu kontrollieren und Bevölkerungen zu regulieren. Entsprechend wird heute unter dem Stichwort Biopolitik diskutiert, wie Fragen der Gesellschaftsordnung und Prozesse der Subjektivierung zunehmend als biowissenschaftliche Probleme thematisiert und bearbeitet werden. Medizinphilosophie muss also der Spannung zwischen der universalen Frage nach dem Verhältnis von Gesundheit und Kranksein und der historisch-politischen Dynamik der Medizin als Fachwissenschaft gerecht werden. Als Bemühen um die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit lässt sich die Aufgabe der Medizin universal formulieren, aber sie hat dabei im Lauf ihrer Geschichte verschiedene Strategien verfolgt und aus je spezifischen Verknüpfungen von Wissen und Technik ihren Gegenstand unterschiedlich geformt. Medizinphilosophie muss deshalb historisch und deskriptiv verfahren, ohne ihre fundamentalen Fragen aufzugeben. Weil die Krankheiten mehr als das Kranksein die Sache der Medizin sind, führt die Frage nach dem Gesundwerden und der Gesundheit zur Philosophie.

1.1 Longue durée und Fortschrittsorientierung


In der abendländischen Kultur ist das Philosophieren über Gesundheit in etwa so alt wie die Philosophie selbst. Aussagen zu medizinischen Themen sind schon von den Vorsokratikern belegt: So gehört zu den wenigen von Alkmaion von Kroton aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. überlieferten Fragmenten etwa eine Bestimmung von Gesundheit als Isonomia.1 Gesundheit wird hier mit dem damals revolutionären Konzept für ein politisches Gleichgewicht, für eine demokratische Gesellschaftsordnung gefasst und Krankheit ihr als Monarchia, als Alleinherrschaft einer der im Körper wirkenden Kräfte gegenübergestellt. Bereits am Beginn der schriftlich verfassten Philosophie steht also eine Vorstellung von Gesundheit als einem dynamischen Gleichgewicht, und dieses Gleichgewicht findet in einem politischen Konzept seinen adäquaten Ausdruck. Medizin ist – so lässt sich aus diesem Befund verallgemeinern – ein Ineinandergreifen von Natur und Kultur. Für das Abendland wurde die Ausarbeitung dieser Gleichgewichtsvorstellung zur sogenannten Viersäftelehre oder Humoralpathologie durch Galen aus Pergamon im zweiten nachchristlichen Jahrhundert besonders folgenreich. Als System antagonistisch wirkender, universaler stofflicher Prinzipien prägte sie Theorien der Medizin bis in die Neuzeit und ihre Praxis bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Ähnliche Gleichgewichtsvorstellungen sind aus vielen anderen Zeiten und Kulturen überliefert, heute wirken sie in alternativmedizinischen Richtungen fort.2 Aber es hieße, eine moderne Vorstellung von medizinischer Wissenschaft als Theorie auf die Antike zurückzuprojizieren, wenn die Vielschichtigkeit medizinischer Wissenspraktiken hinter dieser Rezeptions- und Transformationslinie der Gleichgewichtslehre ignoriert würde.

Medizinphilosophie muss vielmehr berücksichtigen, welcher Stellenwert und welche Reichweite ganz allgemein Theoretisierungen innerhalb konkreter Formen von Medizin zugesprochen wurden, damit die Vielfalt medizinischer, wissensbasierter Praktiken nicht vorschnell auf Theorie bzw. auf Theorien eines bestimmten Typs oder spezifischer Leistungsfähigkeit beschränkt wird. Dazu liefert der jüngste Paradigmenwechsel in der Medizin ein markantes Beispiel: Die Einführung der sogenannten evidenzbasierten Medizin (EBM) am Ende des 20. Jahrhunderts bedeutete eine durchgreifende Umstellung der Legitimation medizinischen Handelns von pathophysiologischen Erklärungen des Krankheitsgeschehens auf in klinischen Studien nachgewiesene Wirksamkeit therapeutischer Interventionen – ein erneuter radikaler Richtungswechsel im alten Streit um das Primat von therapeutischer Empirie oder theoretischem Wissen. Im Sinne des Erklärungsanspruchs der Pathophysiologie, wie sie als Leittheorie der wissenschaftlichen Medizin vor allem im 20. Jahrhundert etabliert worden war, stellt die EBM keine überzeugende Theorie dar, denn sie evaluiert ihre therapeutischen Strategien nicht am Maßstab physiologischer Erklärungen, sondern anhand statistisch nachgewiesener Wirksamkeit. Aber damit verfährt sie nicht weniger wissenschaftlich, sie hat einen bestimmten Theorietypus gegen ein empirisches Paradigma von Wissenschaftlichkeit ausgetauscht.

Dieser Longue durée eines Widerstreits von Empirie und Theorie über die verschiedenen konkreten Ausprägungsformen von Medizin hinweg steht eine Fixierung der modernen Medizin auf den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt gegenüber. Erst seit der Entstehung und mit der Durchsetzung der laborexperimentellen Forschung im 19. Jahrhundert hat die Medizin ihre Vergangenheit mitsamt deren akkumulierten Wissensspeichern verabschiedet und sich radikal auf eine Zukunft stets neuer Interventionsstrategien ausgerichtet. Ein Beispiel vermag zu illustrieren, welchen epistemischen Bruch diese Transformation darstellte: Der im Jahr 1809 gegründete Lübecker Ärzteverein konzentrierte sich – wie vergleichbare Initiativen seiner Zeit – über ein Jahrhundert darauf, medizinisches Wissen möglichst umfassend und vollständig in einer Bibliothek zu speichern. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren nicht nur zu viele Bücher und Zeitschriften zusammengekommen, um die Einrichtung weiterhin ehrenamtlich zu betreuen. Was dort aufgehäuft war, bildete in einem nun radikal gewandelten Verständnis medizinischer Wissenschaft nicht mehr den medizinischen Wissensschatz aller Zeiten ab, sondern war – bis auf wenige Neuzugänge – nur noch eine Sammlung veralteter Anschauungen, weswegen die Bibliothek an die Stadt abgegeben wurde. Viele medizinische Fach- und Zweigbibliotheken sind inzwischen denselben Weg...