Theorien der Strafe zur Einführung

von: Franziska Dübgen

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960601203 , 210 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 12,99 EUR

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Theorien der Strafe zur Einführung


 

Einleitung: Die neue Lust am Strafen


Strafen im juridischen Bereich sind Sanktionen seitens des Staates, die auf eine Gesetzesübertretung folgen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich insbesondere die Gefängnishaft als Instrument der Bestrafung durchgesetzt, sodass Alexis de Tocqueville bereits nach seiner Reise in die USA in den 1830er Jahren fordern konnte, man müsse eine Demokratie auf der Basis ihrer Gefängnisse beurteilen (Beaumont & Tocqueville 1845). Gefängnisse sind – befreit von den mittelalterlichen Relikten physischer Folter und Grausamkeit – das Symbol einer modernen Epoche des Strafens geworden. Sie stehen für die Humanisierung des Strafens und den Fortschritt im strafrechtlichen Denken. Die moderne Haft ersetzt die Marter durch einen zeitlich definierten Freiheitsentzug, der als Quantifizierung des durch die Strafe verursachten Leidens das begangene Unrecht aufwiegen soll. Bereits Tocqueville merkte jedoch an, dass das Gefängnis durch seinen totalen Zugriff auf das Individuum die höchste Form des Despotismus darstelle und damit die Demokratie zu unterhöhlen drohe.

In Gefängnissen als Orten des modernen Exils, der Verbannung aus der Gesellschaft, sollen Menschen gebessert werden, um nach ihrer Haftzeit wieder ohne Straftaten frei leben zu können. Verfassungsrechtlich wurde dieser Gedanke in Deutschland als das Gebot zur Resozialisierung verankert und durch das Sozialstaatsprinzip und die Menschenwürde begründet. Die soziale Wirklichkeit von Haftanstalten scheint sich jedoch von diesem Ideal zu entfernen: Das Gefängnis ist nicht mehr allein oder vorrangig eine Institutionen der Besserung. Es ist auch, so behaupten jedenfalls seine Kritiker, ein Ort der Verwahrung, der Abschreckung und der Stigmatisierung (Wacquant 2009).

In Gefängnissen werden nicht selten kriminelle Netzwerke aufgebaut und Insassen durch die Erfahrung von Abwertung und Exklusion empfänglich für die Indoktrinierung radikaler Ideologien (Hannah, Clutterbuck & Rubin 2008, 14). Inmitten eines Klimas wiederkehrender psychischer und physischer Gewalt unter den Gefangenen, eingebettet in den Kontext eines streng regulierten Tagesablaufs, segregiert von ihrer Familie, ihrem sozialen Netzwerk und der restlichen Gesellschaft, geraten Häftlinge häufig in eine soziale Abwärtsspirale. Nach der Haftzeit folgen nicht selten Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und soziale Isolation. Gut zwei Drittel der Straftäter werden in Deutschland innerhalb der ersten drei Jahre rückfällig (Jehle et al. 2013, 8). Diese Erkenntnisse sind nicht neu, sondern begleiten die Haft, seit es sie gibt (Foucault 1994).

Während in den 1980er Jahren die Abschaffung strafrechtlicher Institutionen zugunsten anderer Strafformen – und sogar die Abschaffung des Sanktionsmittels Strafe insgesamt, zumindest in radikalen Nischen der Kriminologie – ernsthaft diskutiert wurde, wird heute erneut der Ruf nach härteren Strafen laut. Es werden neue Gefängnisse gebaut, die eine noch bessere, effizientere und personalsparende Überwachung versprechen. Private Unternehmen entdecken den Vollzug als Investitionsfeld, entweder um dort Waren zu Niedriglöhnen produzieren zu lassen oder um im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften selbst eine Haftanstalt zu betreiben. Im Strafrecht gibt es Verschärfungen, insbesondere im Jugendstrafrecht und im Sexualstrafrecht. Kriminologen diskutieren deshalb über eine »neue Lust am Strafen« als wachsende Punitivität in Gesetzgebung, Strafzumessung und Vollzug (Pratt 2007; Schlepper 2015). Um die gegenwärtige Diskussion über Ziele, Maß und Rechtfertigung der Strafe einzuordnen, hilft ein Blick in die Geschichte des strafrechtlichen Denkens. Seit der Frühaufklärung haben sich innerhalb der Straftheorie unterschiedliche Positionen herausgebildet, welche die Debatte bis heute strukturieren.

Die Frage, die in dieser Einführung bei der Diskussion unterschiedlicher Theorien der Strafe immer wieder neu und anders beleuchtet wird, ist die Frage nach den Gründen und Rechtfertigungen staatlichen Strafens. Während normative Theorien die Strafe im Hinblick auf absolute Ziele wie jenes der Gerechtigkeit oder auf ihre Zwecke hin begründen, analysieren sozialtheoretische Beiträge das Fortleben und den Wandel der Strafe als gesellschaftliche Praxis in Form der Funktionen, die sie für die Gesellschaft hat. Vor dem Hintergrund philosophischer, juridischer, soziologischer, politikwissenschaftlicher und ökonomischer Ansätze lassen sich unterschiedliche Zugriffe auf das Phänomen der Strafe entfalten, die jeweils ihre Transformationen, zugleich aber auch ihre Beständigkeit und Wirkmächtigkeit erklären. Die Art und Weise, wie wir heute über die Strafe und ihre Rechtfertigungen nachdenken, ist selbst Produkt der spezifischen Genese eines rechtsphilosophischen Denkens, das bis ins Altertum zurückreicht und insbesondere in der Zeit der Aufklärung philosophisch ausgearbeitet wurde. Präventionstheoretische Ansätze der Abschreckung durch Strafe, wie sie bereits im 18. Jahrhundert entworfen wurden, haben auch heute noch eine erstaunliche Aktualität.

Die Auswahl der in dieser Einführung vorgestellten Theoretiker und ihrer Schriften begründet sich vor allem damit, wie stark sie die Debatte über das Strafrecht und seine Reformen geprägt haben und welche Erklärungskraft sie im Lichte aktueller Diskussionen haben. Auf den Anspruch auf Vollständigkeit muss dabei selbstredend verzichtet werden. Wert gelegt wird dagegen auf eine textnahe Rekonstruktion zentraler Schriften der jeweiligen Autoren. Dabei tritt mancher Theoretiker, der in der Strafrechtsdogmatik einen prominenten Platz einnimmt, hinter jüngeren, kritischen und marginaleren Positionen zurück. Der Band bemüht sich, auch randständige Strömungen wie postkoloniale, race kritische, feministische und neomarxistische Ansätze für die Debatte fruchtbar zu machen und außereuropäischen Diskurssträngen zur Sichtbarkeit zu verhelfen, die innovative Impulse für die hiesige Debatte zu geben versprechen.

Das erste Kapitel beginnt mit einer intensiven und textnahen Lektüre der paradigmatischen Schriften seit der Frühaufklärung, welche die Debatte bis heute strukturieren und sich in relative und absolute Theorien der Strafe unterteilen lassen. In einem zweiten Kapitel wendet sich der Band verschiedenen Versuchen zu, die Straftheorie einerseits enger an die Empirie und die Erfordernisse politischer Steuerung zu binden und andererseits ihre normative Rechtfertigung aus dem Blickwinkel soziologischer Analyse und genealogisch-historischer Rekonstruktion zu überprüfen. Diese sozialtheoretischen Schriften fragen nach den Gründen, welche die Strafe jenseits ihrer vordergründigen Motive auf einer strukturellen, machttheoretischen und psychologischen Ebene motivieren. Das dritte Kapitel wendet sich der Frage nach der Schuldfähigkeit des Individuums zu. Die Idee der Strafe basiert vornehmlich auf der Vorstellung eines verantwortlichen Individuums, das stets auch anders hätte handeln können. Neuere neurowissenschaftliche Forschungen stellen diese Konzeption des Menschen jedoch infrage. Rechtsphilosophen und Kriminologen haben unterschiedliche Wege beschritten, um mit dieser Herausforderung an das Schuldstrafrecht umzugehen, die hier vorgestellt werden. Im vierten Kapitel beleuchtet der Band kritische Theorien der Strafe materialistischer, sprachphilosophischer, feministischer und postkolonialer Provenienz. Solche Theorien zielen darauf, das Verständnis von Strafe als Schwert der unparteiischen Justizia (versinnbildlicht durch die Augenbinde der Göttin der Gerechtigkeit) zu entmystifizieren und die Funktion von Strafe als Mittel der Herrschaftsstabilisierung bis in die Gegenwart herauszuarbeiten: Neoliberale Reformen in westlichen Ländern bewirken neben dem Zuwachs individueller Freiheiten in der Bevölkerung auch neue Ängste vor einem sozialen Abstieg. Die Toleranz im Umgang mit Diversität und von hegemonialen Normen abweichendem Verhalten ist dabei auf dem Rückzug begriffen. Neue punitive Elemente drohen das ausgleichende wohlfahrtsstaatliche Paradigma des Strafens der 1970er und 1980er Jahre abzulösen und soziale Problemlagen strafrechtlich zu regulieren. Die Vorstellung des eigenständigen Individuums, das volle Verantwortung für seine Handlungen trägt, unabhängig von seinem Milieu, ist einer der Pfeiler dieses neuen straftheoretischen Diskurses des Neoliberalismus. Nicht auch gesellschaftliche, politische und ökonomische Faktoren, sondern allein das Tätersubjekt wird als ursächlich für kriminelle Handlungen beschrieben. Während des Kolonialismus und der Segregation von schwarzen und weißen Menschen in den USA diente das Strafrecht zudem als Mittel der sozialen Differenzierung, der Unterwerfung und der Maximierung wirtschaftlichen Profits, deren Nachwirkungen in den Postkolonien sich bis heute nachzeichnen lassen. Diese Verzahnung des Strafrechts mit Formen kolonialen Regierens und der Sklaverei hinterlässt in den vom Kolonialismus befreiten Nationen ein ambivalentes Erbe des Rechts und insbesondere des Strafrechts. Ein Exkurs zu »Ubuntu« als einem aus Afrika stammenden Gerechtigkeitsideal zeigt eine alternative Möglichkeit, den Zusammenhang von Verbrechen und Wiedergutmachung konzeptionell zu fassen. Das...