Soziale Kognition zur Einführung

von: Tobias Schlicht

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960601180 , 276 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 14,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Soziale Kognition zur Einführung


 

2.Theorie-Theorien


Vor ziemlich genau vierzig Jahren warfen die Psychologen David Premack und Guy Woodruff (1978) die Frage auf, ob Schimpansen eine »Theorie des Denkens« (theory of mind) besitzen. Ihr Aufsatz wird häufig als Startschuss der heutigen Debatte über soziale Kognition angesehen. Allerdings wollten sie tatsächlich darauf hinaus, dass sowohl Schimpansen als auch Menschen beim Verstehen der geistigen Einstellungen Anderer auf eine Theorie zurückgreifen, auch wenn es eine implizite, also ihnen nicht bewusste Theorie sein sollte. Daher reservieren wir für die Zwecke dieses Bandes den Ausdruck ›Theorie des Geistes‹ für diese spezifische Position, die uns die erste Antwort auf die Frage liefert, wie soziale Kognition funktioniert. Das folgende Kapitel klärt, was damit eigentlich gemeint ist, und beginnt mit einigen Erläuterungen zu den philosophischen Grundlagen, denen sich eine Diskussion konkreter Versionen der Theorie-Theorie anschließt.

2.1 Anthropologische Science Fiction


Vom Behaviorismus zum Funktionalismus

Jede philosophische Theorie über unser Verständnis der geistigen Zustände anderer Personen impliziert eine spezifische Auffassung über die Natur dieser geistigen Zustände. Ein kurzer historischer Rückblick soll helfen, die heutigen Varianten der Theorie-Theorie zu motivieren und besser zu verstehen. Die Grundidee lässt sich zu den Arbeiten von Wilfrid Sellars zurückverfolgen (Sellars 1957/1999), dessen Philosophie außerdem als Inspirationsquelle für den Funktionalismus in der Philosophie des Geistes gilt (Putnam 1967). Aber sowohl die Theorie-Theorie als auch der Funktionalismus entstanden aus den ihnen unmittelbar vorausgehenden Konzeptionen des Geistigen, insbesondere dem Behaviorismus, eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl in der Philosophie als auch in der Psychologie populäre Auffassung. Der Behaviorismus besagt, dass geistige Tätigkeiten Reizereignisse aus der Umwelt mit (motorischen) Reaktionen verknüpfen. Es regnet, also öffne ich den Regenschirm. Außer Assoziationen zwischen Reizen und Reaktionen kann man dieser Position zufolge nichts über geistige Phänomene sagen und wissen. Die bis dahin »offizielle Doktrin« (Ryle 1969: 7) des Dualismus schroff ablehnend, konzipierten Behavioristen geistige Phänomene nicht als innere Episoden, sondern als Verhaltensweisen bzw. -dispositionen (Watson 1913). Einige Philosophen verteidigten den Behaviorismus als logisch-sprachliche These über die Bedeutung der Ausdrücke für geistige Zustände wie z.B. »Schmerz«, »Wunsch«, »Überzeugung« usw. (Ryle 1969). Doch der Behaviorismus konnte nicht überzeugen. Man kann Schmerzen empfinden, ohne eine der damit assoziierten Verhaltensweisen zu zeigen, und ein Schauspieler kann diese Verhaltensweisen an den Tag legen, ohne Schmerzen zu empfinden. Außerdem treten mentale Zustände nicht isoliert auf. Wir beobachten einen Mann, der mit einem Regenschirm in der Hand das Haus verlässt. Er denkt offenbar, dass es regnet oder regnen wird. Selbst wenn er diesen Gedanken hegt, wird ihn das nur dann dazu bewegen, den Regenschirm mitzunehmen oder gar zu öffnen, wenn er zugleich auch wünscht, nicht nass zu werden, und glaubt, dass der Regenschirm ihn davor bewahrt. Jeder mentale Zustand ist Teil eines ganzen Netzwerks von geistigen Zuständen – Absichten, Überzeugungen, Wünschen. Und es gibt natürlich eine Reihe alternativer Erklärungen des Verhaltens dieses Mannes. Er könnte den Schirm als Mordwaffe verwenden oder verschenken wollen; er könnte ein Versprechen halten wollen, indem er den Schirm seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückgibt usw. Es gibt also keine eindeutige Beziehung zwischen Reizen, spezifischen Verhaltensweisen und konkreten geistigen Einstellungen. Einige Verhaltenserklärungen mögen abwegiger sein als andere, besonders vor dem Hintergrund von Kontextwissen (über die Wettervorhersage etwa). Dieses Kontextwissen schreiben wir der Person ebenfalls zu und favorisieren diejenige Erklärung, die unter den Umständen die vernünftigste zu sein scheint, d.h. diejenige, die ihm genau die Gedanken zuschreibt, die er haben sollte (Dennett 1987). Aber mangels einer eindeutigen Beziehung scheint die Annahme plausibler, dass die geistigen Einstellungen vielmehr die Ursachen der Verhaltensweisen und -dispositionen sind, statt mit diesen identisch zu sein. Daraus ergibt sich die Annahme, dass wir über die Gedanken, Empfindungen und Gefühle Anderer etwas erfahren, indem wir berechtigte Schlussfolgerungen über die inneren Ursachen ihres Verhaltens anstellen.

Hier kommt Sellars ins Spiel, denn in einem Stück »anthropologischer Science Fiction« entwirft er den Mythos von Jones, einem genialen Mitglied einer prähistorischen Gemeinschaft von Behavioristen, den »Ryleianern«, die zwar noch nicht über mentale Phänomene sprechen, aber bereits über eine Sprache verfügen, Ausdrücke für die öffentlichen Gegenstände in ihrer Umwelt entwickelt haben sowie sogar von elementaren logischen Operatoren wie Negation, Konjunktion und Quantifizierung Gebrauch machen. Sellars (1957/1999: 81) fragt nun, welche Ressourcen zu dieser Sprache hinzutreten müssten, »um sie in die Lage zu versetzen, sowohl andere als auch sich selbst als Lebewesen zu erkennen, die denken, beobachten, Gefühle und Empfindungen haben, und zwar so, wie wir diese Ausdrücke gebrauchen« (Sellars 1957/1999: 82). Die entscheidenden Anreicherungen bestünden im semantischen und theoretischen Diskurs. Jones, der Held der Geschichte, bemerkt eines Tages, dass sich seine Mitmenschen auch dann intelligent verhalten, wenn keine offensichtlichen Äußerungen oder Verhaltensweisen beobachtet werden können, und entwickelt eine Theorie über das Sprachverhalten seiner Mitmenschen. Sellars fährt fort: »Und nehmen wir an, dass ihm nichts anderes als das offene Sprachverhalten als Modell dieser Episoden dient, die am Beginn jener Ereignisse stehen, die in offenem Sprachverhalten gipfeln … dann läuft die Theorie darauf hinaus, dass es sich bei offenem Sprachverhalten um die Kulmination eines Vorgangs handelt, der mit ›innerer Rede‹ beginnt.« (Sellars 1957/1999: 93) Die inneren Äußerungen, die Gedanken, werden in Jones’ Theorie zu den theoretischen Ursachen des Verhaltens. So gelingt es Jones, das Verhalten seiner Mitmenschen erfolgreich zu deuten und vorherzusagen; er bringt ihnen diese Strategie bei und merkt, dass er sie auch auf sich selbst anwenden kann. Er formuliert nicht nur den Satz »Johann denkt, dass p«, sondern auch die Selbstzuschreibung »Ich denke, dass p«, basierend auf analogen Beobachtungsdaten. Die Theorie behandelt die inneren Episoden so wie die Äußerungen als intentional sich auf etwas richtend, etwas bedeutend, und wird analog zu allen anderen möglichen Theorien betrachtet, d.h., sie ist offen für Weiterentwicklungen; die postulierten Episoden gelten als »theoretische Entitäten«. Es kann zunächst offenbleiben, woraus diese unbeobachtbaren inneren Entitäten (die Gedanken) bestehen, obwohl sich empirisch herausstellen könnte, dass sie physiologischer Natur sind. Sellars erklärt sogar, es spreche bereits jetzt einiges für die Annahme, »dass diese Gedanken mit bestimmten komplexen Ereignissen in unserer Großhirnrinde, deren Funktionsprinzip dem einer Rechenmaschine gleicht, ›identifiziert‹ werden müssen« (Sellars 1957/1999, 95).

Mit dieser originellen Spekulation über den Ursprung unserer Alltagspsychologie formuliert Sellars die Kernidee funktionalistischer Theorien, die Ausdrücke für mentale Zustände wie z.B. »Schmerz«, »Wunsch«, »Überzeugung« als Bezeichnungen für kausale Rollen bzw. Funktionen analysieren (daher »Funktionalismus«). Jeder einzelne mentale Zustand ist durch eine funktionale Rolle charakterisiert, die er in der mentalen Ökonomie einer Person spielt. Die Identität eines geistigen Zustands ergibt sich aus seinen Relationen zu Umweltbedingungen und -reizen, zu anderen inneren Zuständen und zu Verhaltensweisen. Eine Schmerzempfindung z.B. steht in kausalen Beziehungen zu sensorischen Ursachen (Verletzungen eines Körperteils etwa), zu Überzeugungen und Wünschen (die Schmerzempfindung und ihre Ursache betreffend) sowie zu bestimmten Verhaltensweisen wie Wehklagen. Diese später von Hilary Putnam (1967) entwickelte rein funktionale Analyse mentaler Zustände in der Debatte zum Leib-Seele-Problem hat den Vorteil, dass sie in ihrer Abstraktheit metaphysisch neutral ist, da sie keine Aussage über die physische Realisierung solcher Funktionen trifft. So könnten mentale Zustände letztlich Gehirnzustände sein, die entsprechende Funktionen erfüllen; sie könnten aber als funktionale Zustände auch anders realisiert sein. Diese Frage kann der Funktionalist zunächst offenlassen, denn worauf es seiner Meinung nach ankommt, ist die spezifische kausale Rolle, die der Zustand hinsichtlich des Verhaltens spielt (zur Charakterisierung verschiedener...