M. Der Sohn des Jahrhunderts - Roman

von: Antonio Scurati

Klett-Cotta, 2020

ISBN: 9783608115871 , 832 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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M. Der Sohn des Jahrhunderts - Roman


 

Benito Mussolini
Mailand, Anfang Frühjahr 1919


Nur wenige Straßen liegen zwischen der Via Paolo da Cannobio, wo sich der »Bau Nummer 2« genannte Redaktionssitz des Il Popolo d’Italia befindet, und dem Bau Nummer 1, der Mailänder Sektion des Arditi-Verbandes in der Via Cerva 23. Als Benito Mussolini im Frühjahr 1919 sein Büro verlässt, um in einer Trattoria zu Abend zu essen, sind es stinkende, elende und gefährliche Straßen.

Wie ein zystischer Splitter mailändisches Mittelalter steckt das Bottonuto unter der Haut der modernen Stadt. Ein Netz aus Gassen und Läden, frühchristlichen Kirchen und Bordellen, Kneipen und Kaschemmen, bevölkert von fliegenden Händlern, Nutten und Vagabunden. Der Ursprung des Namens ist ungewiss. Vielleicht stammt er von der Schlupfpforte für die Truppen, die sich einst auf der Südseite befand. Manche sagen, das Wort, das nach geschwollenen Drüsen klingt, sei das verstümmelte Patronym eines unter Barbarossa eingefallenen Söldnerheers. In jedem Fall ist das Bottonuto ein fauliger Pfuhl direkt hinter dem Domplatz, dem geografischen und baulichen Zentrum Mailands.

Bei seiner Durchquerung muss man sich die Nase zuhalten. Dreck sickert aus den Mauern, der Vicolo delle Quaglie ist zu einem Pissoir verkommen, die Menschen sind so verdorben wie die modrigen Hinterhöfe, alles ist käuflich, am helllichten Tag kommt es zu Raubüberfällen und Prügeleien, die Soldaten drängeln sich vor den Bordellen. Direkt oder indirekt leben alle von der Prostitution.

Mussolini isst spät zu Abend. Nach 22 Uhr taucht er aus dem Redaktionskabuff auf – ein Verschlag, der auf den engen Hof hinausgeht, eine Art vertikaler, über einen Laufgang mit dem Redaktionsraum verbundener Schlauch –, zündet sich eine Zigarette an und macht sich munter und entschlossen auf den Weg in die pestige Enklave. Horden barfüßiger Waisenkinder zeigen aufgeregt auf ihn – »der Spinner«, rufen sie einander zu –, die im Gossendreck hockenden Bettler strecken die Hand aus, die in den Hauseingängen lungernden Zuhälter grüßen ihn mit respektvollem, wiewohl vertraulichem Nicken. Er erwidert jede Aufmerksamkeit. Bei manchen bleibt er stehen und wechselt ein paar Worte, klärt etwas, vereinbart Treffen und kleine Absprachen. Er gewährt seinem Hof der Wunder Audienz. Er schreitet diese eingepferchten Menschen ab wie ein General beim Ausheben einer Armee.

Wurden Revolutionen nicht seit jeher so gemacht: indem man den gesamten Bodensatz der Gesellschaft mit Revolvern und Handgranaten bestückt? Was trennt letztlich den traumatisierten Veteranen vom Dienstentlassenen, der für einen Hungerlohn als Wachmann bei der Zeitung arbeitet, und dem »racheté«, dem von Zuhälterei lebenden Gewohnheitskriminellen? Fähige Arbeitskräfte sind sie allesamt. Immer wieder sagt er das seinem engsten Mitarbeiter und womöglich einzigen wirklichen Berater Cesare Rossi, der an seiner Klüngelei mit diesen Leuten Anstoß nimmt. »Wir sind noch zu schwach, um auf sie verzichten zu können«, sagt er dann, um Rossi zu beschwichtigen. Zu schwach, zweifelsohne: der Corriere della Sera, die Zeitung des blasierten liberalen Bürgertums, hat der Gründung der Kampfbünde nur eine knappe Notiz in der Sparte Vermischtes gewidmet, magere zehn Zeilen, kaum länger als die Meldung zu 64 gestohlenen Kisten Seife.

Sei’s drum, an diesem Abend im frühen April lässt Benito Mussolini den Blick noch einmal kurz über seinen Hof der Wunder schweifen, dann reckt er den Hals, presst die Kiefer zusammen, wendet das Gesicht unter dem bereits fast kahlen Schädel zum Himmel, um erträgliche Luft zu atmen, schlägt den Jackenkragen hoch, tritt die Zigarette mit dem Absatz aus und setzt sich in Bewegung. Wie ein mächtiges, sieches Lebewesen hinkt die düstere Stadt samt ihren verdorbenen Gassen hinter ihm drein, ein riesiges verletztes Raubtier, das sich dem Ende entgegenschleppt.

Die Via Cerva dagegen ist eine alte, aristokratische Straße, friedvoll und still. Die zweistöckigen Patrizierhäuser mit den stilvollen, luftigen Höfen verleihen ihr etwas Romantisches. Auf dem glänzenden Asphalt hallt jeder Schritt durch die Nacht und lässt die tintenschwarze Luft zirkulieren. Die Arditi haben ein Ladenlokal mit Hinterzimmer besetzt, es gehört Signor Putato, dem Vater eines ihrer Mitglieder, und liegt dem Palazzo Visconti di Modrone direkt gegenüber. Es war nicht leicht, eine Bleibe für diese haltlosen Veteranen zu finden, die das Bürgertum verstören, weil sie im Winter mit aufgeknöpftem Uniformkragen über der nackten Brust und dem Dolch am Koppel herumlaufen. Fabelhafte Soldaten, wenn es darum ging, feindliche Stellungen zu stürmen, wertvoll im Krieg, doch abscheulich im Frieden. Wenn sie nicht in einem Bordell herumlümmeln oder ein Café belagern, hausen sie in diesen beiden kahlen Zimmern, betrinken sich am helllichten Tag, faseln von kommenden Schlachten und schlafen auf dem Boden. So verbringen sie die endlose Nachkriegszeit: Sie verklären die jüngste Vergangenheit, dramatisieren die unmittelbare Zukunft und verdrängen ketterauchend die Gegenwart.

Die Arditi haben ihren Krieg gewonnen, zumindest erzählen sie sich das. Sie verklären sich so sehr, dass Gianni Brambillaschi, ein überdrehter Zwanzigjähriger, im offiziellen Blatt der neuen Vereinigung namens L’Ardito schreibt: »Wer im Krieg nicht bei den Sturmtruppen gekämpft hat, der ist, selbst wenn er im Krieg gefallen ist, nie im Krieg gewesen.« Wobei man ohne sie gewiss nicht die Linie am Piave mit jener Gegenoffensive durchbrochen hätte, die im November 1918 zum Sieg über die österreichisch-ungarischen Truppen führte.

Das düstere Epos der Arditi hatte mit den sogenannten Todeskompanien begonnen, Pioniereinheiten, die den Grabenkämpfen der Infanterie den Boden bereiten sollten. Nachts schnitten sie Löcher in die Drahtverhaue und ließen Blindgänger hochgehen. Tagsüber robbten sie in gänzlich nutzlosen Schutzpanzern voran und wurden vom Artilleriefeuer zerfetzt. Dann hatte jede Truppengattung – Infanterie, Bersaglieri, Alpini – begonnen, ihre eigenen Sturmtruppen zu bilden und besonders geschickte und kühne Frontsoldaten im Umgang mit Handgranate, Flammenwerfer und Maschinengewehr zu schulen. Doch ausschlaggebend war die Ausrüstung mit dem Grabendolch, der römischen Waffe schlechthin. Mit ihr nahm die Legende ihren Anfang.

In einem Krieg, der das herkömmliche Bild des angreifenden Soldaten zunichte gemacht hatte, in dem Giftgase und tonnenweise aus fernen Stellungen abgefeuerter Stahl zum reglosen Kauern in den Schützengräben verdammten, in einem technologischen Blutbad, in dem die Wendigkeit des voranstürmenden Kämpfers gegen das Sperrfeuer chancenlos war, hatten die Arditi den Nahkampf Mann gegen Mann wiederbelebt, den gewaltsamen Körperkontakt, das Zucken des Getöteten, das die bebende Klinge auf die Hand des Tötenden überträgt. Statt Angreifer hervorzubringen, hatte der Grabenkrieg Millionen Soldaten in defensive Naturen verwandelt, die sich als Opfer einer unentrinnbaren Weltkatastrophe sahen. In einen Krieg der zur Schlachtbank geführten Schafe hatten die Arditi jenes Selbstvertrauen zurückgebracht, das nur das meisterliche Metzeln mit einer kurzen Stichwaffe beschert. Unter dem Stahlgewitter, inmitten des anonymen Massensterbens, des industriellen Blutvergießens, hatten sie das zum Äußersten bereite Individuum zurückgebracht, den Heldenkult antiker Krieger mitsamt jener ganz speziellen Furcht, wie sie nur ein Messerstecher zu verbreiten weiß, der seine Opfer aus ihren Löchern zerrt, um sie mit eigenen Händen umzulegen.

Obendrein hatten die Arditi sämtliche Vorteile der Schizophrenie kultiviert. Ihre Spezialeinheiten waren nicht der Disziplin des Truppensoldaten unterworfen, sie marschierten nicht, waren vom zermürbenden Dienst im Schützengraben befreit, mussten sich nicht damit abplacken, Gänge zu schaufeln oder Stollen in den Fels zu schlagen, sondern lebten zwanglos in der Etappe, wo sie an Kampftagen von Versorgungslastern eingesammelt und geradewegs bei den zu erobernden Stellungen abgeladen wurden. Diese Männer konnten zum Frühstück einen österreichischen Offizier abstechen und sich zum Abendessen in einer Vicentiner Trattoria die Stockfischcreme schmecken lassen. Alltag und Mord rund um die Uhr.

Nach seinem Ausschluss aus der sozialistischen Partei und dem Verlust der proletarischen Armeen rekrutierte Mussolini...